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MDR INVESTIGATIV - Hinter der Recherche Jugendamt schickt 7 Kinder ins Heim

Audiotranskription

Folge 20 des Podcasts "MDR INVESTIGATIV - Hinter der Recherche": Ein Jugendamt entzieht sieben Kinder ihrer Herkunftsfamilie. Wer kontrolliert das Jugendamt?

O-Ton Collage

"Liebe Mama, lieber Papa, ich vermisse euch ganz toll. Ich möchte nicht im Kinderdorf leben, weil ich nach Hause möchte. Ihr seid das Wichtigste in meinem Leben."

"Wir reden darüber, die Rechtsstaatlichkeit der Verwaltung sicherzustellen. Dass ich dafür überhaupt zum Gericht eennen muss, ist eigentlich schon ein Skandal. Man könnte jetzt natürlich böse sagen: die Umgänge funktionieren nicht, weil das Jugendamt keine Rückführung will."

"Das ist, wie wenn man einem die Füße wegreißt. Wenn einem der Boden weggerissen wird und man steht erst mal da, wie wenn man in ein Loch fällt."

Musik

Esther Stephan (ES): Sie hören den Podcast "MDR Investigativ - Hinter der Recherche". Ich bin Esther Stephan und arbeite für die politischen Magazine des Mitteldeutschen Rundfunks.

Im Oktober 2020 haben wir hier im Podcast über Eltern-Kind-Entfremdung gesprochen. Die Geschichte, um die es heute geht, geht noch einen Schritt weiter. Es geht nämlich nicht um Scheidungskinder, sondern um Kinder, die vom Jugendamt aus ihren Familien genommen werden. Oft sind die Gründe dafür berechtigt. Aber es gibt auch immer wieder Fälle, wo die Entscheidung des Jugendamts nicht nachvollziehbar ist. Die Journalistin Anett Wundrak hat eine Familie getroffen, deren sieben Kinder ins Heim gebracht wurden und die sich gegen den Entzug wehrt. Hallo, Anett!

Anett Wundrak (AW): Hallo! Ich grüße dich, Esther.

ES: Das ist ja eine recht komplizierte Geschichte, zu der du da recherchiert hat. Wie bist du darauf aufmerksam geworden?

AW: Also, das war über einen Brief, den die Familie, also speziell die Mutter an den Mitteldeutschen Rundfunk geschrieben hat. Im Sommer letzten Jahres. Und der wurde mir weitergeleitet, weil ich mich oft mit solchen Themen beschäftige. Dieser Brief hat mich sehr angerührt, weil er war sehr ordentlich geschrieben. Also vom Ton, wo man schon merkte: Da hat sich jemand was bei gedacht und hat darüber nachgedacht, und das hat mich irgendwie angerührt. Und ich dachte: ja, ich kümmere mich darum. Ich habe als erstes den Anwalt der Familie angerufen, um mich zu vergewissern, dass es da jetzt nicht um Gewalt in der Familie geht, um Drogen oder Missbrauch. Das hat er mir bestätigt, dass das alles keine Rolle spielt. Und insofern habe ich dann versucht, Kontakt mit der Familie aufzunehmen, was nicht so einfach war. Die sind natürlich in einer tiefen Depression und haben viel Misstrauen gegenüber allem, was von außen kommt. Ich habe also ein paar Monate gebraucht, dass die mich sozusagen wirklich an sich rangelassen haben und in die Wohnung gelassen haben, sodass ich mich umgucken konnte und mit ihnen reden konnte. Das habe ich im November letzten Jahres getan und habe dabei Menschen kennengelernt, die wirklich sehr verzweifelt sind. Aber auch - ich sage einfach mal das alte Wort - sehr anständig auf mich wirken. Und die Bilder, die an den Wänden hängen, von den Kindern, die haben mir Kinder gezeigt, die fröhlich wirkten. Lustig, ganz normal eben. Da habe ich gesagt: Okay, hier ist irgendetwas nicht in Ordnung. Hier kümmerst du dich jetzt mal drum.

ES: Du hast schon gesagt, es war keine Gewalt im Spiel, keine Drogen. Was war denn dann der Grund, dass die Kinder aus der Familie rausgeholt wurden? Das passiert ja trotzdem nicht einfach so. Oder?

AW: Das passiert sicherlich nicht einfach so. Das hat auch eine lange Vorgeschichte. Wie gesagt, da sind sieben Kinder in der Familie. Die waren schon lange überfordert. Die Mutter ist hat mit 31 Jahren ihr siebtes Kind bekommen. Der Vater hat zu der Zeit im Drei-Schicht-System gearbeitet, die Familie hatte schon über mehrere Jahre Kontakt mit dem Jugendamt. Die haben sogar selbst denen Kontakt gesucht, weil sie gemerkt haben, dass sie überfordert sind. Die haben zum Beispiel eine Schulbegleitung für die älteste Tochter gewünscht und später auch eine Haushaltshilfe. Aber das hat alles irgendwie nicht geklappt. Und das Jugendamt hat natürlich Mängel kritisiert. Es waren sehr schlechte Wohnverhältnisse. Ich sage jetzt mal so banale Sachen wie Steckdosen, die nicht gesichert waren. Zu wenig Betten für die Kinder. Alles sowas spielt schon lange eine Rolle. Aber es war immer noch so unterhalb des Levels, wo man wirklich eingreifen muss. Als sich das zuspitzte mit der Überforderung hat das Jugendamt beim Gericht um Hilfe gebeten. Das Gericht sollte klären, ob hier eben Kindeswohlgefährdung vorliegt oder nicht, weil man offensichtlich sich auch verrannt hatte. Also es gab keinen Respekt mehr voreinander. Man kam nicht mehr ins Gespräch, und es sollte extern jetzt geklärt werden. Es sollte dann ein Gutachter eingeschaltet werden, und das hat das Jugendamt schon 2018 in Auftrag gegeben. Und so kam das eben.

O-Töne: "Die haben nicht mal nach der Flaschenmilch gefragt. Ob ich stille, haben die mich nicht gefragt, gar nichts."

"Naja der Lennox, der hat natürlich alles zusammengeschrien hier. Er hat sich am Türrahmen festgehalten. Der wollte gar nicht, hat nur geschrien. Der hat unten im Polizeiauto gesessen und alles zusammengeschrien."

ES: Man hört ja hier im Ton von Frau und Herr Schubert: Die waren verständlicherweise total überrumpelt, als plötzlich der Streifenwagen und das Jugendamt vor der Tür standen und die Kinder mitnehmen wollten. Wie haben die Kinder denn reagiert?

AW: Also das beschreiben die Eltern ausgesprochen dramatisch. Die Mutter sagt, sie konnte nicht mal dem Baby noch den Schlafanzug ausziehen und es ordentlich anziehen. Die Leute haben nicht gefragt, ob sie noch stillt, ob das Kind die Flasche bekommt, gar nichts. Das Baby wurde einfach runter getragen zur Straße, ohne dass man sie irgendetwas gefragt hätte. Die anderen Kinder waren natürlich geschockt.

Ich sag mal, die ganz kleinen - das Zweitälteste war anderthalb Jahre - haben das sicherlich nicht so mitbekommen. Aber der dreieinhalbjährige Lennox, der hat sich am Türrahmen festgeklammert, der hat im ganzen Treppenhaus alles zusammen geschrien. Der saß auch im Polizeiauto noch schreiend. Also es müssen sich dramatische Szenen abgespielt haben, was man sich auch vorstellen kann.

Für die Älteren hat es dauerhaft, glaube ich, einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

Also die Shania, die ist jetzt zehn Jahre alt. Die musste dann ein halbes Jahr später in psychiatrische Behandlung, weil sie solche Verlustängste hatte und so traumatisiert war, dass sie mit niemandem mehr gesprochen hat, dort in der Heimunterbringung.

ES: Du konntest für die Recherche aber ja auch dieses Gutachten einsehen, vom Jugendamt. Geht das so einfach? Kann man das einfach anfordern?

AW: Nein, natürlich nicht. Also das Jugendamt hat natürlich mit mir auch über die konkrete Situation, über den konkreten Fall gar nicht gesprochen, weil da natürlich die Persönlichkeitsrechte der Kinder betroffen sind. Aber da die Familie ja selber eine Kopie des Gutachtens hat und sie sich entschlossen haben, mir das auch zugänglich zu machen, konnte ich das lesen.

ES: In dem Beitrag erzählst du auch, dass familienrechtliche Gutachten schon länger in der Kritik stehen. Warum?

AW: Das ist schon lange als Dilemma bekannt. Zum Beispiel 2014 hat das Bundesland Nordrhein-Westfalen, also die Landesregierung, eine Studie in Auftrag gegeben an der Fernuni Hagen. Die sollten das mal analysieren. Und die haben auch damals festgestellt, dass 50 Prozent der Gutachten im familienrechtlichen Bereich gravierende Mängel in der Methodik ausweisen, auch die Diagnoseverfahren sehr fragwürdig waren. Und der Professor Leitner, den ich im Beitrag auch zitiere, der hat sogar gesagt das sind 80 Prozent, die kritikwürdig sind. Und wenn man mal guckt, unsere jetzige Bundesregierung hat schon in der ersten Koalition sich das ins Programm geschrieben, das Gutachterwesen im familienrechtlichen Bereich zu verbessern, vor allen Dingen die Qualität der Gutachter zu sichern. Aber so richtig vieles ist da bisher nicht passiert.

ES: Konntest du denn mit dem Amt auch sprechen?

AW: Wir standen längere Zeit Kontakt, aber immer nur schriftlich. Ein Interview wollte man mir nicht geben. Meine Fragen werden beantwortet, aber konkret zur Familie nicht. Da wird dann eben auf das Gutachten verwiesen, was die rechtliche Grundlage ihres Handelns gewesen wäre. Und wie gesagt: mehr es dann da nicht.

ES: Aber wie ist denn das? Als Journalistin gibt man sich ja natürlich immer Mühe, auch mit beiden Seiten zu sprechen, von beiden Seiten zu hören, damit man dann eine gute Einschätzung liefern kann. Wie ist es, wenn du nur mit der einen Seite gesprochen hast und mit der Seite, die die Entscheidung getroffen hat, eben gar nicht in Kontakt warst? Wie funktioniert das journalistisch?

AW: Naja, die andere Seite muss ich dann hernehmen aus der schriftlichen Form. Das Gutachten widerspiegelt ja das, was sozusagen Meinung des Jugendamtes und der Sachverständigen ist. Und das kann ich nur vergleichen mit dem, was ich selber vorfinde. Was ich also bei der Familie vorfinde. Und dann hatte ich noch die Möglichkeit, den Anwalt zu fragen, der ja auch die Familie komplett mal kennengelernt hat. Er hat also Umgänge begleitet, ein der wenigen Umgänge, die es mal gab. Da konnte er mitgehen, konnte sehen, wie die Eltern und die Kinder interagieren. Ich konnte den Kinderarzt befragen, der sich lange mit mir unterhalten hat und eben zu einer ganz anderen Einschätzung gekommen ist, als die Gutachterin. Der auch beschrieben hat, wie das Personal, der Praxis, also die Schwestern am Empfang und so die haben ja alle einen Eindruck gehabt von der Familie. Und die beschreiben die eben, dass die auch im Wartezimmer sich immer zu beschäftigen wussten, dass die mit Kinderbüchern hantiert haben, dass sie mit Spielzeug gut umgehen konnten, dass die ausgesprochen höflich und freundlich waren. Was man da nicht immer so kennt. Da kommen ja viele Familien und sehr viele verschiedene Familien. Also die hatten einen ganz, ganz anderen Eindruck und mir gegenüber hat der Arzt gesagt, er konnte diese Inobhutnahme überhaupt nicht nachvollziehen. Es gab da auch gesundheitlich und entwicklungsmäßig keine Defizite. Die Familie war immer im Gespräch mit ihm. Also er konnte es nicht verstehen. Und insofern hat sich dann schon doch ein bisschen ein Bild zeigen können. All das, was mir persönlich gefehlt hat, also Gespräche, Schule, Kindergarten, Jugendamt, das musste ich dann aus der schriftlichen Form des Gutachtens herausholen.

ES: Du hast auch noch mit einem Psychotherapeuten gesprochen, mit Professor Werner Leitner, der kritisiert dieses Gutachten ja auch sehr:

O-Ton Prof. Leitner: "Eine entsprechende Persönlichkeitsdiagnostik mit entsprechenden Persönlichkeitstests, beziehungsweise normierten und standardisierten psychometrischen Verfahren im Bereich der Persönlichkeitsdiagnostik, hat die Gutachterin hier nicht vorgenommen. Auch nicht vornehmen können."

ES: Wie entstehen denn solche Gutachten eigentlich? Beauftragt das Jugendamt dann einfach jemanden, der oder die die Familie schon kennt? Und diese Person schreibt das dann? Oder sind es explizit Leute vom Jugendamt, die dann vorbeikommen und die Familie beurteilen?

AW: Also erst mal muss ich sagen, Herr Professor Leitner hat zwar das Gutachten an diesem Punkt kritisiert, aber er hat auch gesagt: es ist eines der besseren. Also weil diese Gutachterin hat persönliche Gespräche geführt. Die war dreimal in dem Haushalt der Eltern. Und dann sagt der Professor Leitner: das ist schon extrem viel, obwohl es für eine Begutachtung und eine Entwicklung in der Familie eigentlich viel zu wenig ist. Aber es ist mehr als die meisten Gutachter machen. Also er hat schon Gutachten analysiert, da wurde rein nach Aktenlage begutachtet. Und das war in diesem Fall also anders. Das muss man hier auch mal sagen. Ansonsten ist es so: Das Jugendamt wendet sich ans Familiengericht, und die beauftragen dann einen externen Gutachter, dass er sich die Situation angucken soll. Inwiefern es da Empfehlungen vom Jugendamt gibt, weiß ich nicht. Es ist nur so, dass es generell wohl ziemlich schwierig ist, Gutachter zu finden. Es gibt unheimlich viele familienrechtliche Verfahren. Jeder weiß das: Die Leute lassen sich scheiden. Es gibt im Jugendamt Probleme, und es gibt sehr, sehr viele Tausende von Fällen, die jährlich vorm Gericht landen. Und immer wird ein Gutachter eingeschaltet, oder meistens. Und die Richter müssen also jetzt sehen, wen beauftragen sie da? Jemanden zu finden ist nicht so einfach. Es stehen einfach nicht so viele zur Verfügung und ich sag mal, Privatgutachten werden auch einfach besser bezahlt als aus der Staatskasse. Das schränkt dann die Auswahl auch noch mal ein.

ES: Jetzt war es aber trotzdem nicht, sodass bei der Familie Friede, Freude Eierkuchen war. Der Vater arbeitet im Schichtsystem, die Mutter hat die sieben Kinder die meiste Zeit allein erzogen und war damit natürlich auch überfordert. Warum hat sie denn dann nicht erst einmal Hilfe vom Jugendamt bekommen, bevor direkt drastisch eingeschritten wurde und die Kinder aus der Familie rausgeholt wurden?

AW: Hauptgrund in diesem Fall, dass die Kinder herausgenommen wurden, war Überforderung. Also nicht Missbrauch, Drogen, Gewalt, sondern wirklich Überforderung. Und das ist auch nach aktueller Statistik bundesweit der Hauptgrund für Inobhutnahmen. Die letzten aktuellen Zahlen beziehen sich auf 2019. Bei 55.000 Kindern gab es eine Kindeswohlgefährdung. Die wurden aus der Familie genommen, zehn Prozent mehr als im Jahr davor. Und immer war der häufigste Grund eben Überforderung. Und da fragt man sich schon: Was läuft hier schief? Warum sind so viele Eltern überfordert? Warum greifen Hilfsangebote nicht?

Die Familie wusste, dass sie überfordert ist. Die haben also schon über Jahre auch mit dem Jugendamt zu tun gehabt, und es wurde ihnen auch Hilfe zugeteilt, sage ich mal. Da war die Familienhilfe glaube ich sogar zweimal da. Aber das war nicht das, was die brauchten. Also die brauchten praktische Hilfe. Jemand, der mit anpackt, der sieht, was zu tun ist, der einfach diese helfenden Hände hat und sich nützlich macht. Was das Jugendamt geschickt hat, das war Familienhilfe, die quasi in einer Ecke saß und zugeguckt hat und beurteilt hat und praktisch bevormundet. Das war das, was sie am allerwenigsten gebraucht haben. Das hat sogar noch gestört und das Verhältnis zum Jugendamt geriet zunehmend unter Spannung. Also der Respekt gegenseitig ging verloren. Man hat also da nur noch geblockt. Das wird den Eltern auch vorgeworfen, dass sie diese Familienhilfe nach zwei Monaten beendet haben. Aber die hat ihn eben nichts gebracht. Die wollten praktische Hilfe, beziehungsweise auch eine Schulbegleitung für die älteste Tochter, die öfter mal die Schule geschwänzt hat. Aber das war irgendwie nicht möglich.

ES: Aber ist es üblich, dass eine Familienhilfe dann nicht auch mit anpackt? Im ersten Moment würde ich jetzt denken, dass eine Familienhilfe dazu da ist, um praktisch auch zu helfen und eventuell auch beratend tätig zu sein. Aber das kommt ja in vielen Familien wahrscheinlich dann erst an zweiter Stelle.

AW: Nee, so diese praktische Hilfe ist eigentlich nicht deren erste Aufgabe. Die erste Aufgabe ist eben zu analysieren. Was läuft nicht gut? Es gibt ja meistens auch Probleme mit Schulden. Hier war es auch so, sodass ein Kita-Besuch für das für eine Kind nicht möglich war, weil eben noch Essensgeld Schulden im Kindergarten waren und andere Schulden eben auch. Dass sie sich darum kümmert, eben zu sagen: Da und da gibt es die Beratungsstelle, da könnt ihr die Hilfe bekommen, da müsst ihr dieses oder jenes machen. Aber das dafür hatten die im Kopf gar keinen Platz, sag ich mal. Insofern hat ihnen das nicht geholfen.

ES: Wo leben die Kinder denn jetzt? Sind die in Pflegefamilien untergebracht?

AW: Nur das Baby, das war ja erst zwei Monate alt. Das Baby kam in eine Pflegefamilie. Und die anderen zunächst getrennt, es hat auch eine Weile gedauert, bis sie dann gemeinsam im SOS-Kinderdorf angekommen sind. Zunächst waren die erstmal noch getrennt untergebracht.  

ES: Die Eltern haben ja auch erst vier Monate, nachdem ihnen die Kinder entzogen wurden, wieder Kontakt zu denen haben können. Konnten die die dann im Kinderdorf einfach besuchen?

AW: Nein, auch das war sehr dramatisch. Also nur zu einem Jungen, Maxim, gab's Weihnachten - also ungefähr fünf Wochen nach der in Inobhutnahme - Kontakt. Da hat sich das Heim selber gemeldet, weil das Kind immerzu nach den Eltern gefragt hat und so unglücklich war. Da haben die vom Heim aus den Kontakt hergestellt, sodass die Eltern dann wussten: Ah, da ist der Maxime! Von den anderen wussten sie wochenlang gar nicht, wo die überhaupt sind. Also sie sind permanent zum Jugendamt und haben Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um das herauszufinden, um Kontakt zu ihren Kindern aufzunehmen. Und es hat wirklich vier Monate gedauert, ehe sie sie dann das erste Mal sehen durften, in Begleitung einer Aufsichtsperson, die darauf achten muss, dass da aber eben nur über kindgerechte Themen geredet wird, dass das Heim nicht schlecht gemacht wird, das keine falschen Versprechungen gemacht werden. Und Corona-bedingt, das war dann schon im März, fand dann eben erst der erste Kontakt statt im März 2020. Da ging es los mit Corona, und da hat das Jugendamt dann eben immer gesagt: 'Tja, wir finden keine Begleitperson. Es ist ja Corona, und also kann kein Umgang stattfinden.' Das war natürlich zusätzlich dramatisch.

ES: Die Unterbringung in den Dörfern ist echt teuer. Wir haben gerade schon festgestellt: Die Familienhilfe durfte nicht helfen, sondern sollte beratend tätig sein und analysieren. Hätte das Jugendamt nicht einfach sagen können: wir nehmen das Geld und stellen der Familie eine Haushaltshilfe zur Verfügung, oder so? Die dann tatsächlich einfach hinkommt, vielleicht mal die Wäsche macht oder die Küche putzt?

AW: Offensichtlich ist das so einfach nicht. Gut, wenn man jetzt hört, es kostet monatlich Minimum 25.000 Euro, diese sieben Kinder zu betreuen, dass also insgesamt sind seit der Inobhutnahme glaube ich 375.000 Euro mindestens da aufgelaufen. Das ist viel, viel Geld. Aber man kann jetzt nicht adäquat diese Summe nehmen und sagen: Hier das hätten wir auch der Familie geben können. Eine Haushaltshilfe hätte sicherlich wesentlich weniger gekostet. Und man fragt sich: warum geht das nicht? Da gibt es sicherlich auch Verbesserungen hinsichtlich der Gesetzeslage. Ich weiß, dass es in Thüringen schon Anfragen auch an die Landesregierung gab, das irgendwie doch zu verankern, dass es diesen Anspruch gibt. Bis jetzt ist es immer so: Haushaltshilfe kann, aber muss nicht. Und das wird immer so hin und hergeschoben zwischen den Krankenkassen und dem Jugendamt. Wer die Kosten übernimmt. Das ist noch nicht so richtig geregelt.

ES: Als du den Anwalt, Herr Prescher, der die Familie lange begleitet hat, interviewt hast, da war der sich recht sicher, dass er mit dem Fall bis vor das Bundesverfassungsgericht ziehen wird. Warum ausgerechnet bis vor das Bundesverfassungsgericht?

AW: Er sagt, dass ja auch: Die Würde des Menschen ist unantastbar, sagt unser Grundgesetz. Und in diesem Fall sagt er, ist die Würde der Eltern und der Kinder wirklich mit Füßen getreten worden und wird weiterhin mit Füßen getreten. Und deshalb sieht er den Fall vom Bundesverfassungsgericht.

O-Ton Anwalt Prescher: "Vor das Bundesverfassungsgericht deshalb, weil wir hatten ja letztes Jahr das Jubiläum des Grundgesetzes. Der erste Satz, der dort drinsteht oder die Hauptüberschrift ist: Die Würde des Menschen ist unantastbar! Und hier haben wir es mit einem Fall zu tun, wo die Würde nicht nur der Kinder, sondern auch die der Eltern Älteren mit Füßen getreten wird."

ES: Wenn jetzt aber sowohl der Herr Leitner, der Psychotherapeut, als auch der Herr Prescher, der Anwalt, sagen, es hat viele auch formale Fehler gegeben: Ist es dann nicht realistisch, dass der Fall zuerst in einer unteren Instanz geklärt wird?AW: Naja, ich sage mal, es gibt da offensichtlich Probleme, die struktureller Art sind, die noch nicht behoben sind. Also es herrscht einfach keine Waffengleichheit, und gegen das Jugendamt vorzugehen, ist unheimlich schwierig. Also da Probleme auszutragen ist schwierig, weil es kontrolliert halt niemand das Jugendamt und seine Entscheidung. Es wird den Mitarbeitern des Jugendamtes immer ein subjektiver Entscheidungsspielraum eingeräumt, den auch kein Gesetz, kein Gericht aufheben kann. Das ist ein bisschen problematisch. Und ich sage mal, es sind auch keine finanziellen Probleme. Eine arme Familie, wie diese Familie, kann sich kein Privatgutachten leisten. Die müssen auch, was die anwaltliche Vertretung betrifft sind sie auf Gerichtskosten Beihilfe angewiesen. Und der Anwalt der Herr Prescher - so dramatisch ist das nämlich - hat diesen Fall niedergelegt, einfach weil er sagt, er kann es selber aus wirtschaftlichen Gründen nicht weiterführen. Also ein Anwalt, der vom Gericht beauftragt wird über diese Gerichtskostenhilfe bekommt dafür ein pauschales Honorar, und das ist unabhängig davon, wie viele Kinder es in der Familie gibt und wie komplex der Fall ist. Es ist ein pauschales Honorar und in diesem Fall, wo er wirklich zig Klagen jeden Monat wieder einreichen musste, allein um die Umgänge sicherzustellen, zieht das so viel von seiner Kapazität, dass er einfach nicht mehr zum Geldverdienen kommt und deshalb den Fall auch niedergelegt hat. Die Familie steht jetzt im Prinzip ohne anwaltliche Vertretung da.ES: Okay, das heißt, es geht jetzt auch gar nicht vor das Verfassungsgericht, sondern die sind jetzt erstmal auf sich allein gestellt und müssen schauen, dass sie eine andere Vertretung bekommen, eine andere Rechtshilfe?

AW: Genau. Also der Vater will sich jetzt schon alleine vor Gericht vertreten. Das ist sicherlich keine gute Idee.

ES: Anett Wundrak, Dankeschön! 

AW: Gern geschehen!

ES: Das war der Podcast "MDR Investigativ - Hinter der Recherche". Falls Sie Lob oder Kritik loswerden wollen, können sie das gerne per E-Mail an investigativ@mdr.de senden. Und falls Sie diesen Podcast über Apple Podcast hören, dann freuen wir uns, wenn Sie uns da eine Bewertung hinterlassen. In zwei Wochen, am 26. März, erscheint dann die nächste Folge. In der spricht meine Kollegin Secilia Kloppmann mit Thomas Kasper über die Droge Crystal Meth und warum es in der Provinz viel mehr Drogenprobleme gibt, als man denkt. Bleiben Sie gesund und bis zum nächsten Mal!

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Exakt | 03. März 2021 | 20:15 Uhr

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