Parlaments- und Kommunalwahlen Serbien: Ein Volk, ein Staat, ein Vučić

21. Juni 2020, 09:23 Uhr

Am Sonntag finden in Serbien Parlaments- und Kommunalwahlen statt. Das übliche Wahlfieber ist diesmal ausgeblieben, die Wahlkampagne verläuft wie eine Pflichtübung: Sie ist langweilig wie das trübe und regenreiche Wetter, das in Serbien gerade kein Ende nehmen will. Denn der haushohe Sieger ist längst bekannt: Laut aller Meinungsumfragen wird die seit 2012 regierende Serbische Fortschrittspartei (SNS) von Staatspräsident Aleksandar Vučić die Wahlen mit etwa 60 Prozent der Stimmen gewinnen.

Überraschend kommt das nicht. Denn der Staatspräsident hat viel für seine Popularität getan. So hat er den "Sieg" im Kampf gegen das Coronavirus verkündet und behauptet, Serbien werde besser als alle anderen Staaten der Welt die Wirtschaftskrise meistern. Darüber hinaus verteilt Vučić Geschenke. Allen volljährigen Bürgern wurden umgerechnet 100 Euro Coronavirus-Hilfe ausgezahlt. Rentner dürfen sich darüber hinaus über eine Einmalzahlung in Höhe von umgerechnet 34 Euro freuen. Und alle Betriebe, die sich für Staatshilfe beworben haben, erhalten für Arbeitnehmer drei Monate lang einen zusätzlichen Mindestlohn von 272 Euro.

Aleksandar Vučić, der Messias

In der Wahrnehmung vieler Bürger kommen all diese Zuwendungen  von Vučić persönlich. Regierungsfreundliche Medien befeuern diesen Eindruck, indem sie den Staatspräsidenten wie den Messias der Serben darstellen. Große Wahlveranstaltungen hat die SNS wegen der Pandemie zwar abgesagt, dafür zieht Staatspräsident Vučić jedoch unermüdlich durch alle Fernsehprogramme, eröffnet Fabriken, Straßen, Autobahnen. "Wir bauen, während die anderen alles zerstören wollen", pflegt er zu sagen. "Die anderen" sind alle, die ihn und seine Partei kritisieren.

"Die anderen" werfen Vučić und seinen Parteigenossen vor, eine "Funktionärskampagne" zu führen, sein Amt für Wahlzwecke zu missbrauchen. Die ganze Kampagne der SNS dreht sich ausschließlich um Vučić. "Aleksandar Vučić – Für unsere Kinder" heißt der Wahlslogan der SNS. Der Parteiname wird nirgendwo erwähnt, andere hohe Funktionäre der SNS kommen kaum zum Wort. Es ist der Höhepunkt des Personenkultes, der um Vučić jahrelang systematisch aufgebaut worden ist.

3-Prozent-Hürde für ein wenig Opposition im Parlament

Nachdem ein Teil der Opposition, versammelt im Bündnis für Serbien (SzS), entschieden hatte, die Wahl zu boykottieren, beschloss das Parlament in Belgrad, den Zugang zum Abgeordnetenhaus zu erleichtern und machte aus der 5-Prozent- eine 3-Prozent-Hürde. Eine allzu große Dominanz der SNS im Parlament könnte das Bild der Demokratie in Serbien zerstören. Der Kampf der SNS gegen die Opposition war schlicht zu erfolgreich. Um überhaupt einige Oppositionsparteien im Parlament zu haben, wirbt Vučić jetzt bei seinen Anhängern sogar schon für andere Parteien.

Boykott als einzige Wahl

"Es gibt nicht die geringsten Bedingungen für freie und faire Wahlen", erklärt der Chef der Partei Freiheit und Gerechtigkeit, Dragan Djilas. In den Medien komme die Opposition überhaupt nicht zu Wort, die SNS kontrolliere und missbrauche für Parteizwecke staatliche Institutionen und Ressourcen, die SNS verfüge über Schlägertrupps, die Andersdenkende einschüchtern, sagt Djilas.

Für das "Bündnis für Serbien" ist deshalb der Wahlboykott die einzige Wahl. Jeder, der an den "gestellten" Wahlen teilnehme, gebe seine Stimme eigentlich Vučićs Autokratie, helfe dabei, dass er dessen Alleinherrschaft der EU und den USA als Demokratie verkaufen könne. Der Boykott sollte das "diktatorische Regime" bloßstellen.

Demonstration in Belgrad
Oppositionspolitiker protestieren in Belgrad gegen die Regierung. Bildrechte: imago images/Pixsell

Hybrides Regime

Die bekannte amerikanische Nichtregierungsorganisation Freedom House hat Serbien unlängst von einer "teilweise konsolidierten Demokratie" auf ein "hybrides Regime" herabgestuft. "Jahre zunehmender staatlicher Staatsvereinnahmung, Machtmissbrauch und Strongman-Taktiken" unter dem serbischen Präsident Aleksandar Vučić hätten dazu geführt, dass Serbien nicht länger als Demokratie kategorisiert werden könne, heißt es im Bericht von Freedom House.

Im April kritisierten 21 Abgeordnete des Europaparlaments in einem Brief an den EU-Erweiterungskommissar Olivér Várhelyi den Ausnahmezustand scharf, den die serbische Regierung im Kampf gegen das Coronavirus eingeführt hatte. "Die Armee bewachte Krankenhäuser, als ob Kriegszustand und keine Pandemie herrsche", heißt es in dem Brief. Der serbischen Regierung wurde vorgeworfen, Medien unter Kontrolle gestellt zu haben, um filtrierte und falsche Informationen und gegen die EU gerichtete Verleumdungen verbreiten zu können. Hohe Vertreter der EU wandten sich gegen den Wahlboykott und riefen alle Parteien auf, an den Wahlen teilzunehmen.

Wahlen trotz der Pandemie

Nach den härtesten Maßnahmen gegen das Coronavirus in Europa folgte in Serbien die schnellste Entwarnung der Welt. Vor einer Woche fand das Fußballderby zwischen Roter Stern und FK Partizan in Belgrad statt. 20.000 Zuschauer bevölkerten die Tribünen. Die Botschaft: Vučić hat selbst das Coronavirus besiegt.

Trotzdem müssen am Sonntag in allen Wahllokalen allen Bürgern Schutzmasken und Handschuhe zur Verfügung stehen. Obligatorisch, nicht als Pflicht.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL TV | 19. Juni 2020 | 17:45 Uhr

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