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Die Evangelische Kirche will stärker mit AfD-Anhängern in den Diskurs treten, sagt Tobias Thiel. Bildrechte: MDR/Daniel George

Religion und Politik Umgang mit der AfD: Wie sich die Evangelische Kirche in Sachsen-Anhalt für Versöhnung einsetzt

17. März 2025, 10:40 Uhr

Nach der Bundestagswahl will die Evangelische Kirche auch in Sachsen-Anhalt stärker mit AfD-Anhängern in den Diskurs treten. Gelingen soll das durch Projekte wie "Bubble Crasher" aus Wittenberg – und durch Nächstenliebe.

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Wie politisch darf Kirche sein? Tobias Thiel lächelt. "Ich arbeite an der Evangelischen Akademie. Wir machen politische Bildung. Ich habe mich bewusst entschieden, in eine Einrichtung zu gehen, in der es um gesellschaftliche Fragen geht." Also sei für ihn klar: "Ich glaube, dass der christliche Glaube politisch ist", sagt der 51-Jährige. "Wir sollen uns als Kirche einmischen in gesellschaftliche Fragen. Wir sollten, ja wir müssen sogar politisch sein."

Wir sollten, ja wir müssen sogar politisch sein.

Tobias Thiel Evangelische Akadamie

Aktuell womöglich mehr denn je. Das Erstarken der AfD stellt die Evangelische Kirche vor Herausforderungen. Nach dem Erfolg der in Sachsen-Anhalt als gesichert rechtsextremistisch eingestuften Partei bei der Bundestagswahl hatte der mitteldeutsche Landesbischof Friedrich Kramer angekündigt, in einen stärkeren Diskurs mit AfD-Anhängern treten zu wollen. Seine Kirche werde neu überlegen, wie sie die Menschen erreiche.

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Einer, der überlegt, ist Tobias Thiel. Der Studienleiter für gesellschaftspolitische Jugendbildung sitzt in seinem Büro an der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt in Wittenberg. Und er sagt: "Als Kirche haben wir ein großes Potenzial: Wir sind der Nächstenliebe verpflichtet. Außerdem haben wir unseren eigenen Wertekanon. Das heißt: Wenn jemand rechtsextremistische oder menschenfeindliche Positionen vertritt, können wir ganz klar zum Ausdruck bringen, dass das so nicht geht. Gleichzeitig ist aber auch dieser Mensch unser Nächster, mit dem wir im Gespräch bleiben müssen und dürfen. Jeder ist unser Nächster – egal, welche Partei er wählt. So können wir versöhnend wirken."

Über die Evangelische Akademie

Die Evangelische Akademie Sachsen-Anhalt e.V. ist ein gemeinnütziger Verein. Er wurde 1995 in Magdeburg gegründet. Die Akademie will Orte der Verständigung bieten und setzt laut eigener Angabe protestantisch, weltoffen und streitbar Impulse für Meinungsbildung und Engagement.

"Ganz viele Risse und Spaltungen"

Zumindest in der Theorie mag das so sein. In der Praxis warnte die Evangelische Kirche allerdings bereits im Frühjahr vergangenen Jahres an unterschiedlichen Stellen vor der AfD. Die Bischöfe der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands beispielsweise erklärten: "Wir sagen klar und unmissverständlich: Wer die AfD wählt, unterstützt eine Partei, die das christliche Menschenbild mit Füßen tritt, programmatisch mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit gegen das Gebot der Nächstenliebe verstößt und mit ihren Hetzparolen den Geist der Gemeinschaft vergiftet."

Trotzdem "haben offenbar auch viele Christen die AfD gewählt", sagt Tobias Thiel von der Evangelischen Akademie in Wittenberg. In Sachsen-Anhalt gewann die AfD die Bundestagswahl vor drei Wochen klar. Die Partei holte 37,1 Prozent der Stimmen. Bundesweit kam die AfD auf 20,8 Prozent und wurde damit hinter der CDU (28,6 Prozent) zweitstärkste Kraft.

Tobias Thiel sagt: "Die große Herausforderung, vor der wir in Kirchen stehen, ist, noch einmal neu zu definieren, was Nächstenliebe heißt. Die Nächstenliebe muss in einer weltweiten Solidarität sein, aber dabei dürfen wir auch die Menschen hier vor Ort nicht aus dem Blick verlieren." Denn: "Die Gesellschaft hat ganz viele Risse und Spaltungen", sagt Thiel. Und: "Wir erleben, dass es an diesen Spaltungen ganz viel Empörung gibt und deshalb keine Fähigkeit mehr, miteinander ins Gespräch zu kommen. Das werden wir als Gesellschaft auf Dauer nicht aushalten." Weshalb sich auch die Evangelische Kirche für Lösungen einsetzt.

Wir erleben, dass es an diesen Spaltungen ganz viel Empörung gibt und deshalb keine Fähigkeit mehr, miteinander ins Gespräch zu kommen. Das werden wir als Gesellschaft auf Dauer nicht aushalten.

Tobias Thiel Evangelische Akademie

Wie können Menschen wieder miteinander reden?

In Zusammenarbeit mit der Diakonie will die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) mit der Initiative "#VerständigungsOrte" Menschen mit unterschiedlichen Meinungen zusammenbringen. Das dazugehörige Projekt in Sachsen-Anhalt heißt "Bubble Crasher", für das Thiel verantwortlich ist.

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"Dabei geht es darum, sich über die eigenen Filterblasen bewusst zu werden und andere kennenzulernen", erklärt der 51-Jährige. "Wir versuchen, neue Wege zu finden, wie Menschen mit unterschiedlichen Einstellungen miteinander reden können." In Kurz-Workshops oder Wochenendseminaren lernen die Teilnehmer, mit anderen Positionen umzugehen. "Jeder lebt in verschiedenen sozialen Räumen: der Schulklasse, dem Freundeskreis, der Familie, dem Sportverein", sagt Thiel. "In all diesen Bereichen gelten ganz andere Regeln. Ich spreche unterschiedlich, ziehe mich vielleicht auch anders an. Das ist etwas ganz Natürliches. Dafür ein Verständnis zu entwickeln, dass es ganz viele verschiedene Filterblasen gibt, hilft."

Gespräche mit Andersdenkenden: Drei Tipps vom Experten

Wie sollte man Gespräche mit Menschen mit unterschiedlichen, beispielsweise politischen Einstellungen angehen? Tobias Thiel vom Projekt "Bubble Crasher" gibt drei Tipps:

  1. "Es ist immer hilfreich, die eigenen Filterblasen zu kennen. Also zu wissen, wo ich unterwegs bin. Das hilft dabei, den anderen besser zu verstehen."
  2. "Es ist gut, wenn man sich Techniken überlegt, wie man dem anderen zuhören kann. Das Paraphrasieren ist eine Möglichkeit. Einfach dem anderen zuhören, das Gesagte wiederholen und weiter geduldig zuhören. Oder auch, gute Fragen zu stellen, also offene Fragen, die Ich-Botschaften der Frage zurückstellen."
  3. "Außerdem sollte man vorher die eigenen roten Linien und Grenzen kennen und überlegen, bis wohin man ein Gespräch ertragen kann. Bis dahin sollte man das Gespräch dann aushalten, aber an der Stelle dann auch abbrechen."

Manchmal eine "schmerzhafte Erfahrung"

Dabei überraschen die Erkenntnisse manchmal. Das weiß auch Annika Schreiter, die das Projekt "Bubble Crasher" in Thüringen betreut und in engem Austausch mit ihrem Kollegen in Sachsen-Anhalt steht: "Gerade für sehr engagierte Menschen, die häufig in einer aktivistischen Bubble unterwegs sind und davon ausgehen, dass sie doch so wahnsinnig weltoffen sind, ist es oft eine schmerzhafte Erfahrung, zu erkennen, dass diese Filterblase, in der sie sich bewegen, sich sehr offen gibt, aber eigentlich sehr homogen ist", sagt Schreiter. "Die Art und Weise, wie dort gesprochen wird, über welche Themen gesprochen wird, schließt doch einige Menschen aus."

Ziel sei es, dass die Teilnehmer sich der eigenen Perspektive bewusst werden. Und: "Sie sollten verstehen, dass das eben nur eine Perspektive ist und nicht die Wahrheit über die Welt", sagt Annika Schreiter, denn: "Es geht darum, die eigene Filterblase zu verlassen und andere kennenzulernen. Gar nicht, um da zu bleiben, sondern einfach, um sie zu verstehen. Im allerbesten Fall ändert man in der Bubble, die man besucht, auch etwas – und sei es nur dieses Gefühl zu ändern, dass einem eh keiner zuhört."

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Ähnliche Probleme, verschiedene Lösungen

Schreiter und Thiel schildern aus Erfahrung, dass häufig die gleichen Probleme beschrieben werden, gerade von Jugendlichen: "Die Infrastruktur ist marode, wir haben zu wenige Lehrerinnen und Lehrer, das sind Beispiele", sagt Annika Schreiter. "Aber die Schlussfolgerung daraus sind sehr unterschiedlich. So unterschiedlich, dass man sich nur noch anschreien kann. Da müssen wir es aber schaffen, ein vernünftiges Gespräch zu führen."

Und Probleme zu lösen. Denn Tobias Thiel sagt: "Die AfD wird deshalb stark, weil wir gesellschaftliche Probleme nicht lösen. Das merken wir auch bei unserem Projekt: Teilnehmende, die eine ganz andere Partei wählen, und solche, die die AfD wählen, haben ganz ähnliche Beschreibungen der Gesellschaft. Die Lösungen sind aber ganz verschieden. Darüber müssen wir im Gespräch bleiben, damit wir jedem Menschen gerecht werden und damit wir die Gesellschaft gemeinsam gestalten können."

Pierre Gehmlich 3 min
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Mo 03.06.2024 13:34Uhr 03:06 min

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In der Kneipe mit der Jungen Alternative

Thiel weiß, dass das Projekt "Bubble Crasher" vor allem junge Menschen aus dem evangelischen Kontext erreicht, wie er sagt. Sie sind eher "liberal und offen, andere Menschen kennenzulernen", so der 51-Jährige. Aber: "Im besten Fall verändert sich durch das Gespräch der Teilnehmenden mit anderen Menschen auch das Gegenüber."

Teilnehmer eines Workshops aus Wittenberg hätten danach beispielsweise das Gespräch mit Mitgliedern der Jungen Alternative, der Jugendorganisation der AfD, gesucht. "Ganz bewusst in einer Kneipe, ohne, dass jemand danach darüber irgendwas geschrieben hat", erzählt Tobias Thiel. "Sie haben das ganz privat gemacht und gesagt, dass sie die anderen einfach verstehen wollen. Ich weiß nicht, was bei dem Gegenüber dabei herausgekommen ist. Aber es ist auf jeden Fall gelungen, dass sie sich freundlich miteinander unterhalten und festgestellt haben: Viele unserer Probleme sind ähnlich." Vielleicht ein Anfang.

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MDR (Daniel George)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 16. März 2025 | 19:00 Uhr

171 Kommentare

der Steuerzahler vor 5 Wochen

Ich appelliere grundsätzlich an alle.

Es steht uns grundsätzlich immer besser ehrlich miteinander umzugehen (auch wenn das manchmal weh tut). Dann darf man aber eben auch nicht hinterher in Schnappatmung verfallen, weil einem das nicht gefällt, was der andere meint. Ehrliche Kritik an der jeweiligen Meinung muss man dann aber auch aushalten.

MiSt vor 5 Wochen

@Peter
Selbstverständlich bin ich daran interessiert, dass unsere Gesellschaft nicht weiter gespalten wird. Sind Sie auch gegen Hass, Hetze und Ausgrenzung anderer Meinungen?

DER Beobachter vor 5 Wochen

Naja, Maria, Sie haben offenbar gar nicht erkannt, dass sich die hiesigen AgD-AfTR-Anhänger eher als DDR-gelernte Atheisten mit gewohntem Bashing zur christlichen Nächstenliebe outen, also jenseits des eigenen Empfindens eben ganz ablehnend zur goldenen Regel "Behandle andere so, wie du behandelt werden willst" ...

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