Ein Mann lässt sich vor Denkmal fotografieren
Schnappschuss vor dem "Sarkophag". Circa 50.000 Menschen besuchen jedes Jahr die Sperrzone von Tschernobyl im Norden der Ukraine. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Ukraine: Tschernobyl-Tourismus boomt

26. April 2020, 02:53 Uhr

Durch Corona und Waldbrände ist das Betreten der Sperrzone rund um das Atomkraftwerk Tschernobyl derzeit strengstens verboten. Doch bis vor kurzem boomte der Tourismus am AKW – und so soll es auch nach Corona weitergehen.

Vorsichtig trippelt ein halbes Dutzend Menschen in Freizeitkleidung den schmalen Waldweg entlang: Kamera oder Smartphone in der einen Hand, ein Strahlenmessgerät in der anderen. In immer kürzeren Intervallen ertönen schrille Warntöne aus den Geräten, bis Serhij Myrnyj die Gruppe an einem Baum halten lässt.

"Ihr seht wie die Strahlungsintensität steigt, wenn wir uns diesem Bereich hier nähern", erklärt er auf Englisch mit einem schweren ukrainischen Akzent. Hochkonzentriert folgen die Zuhörer seinen Ausführungen. "Wenn ihr den Ort verlasst, prüft eure Messwerte noch einmal. Und dann merkt ihr, wie schnell die Strahlungsintensität mit der Entfernung wieder abnimmt", sagt der weißbärtige Mann.

Tschernobyl-Tourismus boomt

Ein weißbärtiger Mann im Gespräch mit einem Ehepaar
Tschernobyl-Guide Serhij Myrnyj führt Touristen druch die Sperrzone rund um das ehemalige Atomkraftwerk Tschernobyl in der Ukraine. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Der Ort ist ein verlassenes Dorf mitten in der Sperrzone rund um das 1986 havarierte Atomkraftwerk Tschernobyl. Seit zehn Jahren bietet Serhij Myrnyj geführte Ausflüge in das Gebiet an. Seine Firma "Chernobyl Tours" hat mittlerweile 25 Mitarbeiter. Es gibt inzwischen auch andere Anbieter, aber Myrnyj ist Marktführer. Die Touren sind unter strengen Auflagen genehmigt – und erfreuen sich zunehmender Beliebtheit. Circa 50.000 Menschen kommen jedes Jahr in die Sperrzone.

Seine heutige Gruppe hat mittlerweile das verlassene Dorf erreicht. Fast alle Gebäude wurden nach der Katastrophe abgerissen und ihre Überreste vergraben, um die Strahlenbelastung zu minimieren. Nur der einstige Kindergarten steht noch. Hastig ineinander geschobene Kinderbetten und achtlos weggeworfene Kuscheltiere zeugen von dem Chaos, dass während der Evakuierung der Bewohner herrschte.

Das hinterlässt Eindruck bei den Besuchern. "Man ist ein bisschen in einer komischen Stimmung. Weil hier auch Leute gelebt haben. Es ist ein bisschen wie auf einem Friedhof", sagt einer der deutschen Besucher. Schnell macht er noch ein paar Fotos, dann geht es weiter zum ersten Highlight der Tour.

Geisterstadt als Freiluftmahnmal

Prypjat war einst die Schlafstadt des Kernkraftwerks und liegt nur vier Kilometer vom Atomkraftwerk entfernt. Am 26. April 1986 war dort der Reaktorblock 4 nach einem misslungenen Sicherheitstest explodiert. Tödlich strahlendes Material aus dem Kern wurde hunderte Meter in die Luft geschleudert und rund um das Kraftwerk verteilt. Die Ersthelfer der Feuerwehr vom Prypjat starben binnen weniger Wochen nach dem Einsatz an den Folgen der Strahlenkrankheit.

Weil die sowjetische Führung die Katastrophe verheimlichen wollte, wurden die ersten Bewohner von Prypjat erst mehr als einen Tag nach der Katastrophe evakuiert. Heute ist die einstige 50.000-Einwohner-Stadt ein verlassenes Freiluftmahnmal. Myrnyjs Gruppe streunt durch die entkernten Ruinen, fasziniert und erschrocken von der morbiden Anziehungskraft des Ortes.

Menschen fotografieren ein gelbes Riesenrad
Das nie eröffnete Riesenrad von Prypjat ist so etwas wie das inoffzielle Wahrzeichen der Atomkatastrophe von Tschernobyl. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Zuletzt führt der Guide die Besucher zum gelben Riesenrad der Stadt, dem unfreiwilligen Mahnmal der Katastrophe. "Es sollte am 1. Mai 1986 eröffnet werden und war fast fertig. Doch nur fünf Tage vor der Eröffnung geschah der Unfall. Und jetzt ist dieses Rad, das nie in Betrieb war, eines der berühmtesten Riesenräder der Welt", sagt Myrnyj und lächelt vielsagend.

Schicksal der Liquidatoren

Serhij Myrnyj hat selbst eine ganz besondere Beziehung zu Tschernobyl. Der gelernte Chemiker und Spezialist für radioaktive Aufklärung hat direkt nach der Katastrophe hier gearbeitet, so wie Hunderttausende sogenannte Liquidatoren. Die überwiegend jungen Männer wurden aus der ganzen Ukraine eingezogen, um die strahlenden Überreste der Katastrophe zu reinigen und zu vergraben. 20.000 bis 50.000 starben bis heute an den Spätfolgen dieser Arbeit, schätzen Experten.

Die Kritik an seinem Geschäftsmodell kann Serhij Myrnyj deshalb kaum nachvollziehen. "Es freut mich sehr, dass ich heute anstelle militärischer Liquidatoren riesige Touristengruppen sehe", sagt er. Myrnyj sieht seine Touren auch als Aufklärungsarbeit und wirtschaftliche Chance für die Region. Er schätzt, nach der Corona-Pandemie könnte sich die Zahl der Besucher nicht nur erholen, sondern sogar verdoppeln. "Ich glaube, dass der Tschernobyl-Tourismus der Antrieb für eine neue Phase der Normalisierung nach dem Unfall sein wird."

Währenddessen führt er seine Gruppe zum Epizentrum der Sperrzone. Aus nur hundert Metern Entfernung schießen sie Fotos des so genannten Sarkophags. Die mehr als 100 Meter hohe und mehr als zwei Milliarden Euro teure Konstruktion umschließt den gesamten Reaktorblock 4. In seinem Inneren lagert bis heute eine extrem strahlende Masse aus geschmolzenem Uran und anderem Material aus dem Kern des Reaktors. Dieses "Corium" wird noch mehr als einhunderttausend Jahre seine tödliche Strahlung abgeben. Das Erbe von Tschernobyl werde die Ukraine daher weiter begleiten, meint Serhij Myrnyj - durch die Touristen aber auch zum Vorteil des Landes.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 25. April 2020 | 07:15 Uhr

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