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WeltalphabetisierungstagWie der Lerntreff in Gräfenhainichen Analphabeten hilft

11. September 2022, 17:59 Uhr

Einkaufen gehen, Formulare ausfüllen oder auf dem Handy eine Nachricht tippen – ganz alltägliche Dinge werden zum Problem, wenn man nicht richtig lesen, schreiben oder rechnen kann. Allein in Sachsen-Anhalt betrifft das etwa 200.000 Menschen. Hilfe bekommen sie zum Beispiel im Lerntreff der Ländlichen-Erwachsenenbildung (LEB) in Gräfenhainichen.

Nadine Kuhnert sitzt im Lerntreff in Gräfenhainichen und sortiert die Spielsteine eines Zahlen-Dominos. Gar nicht so einfach für die 34-Jährige, der schon in der Schule eine Zahlenschwäche bestätigt wurde. Seit gut einem Jahr kommt die junge Frau deshalb in den Lerntreff der Ländlichen Erwachsenenbildung (LEB) und langsam stellen sich erste Erfolge ein.

Spielerisch einen Zugang zum Alphabet finden

Spiele sind eine gute Möglichkeit, Menschen, die nicht rechnen, lesen oder schreiben können, einen Zugang zum ABC oder Einmaleins zu bieten. Doch natürlich wird in dem liebevoll eingerichteten Raum nicht nur gespielt. Die Angebote im Treff sind vielseitig, sagt Einrichtungsleiterin Simone Graf: "Es gibt in Deutschland 6,2 Millionen Analphabeten. Alles, was für uns selbstverständlich ist, können diese Leute so nicht vollbringen. Deswegen haben wir diesen Lerntreff eingerichtet, wo sie Hilfe bekommen können, wenn sie zum Beispiel Briefe von Ämtern bekommen, die sie überhaupt nicht lesen oder verstehen können."

Die Möglichkeiten im Lerntreff sind vielseitig, sagt Simone Graf. "Sie können hier Lesen, Schreiben und Rechnen üben. Wir können ihnen zeigen, wie man über den Computer lernen kann." Dafür stehen im Lerntreff zwei Arbeitsplätze zur Verfügung, zahlreiche Arbeitsblätter zum Erlernen des ABCs ergänzen das Angebot.

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Schritt für Schritt den Alltag erleichtern

Am besten, so hat sich in Gräfenhainichen gezeigt, lernen die Betroffenen, wenn nicht nur der Kopf, sondern auch die Hände gefordert sind. Allein in diesem Jahr haben Simone Graf und ihr vierköpfiges Team deshalb knapp 60 Thementage angeboten. Da geht es mal ums Handy, mal ums eigene Bankkonto, mal darum, einen Kuchen zu backen. Denn das Rezept lesen, die Zutaten berechnen, all das will gelernt sein, erklärt Simone Graf: "Wir machen alles immer nur in ganz kleinen Schritten. Denn die Teilnehmenden müssen jeden Schritt verinnerlichen und üben, damit sie wissen, wie es dann wirklich in der Welt funktioniert."

Sie ist auf alle Fälle selbstbewusster geworden, in der Zeit hier. Und sie fühlt sich wohl, das merkt man.

Simone Graf | über die Fortschritte von Nadine Kuhnert

Nadine Kuhnert legt derweil den nächsten Dominostein an. Am Anfang sei es ihr sehr schwer gefallen, sagt die junge Frau, doch das Üben hilft. "Nach und nach ist man dahinter gekommen, wie es funktioniert. Und jetzt macht es Spaß." Das freut natürlich auch Simone Graf, die die Entwicklung der jungen Frau aufmerksam verfolgt. "Frau Kuhnert war am Anfang relativ ruhig, da hätten wir so wie heute gar nicht reden können. Sie ist auf alle Fälle selbstbewusster geworden, in der Zeit hier. Und sie fühlt sich wohl, das merkt man."

Analphabetismus ist oft ein Geheimnis

Nadine Kuhnert wurde vom Jobcenter auf das Angebot des Lerntreffs hingewiesen. Ihre Probleme waren dort bekannt. Doch das ist nur ganz selten der Fall, sagt Simone Graf. Viel häufiger sei, dass die Schwäche vertuscht wird. "Die Leute wollen halt nicht auffallen", sagt Simone Graf. Nur selten stelle sich jemand hin und sage: "Ich kann nicht lesen und schreiben."

Die Leute stellen sich selten hin und sagen 'Ich kann nicht lesen und schreiben.' Meistens wird es vertuscht. Die Leute wollen halt nicht auffallen.

Simone Graf | Leiterin Lerntreff Gräfenhainichen

Und sie fallen oftmals nicht auf: "Es ist unfassbar eigentlich. Diejenigen, die besonders schwer betroffen sind, haben ein unheimlich fotografisches Gedächtnis. Im Alltag kann man sich das dann so vorstellen: Die sehen irgendetwas, zum Beispiel in der Werbung bei einem Supermarkt. Und dann fotografieren sie sich das im Geist ab, weil sie das haben wollen und suchen es mit dem Foto im Kopf dann im Supermarkt."

Signale erkennen

Bei vielen falle es deshalb lange nicht auf, dass sie nicht lesen und schreiben können, erklärt Graf. Dabei gibt es einige Signale, die darauf hindeuten, dass man einen Analphabeten vor sich hat. "Man kann es teilweise erkennen, wenn jemand etwas unterschreiben muss. Jeder unterschreibt so dahin, sodass man teilweise die Unterschriften gar nicht lesen kann. Das würde bei einem Analphabeten nicht passieren. Der kann zwar seinen Namen schreiben, aber er malt die Buchstaben."

Weitere Hinweise auf Analphabetismus

  • Betroffene tun sich schwer, Formulare auszufüllen
  • Sie reagieren nicht auf schriftliche Nachrichten
  • Betroffene unterschreiben Vorlagen, ohne vorab den Inhalt geprüft zu haben
  • Sie benutzen Aussagen wie "Ich habe meine Brille vergessen. Ich fülle das zu Hause aus" oder "Schreiben Sie das doch gleich mal, Sie können das besser."
  • Schriftliche Aufzeichnungen weisen viele Rechtschreibfehler auf

Menschen für das Thema "Analphabetismus" zu sensibilisieren, ist deshalb eine weitere wichtige Aufgabe von Simone Graf. Nur wer die Hinweise kennt, kann Betroffenen helfen, sagt sie und ergänzt: "Wie man die Männer und Frauen dann dazu bekommt, Hilfe anzunehmen, ist nochmal ein Thema für sich". Doch waren sie einmal im Lerntreff, kommen die meisten gerne wieder. So wie Nadine Kuhnert, die ihren letzten Spielstein an das Domino anlegt und die heutige Partie gegen Simone Graf gewonnen hat.

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Leichte Sprache im MDR

MDR (Jana Müller)

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 08. September 2022 | 08:30 Uhr

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