Teilnehmer einer Demonstration gegen Antisemitismus versammeln sich auf dem Rosa-Luxemburg-Platz in Halle
Etwa 150 Menschen demonstrierten im Mai 2021 auf dem Rosa-Luxemburg-Platz in Halle gegen Antisemitismus. Bildrechte: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Sebastian Willnow

MDR-Datenanalyse Antisemitismus in Sachsen-Anhalt immer noch Alltag

09. November 2022, 05:00 Uhr

Am 9. November wird der Opfer der Novemberpogrome von 1938 gedacht, bei denen auch in Sachsen-Anhalt Juden verletzt, verschleppt und getötet sowie Synagogen niedergebrannt wurden. Auch 84 Jahre danach ist Antisemitismus noch Alltag. Eine MDR-Datenanalyse zeigt, welche Regionen in Sachsen-Anhalt besonders betroffen sind.

In Sachsen-Anhalt sind im vergangenen Jahr 111 antisemitische Straftaten erfasst worden. Damit ist die Anzahl der Straftaten im Vergleich zum Vorjahr um etwas mehr als ein Viertel (rund 28 Prozent) angestiegen – und auf dem höchsten Stand der vergangenen 20 Jahre. Das geht aus der Statistik zur "politisch motivierten Kriminalität" (PMK) der Polizei Sachsen-Anhalt hervor.

Die bis zum dritten Quartal 2022 erfassten antisemitischen Straftaten seien im Vergleich zum Vorjahr leicht gestiegen, teilte das Innenministerium auf Anfrage von MDR SACHSEN-ANHALT mit. Demnach zeichnet sich auch für 2022 ein ähnliches Bild ab, wenn nicht sogar noch etwas höher.

Was ist Antisemitismus?

Laut der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), der Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken, ist Antisemitismus "eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen." Die Bundesregierung hat außerdem folgende Erweiterung verabschiedet: "Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein." Auch Sachsen-Anhalts Landesregierung beruft sich auf diese IHRA-Definition.

Volksverhetzung macht den Großteil der Straftaten aus

Die Berliner Amadeu-Antonio-Stiftung führt eine eigene Chronik über rechtsextreme und antisemitische Vorfälle in Deutschland. Für das Jahr 2022 listet sie bislang fünf antisemitische Vorfälle in Sachsen-Anhalt:

  • Der Chronik zufolge hat am 8. Januar eine Rednerin bei einer Corona-Demonstration in Magdeburg die Shoah verharmlost.
  • In der Nacht zum 18. Februar sei in einer Gedenkanlage in Gommern, die an die Opfer der Shoah erinnert, ein ins Eingangstor eingeritztes Hakenkreuz entdeckt worden.
  • Am 5. Mai sei eine Person in Teutschenthal antisemitisch beleidigt worden.
  • Am 20. Mai seien in Köthen jüdische Gräber beschädigt worden.
  • Am 25. Juni habe ein 66-jähriger Mann in einer Straßenbahn in Magdeburg die anderen Fahrgäste antisemitisch beleidigt.

Was bedeutet "Shoah"?

"'Holocaust' ist der englische Begriff und 'Shoah' der hebräische Begriff für den von Nazideutschland im Zweiten Weltkrieg verübten Völkermord. [...] 'Holocaust' leitet sich von dem griechischen Wort für Brandopfer ab und wird im Allgemeinen als eine gewaltige Zerstörung definiert, die durch Feuer oder andere nichtmenschliche Kräfte verursacht wird. 'Shoah' hingegen hat seine biblische Wurzel in dem Begriff 'shoah u-meshoah' (Vergeudung und Verwüstung) [...]. In den Vereinigten Staaten und in Großbritannien ist 'Holocaust' der gebräuchlichere Begriff, während sich in Kontinentaleuropa der Begriff 'Shoah' stärker durchgesetzt hat."

Quelle: aboutholocaust.org (World Jewish Congress & UNESCO)

Diese von der Stiftung aufgelisteten Vorfälle stehen stellvertretend für die Straftaten, die 2021 dem Innenministerium zufolge besonders häufig registriert worden sind: Dabei handelte es sich laut der Polizei überwiegend um Fälle von Volksverhetzung (53 Prozent), Propagandadelikte (14 Prozent) und Sachbeschädigungen (13 Prozent). Körperverletzung habe 2021 nur rund drei Prozent der registrierten Straftaten ausgemacht. Im Internet sei 2021 etwa jede sechste Straftat begangen worden (rund 18 Prozent). Dieser Anteil wird erst seit 2019 in der PMK-Statistik erfasst.

Zwar ist Antisemitismus ein Problem in ganz Sachsen-Anhalt, in den beiden Großstädten und im Süden des Landes wurden allerdings besonders viele Straftaten erfasst. So betrug deren Gesamtzahl zwischen 2005 und 2021 in Magdeburg 78 und in Halle 77, was rund 15 beziehungsweise rund 14 Prozent der Straftaten entspricht, die in diesem Zeitraum in ganz Sachsen-Anhalt registriert wurden.

Danach folgen der Burgenlandkreis mit 55, der Harz mit 45 und der Saalekreis mit 40 registrierten antisemitischen Straftaten. Im Landkreis Stendal sei die landesweit niedrigste Zahl verzeichnet worden, hier seien zwischen 2015 und 2021 allerdings immer noch 15 antisemitische Straftaten registriert worden.

Bei Diebstählen wurden keine Verdächtigen ermittelt

Was die Statistik außerdem zeigt: Zu den fünf registrierten Diebstahlsdelikten mit antisemitischem Hintergrund konnten keine Tatverdächtigen ermittelt werden. Bei Körperverletzungen konnten hingegen oft mutmaßliche Täterinnen und Täter gefunden werden. Diese sollen die Taten außerdem in vielen Fällen nicht allein verübt haben. 

Zwischen allen erfassten Straftaten sticht der Anschlag vom 9. Oktober 2019 in Halle hervor. Damals hatte ein schwer bewaffneter Terrorist versucht, am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur in die Synagoge von Halle einzudringen und ein Massaker anzurichten. Der Täter erschoss die 40 Jahre alte Passantin Jana L. und später in einem Döner-Imbiss den 20-jährigen Kevin S. Auf der Flucht verletzte der Täter weitere Menschen. Er wurde zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Laut Innenministerium sind 17 Menschen Opfer des Anschlags geworden. 

Hohes Dunkelfeld der rechts motivierten Gewalt

Zu den steigenden Zahlen hatte sich Max Privorozki, Vorsitzender des Landesverbands Jüdischer Gemeinden in Sachsen-Anhalt, im Vorfeld des Jahrestags des Halle-Attentats geäußert: "Nach dem Anschlag war ich, was den Zustand in der Gesellschaft betrifft, optimistischer als vor dem Anschlag. Weil ich gesehen habe, dass die guten Menschen die absolute Mehrheit hier sind, und das hat Hoffnung gemacht." Und das, obwohl die Anzahl der registrierten antisemitischen Straftaten seit 2019 laut den Zahlen des Innenministeriums jedes Jahr um mehr als 20 Prozent gestiegen ist. "Für mich spielen diese Zahlen eine untergeordnete Rolle. Für mich sind die Fälle wichtig, die ich sehe bzw. meine Gemeinde oder unser Landesverband", sagte Privorozki.

Die Zahl der Straftaten könnte tatsächlich noch höher sein. Die Mobile Opferberatung, die Betroffene rechtsextremer und antisemitischer Gewalt berät, geht zumindest von einer hohen Dunkelziffer im Bereich der politisch rechts motivierten Gewalt in Sachsen-Anhalt aus.

Auch bei den Behörden spricht man von einem "Dunkelfeld". Die zuletzt gestiegene Zahl der registrierten Straftaten zeige auch, dass es der Polizei gelungen sei, dieses Dunkelfeld zu erhellen, sagte ein Sprecher des Innenministeriums. Er erklärte: "Antisemitische Straftaten sind immer zugleich Angriffe auf unsere demokratische Gesellschaft und zielen auf die Beseitigung von Menschenwürde, Toleranz und Freiheit." Der Schutz jüdischen Lebens und jüdischer Kultur sei Sachsen-Anhalts historische Verantwortung.

Bewertung der Tat liegt bei den Beamtinnen und Beamten

Um auch antisemitische Vorfälle statistisch zu erfassen, die keine Straftaten sind oder nicht angezeigt werden, arbeitet seit Juli 2022 eine Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) in Sachsen-Anhalt. Die RIAS Sachsen-Anhalt soll neben der Dokumentation und Analyse von Fällen auch Betroffene psychosozial beraten. Laut Marina Chernivsky, Geschäftsführerin des Trägervereins der Meldestelle, OFEK e. V., kann dadurch eine Lücke geschlossen werden: Bei der Statistik der Polizei liege die Bewertung und Einordnung von antisemitischen Vorfällen bei den Beamtinnen und Beamten, die die Anzeigen aufnehmen. "Hier braucht es entsprechende Kenntnisse über Antisemitismus und jüdisches Leben sowie einen sensiblen Umgang mit den Betroffenen, um den antisemitischen Hintergrund einer Straftat zu erkennen", so Chernivsky.

Chernivsky zufolge sind antisemitische Taten nicht immer direkt auf Personen gerichtet. Dadurch werden manche Vorfälle nicht angezeigt und tauchen auch nicht in der PMK-Statistik auf. "Das betrifft zum Beispiel antisemitische Schmierereien im öffentlichen Raum, die sich nicht direkt oder in unmittelbarer Nähe zu jüdischen Einrichtungen befinden. Auch auf Kundgebungen und Demonstrationen getätigte antisemitische Äußerungen müssen entsprechend registriert werden", sagte Chernivsky.

Genau dort will demnach die Meldestelle Antisemitismus RIAS Sachsen-Anhalt ansetzen, um "ein umfassenderes Bild antisemitischer Bedrohung in der Zukunft geben zu können". Außerdem gibt es seit September einen Polizeirabbiner in Sachsen-Anhalt, der der Polizei Wissen über Antisemitismus und jüdisches Leben vermitteln soll, um so antisemitische Straftaten in Zukunft besser zu erkennen.

RIAS Sachsen-Anhalt erfasst auch nicht strafbare Vorfälle

Der Bundesverband RIAS zählte 2020 in Sachsen-Anhalt drei antisemitische Angriffe, fünf Fälle von Bedrohungen, vier gezielte Sachbeschädigungen und 33 Fälle von verletzendem Verhalten. Davon wurden 19 Vorfälle auf Versammlungen dokumentiert. Für das Jahr 2021 hat der Bundesverband festgestellt, dass die Zahlen in allen Kategorien außer "Bedrohung" gestiegen sind: Die Zahl der Angriffe verdoppelte sich auf sechs, hinzu kamen sechs gezielte Sachbeschädigungen und 46 Fälle von verletzendem Verhalten.

Was ist "verletzendes Verhalten"?

Verletzendes Verhalten definiert der Bundesverband der RIAS als antisemitische Beschimpfungen oder Kommentare sowohl gegenüber jüdischen oder israelischen Personen als auch gegenüber anderen Personen und Institutionen. Diese können auch online getätigt worden sein. Auch Versammlungen, auf denen "in Reden, Parolen, mitgeführten Transparenten oder im Aufruf antisemitische Inhalte festgestellt werden", zählt der Bundesverband zu dieser Kategorie.

Die RIAS Sachsen-Anhalt erfasst Vorfälle durch Recherchearbeit und Monitoring, auch wenn diese nicht strafbar sind, also nicht in den Aufgabenbereich der Polizei fallen. Betroffene oder Zeuginnen und Zeugen können Vorfälle außerdem anonym, auf Deutsch, Englisch oder Russisch über ein Online-Portal oder per Telefon melden. Damit diese Option genutzt wird und Betroffene wissen, dass ihre Angaben vertraulich behandelt werden, sei auch Vertrauensarbeit in den jüdischen Gemeinden wichtig, meint Chernivsky.

Max Privorozki, der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Halle, begrüßte die Einrichtung der Meldestelle im Juli mit den Worten: "Irgendwann – so hoffen wir – benötigt es die Gesellschaft weder, über Antisemitismus zu reden noch die Opfer zu betreuen und die Vorfälle zu dokumentieren. Auf diese Zeit warten wir. Bis sie kommt, sind die Präventionsmaßnahmen gegen dieses Übel unabdingbar".

Korrekturhinweis: In einer vorherigen Version des Artikels war als Titelbild ein Archivbild einer Demonstration in Gera zu sehen. Weil dies missverständlich war, haben wir das Bild ausgetauscht.

MDR (Marie Zinkann) | erstmals veröffentlicht am 5.11.2022

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 05. November 2022 | 06:00 Uhr

11 Kommentare

dieja am 05.11.2022

Antisemitismus gibt es seit über 2000 Jahren. Er wird nie ganz auszurotten sein. Deutschland hat aus der Gesichte sicher eine besondere Verantwortung. Interessant wäre hier wie es in anderen Ländern aussieht, denn Judenverfolgung gab es in ganz Europa.
In anderen Ländern gibt es aber den Straftatbestand der Volksverhetzung undPropagandadelikte nicht. In Sachsen-Anhalt gibt es sicher nicht mehr und nicht weniger Antisemiten als in anderen Bundesländern oder anderen Staaten.
Also bitte nicht solche reißerischen Überschriften.

MDR-Team am 05.11.2022

Danke für den Hinwies. Das Bild war als „Archivbild“ gekennzeichnet, dennoch verstehen wir, dass es für Verwirrung sorgen kann, weshalb wir es ausgetauscht haben.

MDR-Team am 05.11.2022

Danke für den Hinwies. Das Bild war als „Archivbild“ gekennzeichnet, dennoch verstehen wir, dass es für Verwirrung sorgen kann, weshalb wir es ausgetauscht haben.

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