PolitikwissenschaftlerCorona-Proteste: "Eine kritische Öffentlichkeit ist wichtig"
Wie gefährdet sind unsere Grundrechte? Inwieweit beeinflusst die Wissenschaft politische Entscheidungen? Und richtet sich die Politik nach den Zahlen oder andersherum? Politikwissenschaftler Michael Böcher aus Magdeburg im Interview. Teil drei unserer Themenwoche.
Herr Böcher, wie betrachten Sie die aktuellen Corona-Proteste?
Michael Böcher: Angesichts dessen, dass wir derzeit die einschneidendste Beschränkung von Grundrechten seit Bestehen der Bundesrepublik erleben, ist es völlig klar, dass dies auch Kritiker auf den Plan ruft. Solche Proteste muss eine Demokratie aushalten, auch in der Pandemiebekämpfung muss es möglich sein, Kritikpunkte zu äußern und andere Meinungen dazu zu vertreten. Die ergriffenen Maßnahmen müssen immer neu durchdacht und begründet werden und sich einer kritischen Öffentlichkeit stellen. Denn solche Grundrechtseinschränkungen dürfen ja nicht der Normalzustand werden.
Ich würde aber unterscheiden wollen: Zum einen gibt es diejenigen, die protestieren, weil sie Angst haben, vor Armut und Arbeitslosigkeit zum Beispiel, oder weil sie persönliche Probleme deswegen haben, zum Beispiel mit der Kinderbetreuung. Auch gibt es Protestierer, die sich auf durchaus auch in der Wissenschaft diskutierte Kontroversen zur Pandemieeindämmung berufen. Das alles muss bei der Gesamtabwägung der Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie mit bedacht werden.
Was ich aber kritisch sehe, sind zum anderen bestimmte Gruppierungen, die aus anderen Zusammenhängen immer schon Verschwörungsideologien folgen, vielleicht politisch extrem sind, und diese Proteste nutzen, um ihre eigene Agenda zu verfolgen.
Zur Person
Prof. Dr. Michael Böcher arbeitet seit 2016 als Professor für Politikwissenschaft am Institut für Gesellschaftswissenschaften an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind politikwissenschaftliche Umwelt- und Nachhaltigkeitsforschung, Politikfeldanalysen, Umwelt-, Naturschutz- und Klimapolitik, Regional Governance im ländlichen Raum, wissenschaftliche Politikberatung, Wissenstransfer in den Umweltwissenschaften, Theorien und Methoden der Policy-Analyse und Transdisziplinarität.
Wie groß schätzen Sie die Gefahr ein, dass immer mehr Menschen solchen Verschwörungserzählungen verfallen?
Nicht alle Demonstranten sind Verschwörungstheoretiker. Aber unter den Demonstranten finden sich natürlich auch einige, die solchen Erzählungen anhängen. Die Mehrheit der Bundesdeutschen, die nach aktuellen Umfragen der Meinung ist, dass die Bundesregierung eine richtige Politik betrieben hat und die bereit ist , dass individuelle Freiheiten eine Zeit lang beschränkt werden, damit die kollektive Sicherheit vergrößert wird, sehen wir nicht bei diesen Demos. Da wird also ein unausgeglichenes Bild produziert.
Denn in den Medien wird viel berichtet über Bürger, die Verschwörungen anhängen. Das sieht dann so aus, als würde es da unheimliche viele Verschwörungstheoretiker geben. Aber im Großen und Ganzen werden die Maßnahmen ja noch getragen von der breiten Bevölkerung. Das ist für mich der Beleg, dass die meisten Bürger eben nicht den Verschwörungsideologien verfallen sind.
Zu betonen ist darüber hinaus, dass es in einer Demokratie auch in einem Ausnahmezustand wie der Pandemiebekämpfung immer notwendig und legitim ist, unterschiedliche Sichtweisen und Interessen zu debattieren und Argumente für Grundrechtseinschränkungen mit denen für Lockerungen trotz Corona abzuwägen. Insofern ist nicht jeder Protest gleichzusetzen mit Verschwörungsideologien oder der Äußerung von Extrempositionen.
Wie sollten Medien denn über Corona-Proteste berichten?
Was ich nicht gut finde: Wenn die Gegner der Corona-Maßnahmen pauschal in eine bestimmte Ecke gestellt werden. Wie ich bereits gesagt habe, gibt es durchaus berechtigte Kritik an der Beschränkung von Grundrechten. Da würde ich mir eine Aufklärungsfunktion gerade der öffentlich-rechtlichen Medien wünschen. Dass sie eben klar machen: Natürlich waren diese Einschränkungen sehr hart, aber sie waren eben auch angemessen aus diesen und jenen Gründen.
Das Ironische ist ja: Der Lockdown war offensichtlich erfolgreich. Das zeigen ja auch neuere Studien, jüngst die gerade viel diskutierte Arbeit von Viola Priesemann und ihren Kollegen am Göttinger Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation. In Deutschland konnte man aufgrund des Lockdowns nicht die katastrophalen Zustände wie in Italien oder Spanien beobachten. Deshalb gehen jetzt viele auf die Straße und sagen: Die Einschränkungen waren viel zu massiv.
Dieser Erfolg, dass die Todeszahlen glücklicherweise nicht so hoch waren wie in anderen Ländern, dass die Fallzahlen zurückgehen, sorgt dafür, dass die Maßnahmen erst recht in Frage gestellt werden. Manche sagen, dass das komplett übertrieben war. Aber hinter den Maßnahmen steckte ja ein Vorsorgegedanke, damit nie so eine Situation eintritt wie beispielsweise in Italien, wo Menschen gestorben sind, weil sie nicht entsprechend behandelt werden konnten.
Das heißt: Die Bundesregierung konnte von vornherein nur verlieren?
Wenn die Politik nicht gehandelt hätte und wir hätten so schlimme Zahlen, dann würde es Proteste geben, weil die Politik die Wissenschaft nicht ernst genommen hat. Wenn in einem hochentwickelten Industrieland wie Deutschland mit seinem oft als hervorragend dargestellten Gesundheitssystem durch eine Krankheit sehr viele Menschen gestorben wären, hätte das auch zu Kritik geführt. Deshalb muss man die Politik ein bisschen in Schutz nehmen.
Dass solch eine Pandemie kommt, wurde zwar vorher in Szenarien durchgespielt, aber als es uns dann wirklich ereilt hat, war es nicht so, dass die Politik jetzt einfach in ihrem Kochbuch nachschlagen und ein Lösungsrezept heraussuchen musste. Da war auch eine große Unsicherheit dabei, insbesondere, da es sich um einen neuartigen Erregertyp handelt, über dessen Gefährlichkeit und Langzeitfolgen noch kaum Wissen vorhanden war.
Wie erklären Sie sich, dass die Proteste offensichtlich gerade jetzt zunehmen, obwohl immer mehr Maßnahmen gelockert werden?
Das ist in der Tat widersprüchlich. Allein die Tatsache, dass man protestieren darf, zeigt ja, dass die Einschränkung der Grundrechte gar nicht so einschränkend ist. Aber ich glaube, es hängt sich viel an einem Symbol auf: der Maskenpflicht. Die ist ja wirklich wissenschaftlich umstritten. Da haben die Demonstranten etwas gefunden, das sie als Symbol dafür verwenden, dass die Politik unsere Freiheit über die Maße einschränkt. Anhand dessen kann man sich gut seine persönlichen Feindbilder zurechtlegen.
Der zweite Aufhänger ist die Impfpflicht, die angeblich drohen soll. Impfgegner gibt es schon lange und in gewissen Kreisen ist die Angst vor einer Impfung generell groß, mit einem Stoff, der noch nicht millionenfach erprobt ist, noch viel größer. Diese Ängste werden zum Beispiel genutzt, um der Verschwörungstheorie, dass Bill Gates hinter allem steckt, neue Munition zu liefern. Und das sorgt dann dafür, dass diese Proteste an Fahrt aufnehmen.
Wie gefährdet sind die Freiheitsrechte durch die Corona-Verordnungen Ihrer Einschätzung nach?
Die Wahrung der Grundrechte ist zentral für unsere Demokratie. Der Gesetzgeber tut sich zurecht schwer damit, diese Grundrechte einzuschränken. Aber das Bundesinfektionsschutzgesetz gibt das in solchen Krisensituationen her. In solchen Fällen kann das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit höher gewichtet werden als beispielsweise die Freizügigkeit, wenn man nicht mehr reisen darf.
Dass die Gerichte entschieden haben, dass Demonstrationen erlaubt sind, zeigt mir, dass die Grundrechte in der Bundesrepublik nicht in Gefahr sind. Das Allerwichtigste ist, dass diese Einschränkungen immer besonders gut geprüft und begründet werden. Es braucht klare Kriterien, ob und wann man dazu übergeht, gewisse Freiheitsrechte einzuschränken. Die Politik muss immer wieder nachweisen, dass diese Maßnahmen den gewünschten Effekt haben.
Eine kritische Öffentlichkeit ist wichtig. Bürgerinnen und Bürger und auch die Medien müssen das besonders aufmerksam beobachten. Denn es kann natürlich sein, dass es politische Kräfte gibt, denen das gut gefällt, dass es einen starken Staat gibt und die sich denken: Das können wir ja auch bei anderen Problemen so machen. Das darf nicht sein. Es darf nie eine Willkür einkehren. Auch die Maßnahmen zur Pandemieeindämmung müssen sich einer demokratischen Kontrolle stellen. Und es muss ein Ende in Sicht sein, eine klare Linie, wann die Beschränkungen wieder aufgehoben werden.
Kritiker bemängeln oft, dass kritische Meinungen ausgeblendet werden. Das Misstrauen gegenüber Experten wächst offenbar. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?
Zunächst einmal bin ich der Auffassung, dass es nicht stimmt, dass kritische Meinungen ausgeblendet werden. Zum Beispiel konnte auch ein oft von Gegnern der Maßnahmen angeführter Kritiker des Lockdowns, Wolfgang Wodarg, seine Außenseiterposition im öffentlich-rechtlichen Rundfunk beim ZDF vertreten. Seit Beginn der Pandemie gab es sehr viele Expertinnen und Experten aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, die sich zu Wort gemeldet haben – sei es in Talkshows oder in den Pressekonferenzen der Bundesregierung.
Dass dabei das Robert-Koch-Institut (RKI) andauernd in den Medien präsent ist, liegt einfach daran, dass es diejenige Bundesoberbehörde ist, die gesetzlich dafür zuständig ist, die Bundesregierung in Fragen des Infektionsschutzes und beim Auftreten von Infektionskrankheiten wissenschaftlich zu beraten. Es wäre eher Anlass zu Kritik gewesen, wenn das RKI und dessen Zahlen nicht omnipräsent gewesen wären.
Klar ist zudem: Wenn eine neue Krankheit auftaucht, braucht man erstmal Informationen aus dem medizinischen Bereich, von Epidemiologen oder Virologen. Aber im Zuge des Lockdowns haben auch Wirtschaftswissenschaftler, Psychologen und Juristen die Lage eingeschätzt, insbesondere, als es um Lockerungen ging.
Die wissenschaftlichen Experten waren sich auch nicht immer einig. Gerade am Anfang hatten zum Beispiel Alexander Kekulé und Christian Drosten unterschiedliche Meinungen, was den Zeitpunkt von Schulschließungen anging. Irgendwann gab es dann einen Konsens darüber, dass wir einen Lockdown und auch solche Schließungen machen müssen. Wir alle sind also seit Beginn der Pandemie live dabei, wie solche wissenschaftlich durchaus üblichen Kontroversen bearbeitet werden.
Das ist auch ein Problem für viele Bürgerinnen und Bürger, dass Experten ihre Meinung im Laufe der Zeit auch mal ändern. Aber das liegt einfach daran, dass wir in einem ganz dynamischen Feld sind, in dem es durch Forschung in kürzester Zeit neue wissenschaftliche Erkenntnisse geben kann – und die führen dann wieder zu neuen Konsequenzen.
Zum Beispiel bei der Maskenpflicht. Am Anfang wurde gesagt, dass das nicht viel bringe. Aber meiner Meinung nach steckte da auch ein politisches Interesse dahinter. Es sollte sichergestellt werden, dass nicht alle Menschen sofort Masken kaufen und diese dann für diejenigen, die sie wirklich brauchen, also im Gesundheitsbereich, fehlen. Diese Überlegung hat bestimmt auch eine Rolle gespielt.
Natürlich wird oft kritisiert, dass die Kritiker, die auf Youtube zu sehen sind und vorgeben, Experten zu sein, zu wenig Raum in der öffentlichen Debatte haben. Da sehe ich jedoch das Problem, dass Bürgerinnen und Bürger die wissenschaftliche Güte eines Arguments nicht immer einschätzen können. Es gibt Meinungen, die nicht wissenschaftlich basiert sind. Deshalb bin ich froh, wenn diese keine Rolle für politische Entscheidungen spielen.
Denn als Bürger erwarte ich doch, dass nur solche Experten gehört werden, die auch wirklich noch aktiv in der Forschung sind, die wirklich den State of the Art ihrer Disziplin repräsentieren , deren Arbeit ständig im Diskurs von anderen Wissenschaftlern geprüft wird.
Ein weiterer Kritikpunkt, der oft angeführt wird: Der Einfluss von Experten wie Christian Drosten oder Alexander Kekulé auf politische Entscheidungen sei zu groß.
Es ist ganz wichtig zu betonen: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler treffen keine politischen Entscheidungen. Sie geben ihre Expertise ab. Entscheidend sind aber Bundesregierung und die Landesregierungen – und die handeln ja auch durchaus abweichend zum wissenschaftlichen Rat. Ich denke, Epidemiologen und Virologen hätten gesagt, dass wir den Lockdown noch zwei, drei Wochen durchhalten sollen. Die Politik hat anders entschieden, weil es eben auch andere Rationalitäten gibt: Langzeitfolgen, ökonomische Verwerfungen, soziale Probleme.
Ein Kritiker der Corona-Maßnahmen hat MDR SACHSEN-ANHALT kürzlich erklärt: "Ich habe das Gefühl, die Zahlen richten sich nach der Politik und nicht andersherum." Wie schätzen Sie dieses Statement ein?
Ganz Unrecht hat der Mann nicht. Wir haben selten erlebt, dass Politik so eng mit bestimmten Zahlen verbunden ist. Die meisten Bürgerinnen und Bürger haben sich vor der Corona-Pandemie wohl noch nie mit der Reproduktionszahl oder der Verdopplungsrate auseinandergesetzt. Wenn solche Zahlen die Politik leiten, müssen sie eine gewisse Qualität haben. Das Problem bei der Pandemie war aber von Anfang an, dass die Anzahl der Tests zu Beginn zu niedrig waren und dass es eine sehr hohe Dunkelziffer an Infizierten gab.
Das bedeutet: Die Politik war also auf eine Zahlenbasis angewiesen, die eigentlich nie die entsprechende notwendige wissenschaftliche Qualität hatte. Und trotzdem musste sie handeln, weil es die Gefahr der Überlastung des Gesundheitssystems gab. Die Politik folgt also schon den Zahlen, aber sie kann nur denen folgen, die sie auch zur Verfügung hat.
Man muss aber auch sagen: Manche Zahlen werden politisch gesetzt. Am Anfang wurde zum Beispiel gesagt, dass Massenveranstaltungen mit bis zu 1.000 Teilnehmern veranstaltet werden dürfen. Das ist natürlich keine wissenschaftlich basierte Zahl, sondern eine politische Festlegung. Es kann auch bei 800 Menschen ein Superspread-Event daraus werden oder bei 2.000 kann nichts passieren.
Genau so wie die Empfehlung der Leopoldina, dass 15 Kinder in einer Schulklasse sein sollen. Da gib es keine wissenschaftliche Studie, dass sich bei 15 Kindern weniger anstecken als bei 16. Trotzdem ist die Politik in der Verlegenheit, solche Festlegungen irgendwann treffen zu müssen.
Fest steht für alle Überlegungen: Wir wissen nicht, ob es noch eine zweite Infektionswelle geben wird, ob es rechtzeitig einen Impfstoff geben wird oder ob das mit der Herdenimmunität irgendwann funktioniert. Es ist daher noch viel zu früh, um eine Bilanz der Maßnahmen zu ziehen.
Das Interview führte Daniel George.
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Quelle: MDR/dg
Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT Heute | 20. Mai 2020 | 19:00 Uhr
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