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Die ländlichen Regionen Sachsen-Anhalts sind von einem Strudel aus Frauenmangel, Überalterung und Wegzug betroffen. (Symbolbild) Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Demografischer Wandel im ländlichen RaumSo hängen Frauenmangel, Schulschließungen und die AfD zusammen

25. Juli 2024, 10:38 Uhr

Immer älter, immer leerer und auch: immer männlicher – für den ländlichen Raum in Sachsen-Anhalt sieht es demografisch nicht gut aus. Das hat schwerwiegende Folgen, erklärt die Soziologin Katja Salomo. So könne das Gefühl des Abgehängt-Seins unter anderem zu mehr Zuspruch für rechtsradikale Parteien führen und zu mehr Wegzug – ein Teufelskreis. Sie rät betroffenen Kommunen zu mehr Investitionen.

In Sachsen-Anhalt fehlt es an Frauen. Dass die Bevölkerung im Land schrumpft und altert, ist kein Geheimnis. Aber es gibt im Strudel des demografischen Wandels noch einen weiteren Faktor, der die ländlichen Regionen Sachsen-Anhalts umtreibt: Frauenmangel. Oder genauer gesagt: einen Mangel an jungen Frauen.

Bevölkerung schrumpft und altert

In keinem anderen Bundesland soll die Bevölkerung laut einer Prognose der Bertelsmann Stiftung so stark schrumpfen: um 12,3 Prozent zwischen 2020 und 2040. In manchen Landkreisen Sachsen-Anhalts soll das mittlere Alter der Bevölkerung bis 2030 bei 52 liegen. Zum Vergleich: Bundesweit liegt das Medianalter aktuell bei 47 Jahren. Und schon damit ist Deutschland das Land mit der drittältesten Bevölkerung weltweit. Nur Japan und Monaco haben ein noch höheres Medianalter.

Ganz insgesamt betrachtet sind Frauen den Männern gegenüber in Sachsen-Anhalt sogar leicht in der Überzahl. 2022 waren in Sachsen-Anhalt in 51 Prozent der Bevölkerung weiblich. Die Zahl ändert sich allerdings, wenn man den Blick ganz konkret auf die jüngeren Altersgruppen richtet. So kamen 2020 beispielsweise bei den 20- bis 29-Jährigen in Sachsen-Anhalt rein rechnerisch 115 Männer auf 100 Frauen.

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Welche Folgen der Frauenmangel haben kann

Genau dieser Mangel an jungen Frauen wird gemeinsam mit anderen demografischen Entwicklungen wie Überalterung, Wegzug und Urbanisierung zu einem Teufelskreis, der die ländlichen Regionen fest im Griff hat. Dr. Katja Salomo forscht am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in Berlin. Die Sozialwissenschaftlerin hat sich viel mit demografischen Prozessen rund um Stadt und Land beschäftigt. Sie erklärt: "Wenn Menschen wegziehen, sinkt die Kaufkraft. Das hat Folgen für die Grundversorgung: Läden schließen, der Bus kommt seltener." Gleichzeitig würden auch Orte seltener, an denen die Menschen zusammenkommen: Kneipen, Schwimmbäder, Kinos.

Ohne junge Frauen fehlen Kinder. Und ohne Kinder fehlt auch kulturell etwas. Der Ort wird unattraktiver.

Sozialwissenschaftlerin Katja Salomo

Dazu komme: Fehlen Frauen, bedeute das nicht nur fehlende Kaufkraft. Sondern auch, dass ihre Perspektive in der Politik fehle. Es bedeute Einsamkeit für Männer, die möglicherweise keine Partnerin finden. Und auf lange Sicht auch fehlenden Nachwuchs. "Und ohne Kinder", sagt Salomo, "fehlt auch kulturell etwas. Es gibt dann zum Beispiel weniger Straßenfeste. Der Ort wird unattraktiver." Das sorge früher oder später dafür, dass beispielsweise Schulen schließen und die ärztliche Versorgung schlechter werde. Es komme zu Leerstand – etwas, das Orte nicht nur weiter unattraktiv mache, sondern laut Salomo auch eine psychische Belastung für die Menschen vor Ort sei. Die Sozialwissenschaftlerin fügt hinzu: "Das ist alles ein schleichender Prozess."

Wie Männerüberschuss und Gewaltverbrechen zusammenhängen

Ein Prozess, der bei den Menschen vor Ort das Gefühl entstehen lasse, sie würden zurückgelassen und nicht mehr versorgt. Oft, erklärt Salomo, hätten sie Angst, dass die Situation sich verschlechtere: "Wenn man negative Erfahrungen mit Veränderung hat – wie viele Menschen in Ostdeutschland naturgemäß haben – denkt man oft, dass mit jeder Veränderung alles schlimmer wird."

Die Abstiegsängste führten auch dazu, dass es Menschen schwerer falle, neue Menschen in ihre Gruppe hineinzulassen: "Sie haben das Gefühl, der Kuchen ist schon klein, wie sollen wir ihn noch teilen?" Laut Salomo betrifft das wirtschaftliche, aber auch soziale Aspekte. So hätten 2021 amerikanische Forschende am Beispiel von Deutschland nachgewiesen, dass es einen Zusammenhang zwischen Gewaltverbrechen gegen Geflüchteten und Männerüberschuss gibt.

Sie haben das Gefühl, der Kuchen ist schon klein, wie sollen wir ihn noch teilen?

Sozialwissenschaftlerin Katja Salomo

Oft, so Salomo, sei in den betroffenen Regionen auch die AfD besonders erfolgreich. Zum einen, weil Männer im Schnitt konservativer wählten als Frauen und sie in den ländlichen Regionen in Ostdeutschland in der Überzahl seien. Wobei Salomo anmerkt: "Es sind nicht die Alten, die AfD wählen – sondern es sind die jungen Männer in den Gebieten mit hoher Überalterung." Die AfD, sagt Salomo, sei allerdings auch aus einem anderen Grund in den betroffenen Regionen besonders erfolgreich: "Die Partei sucht sich diese Regionen ganz bewusst aus." Da, wo die Menschen das Gefühl hätten, abgehängt zu sein – da sei die AfD besonders präsent, oft als einzige Partei.

Was das Ganze mit Ostdeutschland zu tun hat

Ein Kreislauf also, der ganz konkrete politische Auswirkungen hat. Und nicht nur das: Laut Katja Salomo ist es ein spezifisch ostdeutscher Teufelskreis. In Ostdeutschland, erklärt Salomo, träfen so viele problematische demografische Entwicklungen so intensiv aufeinander, das sei "historisch und weltweit singulär." Noch nie und nirgendwo anders auf der ganzen Welt hat sich die demografische Gesamtsituation so zugespitzt wie aktuell auf dem ehemaligen Gebiet der DDR.

"Ostdeutschland ist aus demografischer Sicht ein einmaliges Experiment", sagt Salomo, müden Sarkasmus in den Augen. "Natürlich", sagt Salomo, "gibt es Urbanisierung und Kindermangel auch in Westdeutschland. Aber nicht so. Dort ist es nicht dieses Absterben wie im Osten."

Laut der Soziologin Katja Salomo sind die problematischen Entwicklungen in Deutschland demografisch und historisch einmalig. Bildrechte: MDR SACHSEN-ANHALT/Alisa Sonntag

Natürlich gibt es Urbanisierung und Kindermangel auch in Westdeutschland. Aber dort ist es nicht dieses Absterben wie im Osten.

Sozialwissenschaftlerin Katja Salomo

Die demografischen Probleme träfen den ländlichen Raum, aber auch kleine Städte weit weg von urbanen Zentren in den neuen Bundesländern. Große Städte wie Leipzig und Berlin seien ausgenommen, auch touristisch interessante Gebiete wie zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern. "Allerdings", fügt Salomo hinzu: "existieren solche starken urbanen Zentren in Sachsen-Anhalt ja gar nicht." So wohnen in den beiden größten Städten Sachsen-Anhalts, Magdeburg und Halle, jeweils etwa halb so viele Menschen wie beispielsweise in Leipzig oder Dresden.

Wie es zu dem Frauenmangel gekommen ist

Die Soziologin Salomo erklärt, wie es zu dem aktuellen Mangel an jungen Frauen kam: "Es gab in Ostdeutschland zwei große Abwanderungswellen Richtung Westdeutschland. Die erste direkt nach der Wende, die zweite in den 2000ern." Dabei würden vor allem Frauen die Heimat verlassen – am häufigsten gut ausgebildete Frauen. Diese kämen auch seltener zurück in den Osten als Männer.

Dazu komme noch der Trend zur Urbanisierung, also dass Menschen, hier auch wieder mehr Frauen als Männer, aus ländlichen Regionen in die Städte ziehen. Zusätzlich gebe es in Ostdeutschland so wenig Immigration, dass diese Entwicklungen kaum aufgefangen werden können.

Frauen gehen aus unterschiedlichen Gründen

Dass mehr Frauen als Männer gehen, hat laut Salomo wahrscheinlich mehrere Ursachen: "Zum einen wandern Menschen mit höheren Bildungsabschlüssen eher ab und Frauen haben formal höhere Bildungsabschlüsse als Männer." Zum anderen könne die Berufswahl eine Rolle spielen. So arbeiteten Frauen mit höherer Wahrscheinlichkeit in Dienstleistungsberufen und diese seien in den alten Bundesländern oft deutlich besser bezahlt.

Außerdem habe eine Studie aus Görlitz 2016 gezeigt, dass Frauen das kulturelle Angebot im ländlichen Raum stärker fehle als Männern. Die Soziologin ergänzt: "Frauen fühlen sich auch stärker von schlechter Infrastruktur eingeschränkt und sind bei so etwas ein bisschen mobiler, wagen also eher den Schritt, tatsächlich zu gehen."

Was die Politik gegen die Probleme tun kann

Aktuell, sagt Salomo, verliere Ostdeutschland nicht mehr so viele Menschen. Es gehen weniger, es kommen mehr. Die Lücken in der demografischen Pyramide bleiben allerdings bestehen. Und auch die politischen und sozialen Probleme, die damit einhergehen. Was also kann die Politik tun? "Gegen den Trend investieren", gibt Salomo nach kurzem Überlegen eine Antwort, die sicher nicht überall auf glückliche Ohren trifft.

"Es gibt ja Initiativen, wo sich Menschen engagieren, dass der letzte Bäcker gehalten wird. Das ist ja auch super. Aber der freie Markt versagt da, der Staat auch und dann sollen es die Bürger übernehmen, die aber eh jeden Tag schon ewig pendeln, weil sie mega weit weg arbeiten, weil es vor Ort keine Arbeitsplätze gibt." Sie schüttelt den Kopf.

Um gegen die demografischen Veränderungen und ihre Folgen anzukommen, brauche es Geld. Was die Bundespolitik beispielsweise über den Länderfinanzausgleich zur Verfügung stelle, sei "ein Witz, wenn man bedenkt, dass das ländliche Ostdeutschland vor einer weltweit einzigartigen Herausforderung steht."

Die Soziologin Katja Salomo kommt selbst aus einem kleinen Ort in Sachsen. Bildrechte: MDR SACHSEN-ANHALT/Alisa Sonntag

Der freie Markt versagt da, der Staat auch und dann sollen es die Bürger übernehmen.

Sozialwissenschaftlerin Katja Salomo

So seien beispielsweise in Sachsen viele Schulen seien geschlossen worden, weil Kinder fehlten. "Aber was passiert, wenn die Schulen zu sind?", fragt Salomo – "Dann zieht erst recht keiner hin." Auch in Sachsen-Anhalt in Thale sorgt aktuell ein Fall einer Schulschließung für Aufregung, denn die Eltern protestieren und fordern, dass die Schule bestehen bleibt.

Salomo sagt, man müsse in Dörfern den Schulbetrieb aufrechterhalten und den Menschen zumindest eine Chance geben, sich wieder anzusiedeln. "Natürlich ist es ein wirtschaftlicher Alptraum, wenn die Busse leer zur Schule fahren", sagt die Soziologin. "Aber es nützt ja nichts."

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MDR (Alisa Sonntag) | Erstmals veröffentlicht am 20.07.2024

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