Meinsdorf Quer durch Europa – in einem Dorf

25. April 2019, 13:49 Uhr

Bei Dessau-Roßlau gibt es ein Dorf, das wie kein anderes in Sachsen-Anhalt für Europa steht: das Europadorf Meinsdorf. Ein Spaziergang hier ist – zumindest architektonisch – wie eine kleine Reise über den Kontinent. MDR SACHSEN-ANHALT hat im Europadorf nach Menschen gesucht, die aus anderen europäischen Ländern hierher gezogen sind – und ist fündig geworden.

Luca Deutschländer
Bildrechte: MDR/Jörn Rettig

Der Besuch im Europadorf beginnt italienisch. Calocer Zattolo fährt mit seinem weiß-blauen Eiswagen durch die verwinkelten Straßen von Meinsdorf und läutet. Das ist das Zeichen für alle, die jetzt in der Nachmittagssonne Lust auf ein Eis haben. Es gibt Eis mit Vanille-, Erdbeer- oder Bananengeschmack. Oder ein Spaghetti-Eis in der Waffel. Während Zattolo die Kugel Bananeneis in die Waffel rollt, erzählt er von seiner italienischen Heimat. Und dass er seit sechs Jahren in Dessau lebt und seitdem Tag für Tag mit dem Eiswagen durchs Europadorf fährt.

Meinsdorf gehört zu Dessau-Roßlau und trägt den Beinamen Europadorf nicht ohne Grund. In dem Stadtteil haben Architekten aus sieben europäischen Ländern ihren nationaltypischen Stil verbaut. Entstanden ist ein Dorf, in dem jeder Straßenzug anders aussieht.

Vor der Europawahl auf der Suche nach Europäern im Europadorf – so lautet der Arbeitsauftrag für den Besuch an diesem Dienstagnachmittag. Doch das scheint gar nicht so leicht: Die russischstämmige Klavierlehrerin und Übersetzerin, die hier in Meinsdorf lebt? Ist gerade in den Ferien, verrät eine Frau, die es wissen muss. Und der Mann aus Polen, der hier lebt? Will nicht in ein Mikrofon sprechen.

Ein Streifzug, auf der Suche nach Europäern

Beim Spaziergang durch das Europadorf fallen die unterschiedlichen Stile, in denen hier gebaut wurde, direkt ins Auge. Vorn, im Tulpen- und Rembrandtweg, stehen die holländischen Häuser. Die Wände sind geklinkert. Weiter hinten der deutsche Beitrag, ein Halbrund aus kleinen Häusern im Bauhaus-Stil. Ein paar Straßen weiter schließlich Häuser, die schon auf den ersten Blick skandinavisch aussehen – nicht nur wegen des Elch-Warnschilds, das über einer der Haustüren hängt. Und tatsächlich: Die Häuser im Sibeliusweg sind der finnische Beitrag zum Europadorf Meinsdorf.

Das ist das Europadorf Meinsdorf

Das Europadorf Meinsdorf bei Dessau-Roßlau gibt es seit 1994. Es wurde für die Ausstellung "Bauen und Wohnen in Europa" gebaut, zu der gut 65.000 Menschen nach Roßlau kamen. Die damals noch eigenständige Stadt hatte sich darum beworben, das Europadorf auf städtischem Grund zu bauen. Das Besondere: Das Europadorf wurde auf Gelände gebaut, das nahezu komplett vom bereits bestehenden Dorf Meinsdorf umschlossen war. Das ist noch heute zu sehen. Das Europadorf ist umschlossen von Straßenzügen, die es bereits deutlich länger als 1994 gibt.

Heute stehen auf rund zehn Hektar Fläche im Europadorf mehr als 240 Wohnungen aus sieben Ländern. Investoren und Architekten aus Frankreich, Ungarn, Finnland, Belgien, Östtereich und den Niederlanden haben sich hier verewigt, außerdem aus Deutschland. Das Europadorf wurde gebaut, um beispielgebende Wohnungen im modernen Siedlungsbau zu errichten – die ganz nebenbei dafür sorgen sollen, Lebensweise sowie Wohn- und Baukultur europäischer Nachbarn besser zu verstehen. Im Europadorf leben heute rund 1.400 Menschen. Und die Wohnungen und Häuser sind beliebt. Leerstand gibt es hier kaum.

Die Suche nach Europäern im Europadorf geht im Andreas-Hofer-Weg weiter – dort, wo die blau und rot angestrichenen österreichischen Wohnhäuser stark an Badehäuser erinnern. Die schmalen Türen unter dem Carport, sie könnten glatt die Eingangstüren zur Umkleide im Schwimmbad nebenan sein. Irgendwo hier soll ein Mann leben, der aus Ungarn kommt, heißt es im Dorf. Man kennt sich ja hier. Vom Brötchenholen oder dem kurzen Schnack beim Spaziergang. Wie der Mann aus Ungarn aber mit Familiennamen heißt? Das weiß keiner. Also: Klingelschilder begutachten. Suchen. Welcher Name klingt ungarisch?

Borzas vielleicht?

Das Schrillen der Klingel ist von außen laut und deutlich zu hören. Es dauert ein bisschen, ehe Joszef Borzas die Tür öffnet. Borzas, blaues T-Shirt, Jogginghose, goldene Halskette, blickt dem Besuch neugierig entgegen. "Kommen Sie rein", sagt er. Der freundliche Mann bittet in seine Küche, im Raum nebenan läuft der Fernseher. "Kann ich Ihnen was anbieten?", fragt er. Borzas ist Betriebsschlosser, 1976 kam er zum ersten Mal in die DDR. Auf Montage. Joszef Borzas stammt aus Ungarn. Sein Lebensmittelpunkt liegt seit Anfang der 1980er Jahre aber in Deutschland. Ununterbrochen lebt er seitdem hier, vor 15 Jahren zog er ins Europadorf. Österreichische Siedlung. Eines der blau angestrichenen Häuser.

Europa sei gut für ihn, sagt Jozsef Borzas. Der 62-Jährige erzählt, dass er den ungarischen und den deutschen Pass hat. Reisen? War nie ein Problem, sagt er und faltet die Hände. Es gab mal eine Zeit, in der er und seine damalige Frau, eine Deutsche, trotzdem darüber nachgedacht haben, nach Ungarn zu gehen. Der Kinder zuliebe. Das war Mitte der 1980er. Jozsef Borzas und seine Frau sind aber geblieben. "Ich habe das nicht bereut", sagt er. "Wenn ich hier keinen Freundeskreis und die ehemaligen Kollegen hätte, wäre ich schon lange weg."

Ist er aber nicht. Und bis er in fünf Jahren in Rente geht, wird er auch bleiben, sagt Borzas. Irgendwann danach will er vielleicht in die Heimat zurück. Ende Mai, zur Europawahl, wird er aber erst einmal seine Stimme abgeben – per Briefwahl in Ungarn.

Europäer durch und durch

Der Weg durch das Europadorf führt nun zu Tsjabine Leps. Sie stammt aus Belgien und lebt mit ihrem Mann seit 2003 im Europadorf. Über Europa spricht sie gern. Das spürt man schnell. "Mein Vater", sagt Leps, "hat sieben Sprachen gesprochen." Europäer sei er, nicht Belgier. Das habe ihr Vater immer wieder gesagt.

Im Hause Leps lebt eine europäische Familie durch und durch. Die Neffen und Nichten von Tsjabine Leps haben in Schweden studiert, reisen gern und viel um die Welt. Sie stammt aus Belgien, kurz vor der niederländischen Grenze. Ecke Maastricht, Eindhoven. Tsjabine Leps hat ihre 18 Jahre alte Katze aus Belgien mitgebracht – nach Meinsdorf, wo ihr Mann groß geworden ist. Und Hund Feliz kommt aus Spanien und lebt seit ein paar Wochen hier im Europadorf. Das Haus beschützt Feliz schon ziemlich gut.

Es geht ihr gut hier in Meinsdorf, erzählt Tsjabine Leps. "Ein ruhiges Dorf, aber nicht zu ruhig. Hier ist Leben." Natürlich gibt es manchmal Dinge, die sie vermisst. Ihre Muttersprache zum Beispiel. Aber alles in allem sei das doch sehr schön hier, findet sie. Tsjabine Leps und ihr Mann genießen hier ihren Ruhestand.

Wenn Touristen beim Frühstück zuschauen Wer durch Meinsdorf läuft, sieht zwischen einzelnen Gärten immer wieder kleine Gänge. Die sind 1995 angelegt worden, um Besuchern der Ausstellung "Wohnen und Bauen in Europa" nicht nur einen Blick auf die Hausfassade zu ermöglichen – sondern auch in den Garten. Anwohner erzählen, dass Touristen vor allem in den ersten Jahren neugierig in Gärten gegangen sind und durch so manche Scheibe geschaut haben – sind doch Musterhäuser, dachte sich so mancher offenbar. Dass hinter der Scheibe eine Familie lebt und gerade frühstückt, damit hatten nur wenige der neugierigen Touristen gerechnet.

Ein Spaziergang durch das Europadorf Meinsdorf – das ist zumindest beim Blick auf die Architektur wie ein Mini-Streifzug durch sieben Länder. Nur, dass Besucher in Meinsdorf nicht ins Flugzeug steigen müssen und sich nicht verirren, weil sie in einem fremden Land sind – sondern eher wegen der vielen verwinkelten Gassen, die es hier gibt. Wenn Menschen aus verschiedenen Ländern zusammen leben, sorgt das allerdings nicht überall für Begeisterung. In der Neuen Neustadt in Magdeburg etwa gab es zeitweise Konflikte zwischen Einheimischen und Menschen aus Rumänien. Hier im Europadorf, wo alles eine Nummer kleiner ist als in Magdeburg, gibt es solche Probleme nicht. Auf den ersten Blick wirkt alles sehr harmonisch.

Die Menschen, mit denen MDR SACHSEN-ANHALT beim Streifzug durch Meinsdorf gesprochen hat, hätten gastfreundlicher und offener für Neues kaum sein können. Europäer eben.

Luca Deutschländer
Bildrechte: MDR/Jörn Rettig

Über den Autor Luca Deutschländer arbeitet seit Januar 2016 bei MDR SACHSEN-ANHALT – in der Online-Redaktion und im Hörfunk. Seine Schwerpunkte sind Themen aus Politik und Gesellschaft. Bevor er zu MDR SACHSEN-ANHALT kam, hat der gebürtige Hesse bei der Hessischen/Niedersächsischen Allgemeine in Kassel gearbeitet. Während des Journalistik-Studiums in Magdeburg Praktika bei dpa, Hessischem Rundfunk, Süddeutsche.de und dem Kindermagazin "Dein Spiegel". Seine Lieblingsorte in Sachsen-Anhalt sind das Schleinufer in Magdeburg und der Saaleradweg – besonders rund um Naumburg. In seiner Freizeit steht er mit Leidenschaft auf der Theaterbühne.

Quelle: MDR/ld

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