Fachkräftemangel Bye bye Boomer: Land steht vor massiver Welle von Renteneintritten
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24. November 2024, 14:55 Uhr
In Sachsen-Anhalt sind fast 13 Prozent aller Beschäftigten über 60 Jahre alt. Nirgendwo sonst in Deutschland ist der Wert so hoch. Für die Unternehmen bedeutet das, dass sich die Personalnot in den kommenden Jahren weiter verschärfen wird. Wie die Wirtschaft gegensteuern kann.
- Sachsen-Anhalt ist bei bevorstehenden Renteneintritten bundesweiter negativer Spitzenreiter.
- Was das für Arbeitnehmer bedeutet und wie sich die Unternehmen im Wettbewerb um immer weniger Arbeitskräfte aufstellen müssen.
- So stellt sich die Firma Ost-Bau aus Osterburg bereits jetzt auf die sich weiter verschärfende Personalknappheit ein.
Große Baumaschinen wälzen sich durch Lüderitz im Landkreis Stendal und lassen die Wohnhäuser rechts und links der Straße zittern. Der heiße Asphalt bringt die nasskalte Novemberluft zum Flimmern. Rund um den Asphaltfertiger sorgen Bauarbeiter für das Feintuning am frischen Belag. Was auffällt: Die an Jahren schon reiferen Gesichter sind hier klar in der Überzahl.
"Glaube nicht, dass das bis 67 geht"
Andreas Rochow ist 60. Seit 1991 arbeitet er im Straßenbau und seit 2000 bei der Firma Ost-Bau aus Osterburg (Stendal). Auf der Baustelle sei er vor allem Springer, er fahre auch die Walze, er tue, was eben gerade anliege. Wie lange Rochow noch dabei bleiben kann, weiß er nicht. Eigentlich muss er noch sechs bis sieben Jahre arbeiten. "Aber das ist ein knallharter Job. Ich glaube nicht, dass das bis 67 geht. Ich mache jetzt schon 35 Jahre Asphalt, es reicht irgendwann." Über den Zeitpunkt, an dem es für ihn in Rente geht, müsse er mal mit dem Chef reden.
Der Chef, das ist Lars-Uwe Wimmer, einer von zwei Geschäftsführern der Ost-Bau GmbH, die Projekte im Bereich Hoch-, Tief- und Ingenieurbau stemmt. Anliegen wie das von Rochow beschäftigen Wimmer ziemlich häufig. Dass die geburtenstarken Jahrgänge jetzt nach und nach aus dem Berufsleben ausscheiden, stellt auch sein Unternehmen vor Herausforderungen. Von den knapp 600 Beschäftigten der Ost-Bau sind 102 im Ü60-Alter. "Wir haben einen Altersdurchschnitt von circa 50 Jahren. Das ist noch so im Schnitt der Branche", sagt er.
Verrentungen: Sachsen-Anhalt negativer Spitzenreiter
Tiefbau gehört in Sachsen-Anhalt schon jetzt zu den sogenannten Engpassberufen. Im Landkreis Stendal liegt der Ü60-Anteil in dieser Berufsgruppe bei 12 Prozent. Im Durchschnitt dauert es laut Arbeitsagentur 142 Tage, bis in der Berufsgruppe eine offene Stelle wieder besetzt werden kann. Die massenhaften Renteneintritte der sogenannten Boomer-Jahrgänge werden allerdings nicht nur den Tiefbau, sondern die gesamte Wirtschaft hart treffen.
Die anstehende Welle der Verrentung geburtenstarker Jahrgänge wird zu Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt führen, deren Folgen möglicherweise nur schwer beherrschbar sein werden.
Mit diesen Worten warnt das Institut für Wirtschaft (IW) aus Köln vor den demografischen Herausforderungen, die der Arbeitsmarkt in Deutschland und insbesondere auch in Sachsen-Anhalt in den kommenden Jahren zu bewältigen hat. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit waren im Jahr 2023 rund zehn Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten mindestens 60 Jahre alt. Und in Sachsen-Anhalt liegt der Anteil mit etwa 12,6 Prozent so hoch wie in keinem anderen Bundesland.
Am höchsten ist die Ü60-Quote in Sachsen-Anhalt bei Berufskraftfahrern, angestellten Lehrkräften und angestellten Ärztinnen und Ärzten.
In Stendal höchste Ü60-Quote
Besonders alt sind die Beschäftigten im Norden des Landes. Der Landkreis Stendal und der Altmarkkreis Salzwedel gehören deutschlandweit zu den Regionen mit den höchsten Ü60-Quoten innerhalb der arbeitenden Bevölkerung. Laut Aussage eines Sprechers der Agentur für Arbeit Sachsen-Anhalt-Nord hat die demografische Entwicklung schon heute Auswirkungen auf Arbeitgeber, Arbeitnehmer und die Gesellschaft – in Form eines Fach- und Arbeitskräftemangels.
Unternehmen werden – je nach Wirtschaftszweig –in den kommenden Jahren allerdings noch größere Schwierigkeiten bekommen, qualifizierte Arbeitskräfte zu finden. Betroffen sein werden laut Arbeitsagentur grundsätzlich alle Branchen. Zu Engpässen könne es jedoch insbesondere in Handwerk, Gesundheitswesen, in der Industrie sowie im Einzelhandel kommen.
In der Pflege wird es besonders eng
Teilweise zeichnen diese sich landesweit auch schon ab. Besonders gravierend zeigt sich der Fachkräftemangel aktuell im Gesundheits- und Pflegesektor. Das geht aus der "Engpassanalyse" der Bundesagentur für Arbeit hervor. Betrachtet wird dabei unter anderem die Zeit, die offene Stellen unbesetzt bleiben und die berufsspezifische Arbeitslosenquote.
Für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sieht die Agentur für Arbeit die Gefahr, dass durch den Mangel an Fachkräften die Arbeitsbelastung zunehmen könnte, insbesondere in der Pflege und im sozialen Sektor. Gleichzeitig könnten insbesondere junge Menschen und qualifizierte Fachkräfte mehr Verhandlungsmacht bekommen. Ihre Chancen auf gut bezahlte und sichere Positionen würden steigen.
Im Wettbewerb um immer weniger Menschen, die dem Arbeitsmarkt künftig noch zur Verfügung stehen werden, müssen sich laut Diana Nebe, Geschäftsführerin Operativ der Agentur für Arbeit Sachsen-Anhalt Nord, die Unternehmen bewegen. "Sie müssen ihre Attraktivität über gute Arbeitsbedingungen und faire Löhne erhöhen." Dazu zählen laut Arbeitsagentur auch flexible Arbeitszeitmodelle. Nebe empfiehlt überdies, die eigenen Mitarbeitenden weiterzuqualifizieren und deren weniger anspruchsvolle Positionen dann durch Helfer neu zu besetzen.
Renteneintritte: Automatisierung wird ein Schlüssel sein
Am demografischen Grundproblem ändern Rahmenbedingungen und Weiterbildungen freilich nichts: Es scheiden trotzdem weiter mehr Menschen aus dem Berufsleben aus, als neue nachkommen. Um die Lücke zu füllen, sei es erstens notwendig, Fachkräfte aus dem Ausland zu gewinnen, so Nebe. Und Unternehmen müssten zweitens noch mehr in Automatisierung und Digitalisierung investieren, um Prozesse effizienter zu gestalten und sich von menschlicher Arbeitskraft unabhängiger zu machen.
Beispielsweise im Straßenbau sind der Automatisierung jedoch Grenzen gesetzt. Zwar sei Baustellenarbeit natürlich Maschinenarbeit, doch auch Maschinen müssten bedient werden und es gebe viel händische Arbeit rechts und links, sagt Ost-Bau-Chef Lars-Uwe Wimmer.
Eine vollautomatische Baustelle könne er sich nicht vorstellen. "Jede Baustelle ist anders, man kann die nicht am Computer vorab programmieren. Jedes Projekt ist immer ein einzelnes Bauwerk und keine Serie, die wir herstellen. Deshalb brauchen wir immer Fachkräfte, die auf der Baustelle mitarbeiten."
Ost-Bau reagiert mit Marketingabteilung
Bei den Facharbeitern, die die schwere körperliche Arbeit auf den Baustellen leisten, wird die Verrentungswelle laut Wimmer in seiner Firma das größte Loch reißen. 15 bis 20 Beschäftigte aus dieser Gruppe gingen jedes Jahr in Rente oder in den Vorruhestand.
Auf der anderen Seite habe das Unternehmen in den vergangenen Jahren aber immer nur fünf bis sieben Azubis für den Bereich gewinnen können. "Da haben wir gesagt, das reicht nicht und jetzt kümmern wir uns."
Ost-Bau baute daher 2023 eine vierköpfige Marketingabteilung auf, die gezielt Auszubildende und Fachkräfte werben soll. Julia von Mandel leitet den Bereich und kann handfeste Erfolge vorweisen. Ihr Team konnte nach eigenen Angaben 2023 direkt 30 neue Auszubildende für die Bau- sowie die kaufmännischen Berufe im Unternehmen gewinnen, in diesem Jahr seien es ebenso viele gewesen. Die Abbrecherquote sei dabei gering. Von den Azubis, die im vergangenen Jahr ihre Ausbildung begannen, seien noch 27 an Bord, sagt von Mandel.
"Man muss auf allen Kanälen trommeln"
Um potenzielle Auszubildende gezielt anzusprechen, ist von Mandels Team viel an Haupt- und Sekundarschulen vor allem im Kreis Stendal und in Magdeburg sowie auf Jobmessen unterwegs. Die zweite wichtige Säule sei Social Media. "Den Bereich haben wir stark ausgebaut." Die Firma bespielt Facebook, Instagram und LinkedIn. "Wir haben aber auch einen WhatsApp-Kontakt für Bewerber eingerichtet, um halt wirklich den Zugang zu uns so einfach wie möglich zu gestalten."
Inhaltlich setzt Ost-Bau auf den digitalen Kanälen auf Emotion: Man stelle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor, blicke hinter die Kulissen der verschiedenen Arbeitsfelder und Baustellen. Auch in Lüderitz sammeln von Mandel und ihr Mitarbeiter Michael Schulz mit Smartphone und Kamera unentwegt Material für Social Media.
"Wir haben festgestellt, dass eine Annonce in der Zeitung schalten oder eine Anzeige bei der Jobagentur keine Reichweite bringt", erklärt Geschäftsführer Wimmer. Insbesondere die Sozialen Medien brächten dagegen viel neues Personal, viel Feedback, große Bekanntheit. "Es ist wichtig, dass man bekannt ist, man muss auf allen Kanälen trommeln."
Ausländische Arbeitskräfte unverzichtbar
Schon jetzt unverzichtbar für das Unternehmen sind Arbeitskräfte aus dem Ausland. Schlagworte wie "Remigration" sorgen bei Wimmer daher für Unverständnis. "Wir haben bei uns Polen, Ukrainer, Menschen aus verschiedenen afrikanischen Ländern – und wir brauchen die Leute einfach auch." Es gebe nicht genug Deutsche, die die Arbeit machen wollten. "Was da von rechten und linken Parteien gefordert wird, ist purer Populismus. Das ist fernab der Realität, wir brauchen Zuwanderung."
Auch die Agentur für Arbeit Sachsen-Anhalt-Nord geht davon aus, dass die Themen "Integration" und "Zuwanderung" weiter an gesellschaftlicher Bedeutung zunehmen werden. Um den demografischen Wandel abzufedern, sei Zuwanderung in Arbeit aus dem Ausland notwendig. Eine erfolgreiche Integration von Zuwanderern werde dabei aber entscheidend sein, um das wirtschaftliche und soziale Gleichgewicht zu bewahren.
Über die verwendeten Daten
Grundlage dieser Recherche sind Beschäftigtenzahlen der Bundesagentur für Arbeit, die das SWR Data Lab analysiert und u.a. auch dem MDR zur Verfügung gestellt hat. In der Beschäftigtenstatistik sind alle sozialversicherungspflichtig Beschäftigten enthalten. Diese werden auf Grundlage des Meldeverfahrens zur Sozialversicherung erfasst. Dazu gehören:
• Alle Arbeitnehmer, die kranken-, renten-, pflegeversicherungspflichtig und/oder beitragspflichtig nach dem Recht der Arbeitsförderung sind oder für die Beitragsanteile zur gesetzlichen Rentenversicherung oder nach dem Recht der Arbeitsförderung zu zahlen sind,
• Auszubildende,
• Altersteilzeitbeschäftigte,
• Praktikanten,
• Werkstudenten,
• Personen, die aus einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis zur Ableistung von gesetzlichen Dienstpflichten (z. B. Wehrübung) einberufen werden.
In den Daten nicht enthalten sind Beamte, Selbstständige, mithelfende Familienangehörige, Berufs- und Zeitsoldaten, sowie Wehr- und Zivildienstleistende. Die Zahlen spiegeln die Beschäftigtenzahlen nach Arbeitsort wider. Es geht also nicht um Beschäftigte, die beispielsweise in Magdeburg wohnen, sondern um die, die dort arbeiten.
MDR (Daniel Salpius, Manuel Mohr), zuerst veröffentlicht 22.11.2024
Dieses Thema im Programm: MDR um 2 | 21. November 2024 | 14:00 Uhr
Fan Achim vor 1 Wochen
Das ist gut für unser Land, wenn qualifizierte Menschen aus anderen Länder zu uns kommen und sich hier eine Zukunft aufbauen wollen. Die Kehrseite ist aber, daß eben diese Leute in ihren Heimatländern ausgebildet und bezahlt wurden und dort aber nun fehlen. Die Folgen solcher Abwanderungen sind bekannt. Nach der Wende sind jede Menge gut ausgebildete vor allen junge Menschen in die Alten Bundesländer abgewandert mit bekannten Folgen. Bis heute fehlen uns diese Leute hier.
C.T. vor 1 Wochen
"Jeder Mensch, der sich mit dem Prozess der Globalisierung beschäftigt, wird sehen, dass es Zusammenhänge gibt zwischen Wohlstand und der Geburtenrate."
... Afrika ist das beste Beispiel dafür, dass das Verhältnis von Geburtenrate und Wohlstand auch umgekehrt proportional sein kann :-)
... Dieser unsinnige Generationenpakt ist das Problem. Ohne den bräuchten wir keine "Geburtenrate". Einfach jetzt einen Cut machen und jeder sorgt zukünftig mit seinem eigenen Einkommen eigenverantwortlich für seine eigene Rente. Und bestehende Rentenansprüche können übergangsweise problemlos weiter ausgezahlt werden wenn wir unser Steuergeld nicht mehr in die ganze Welt verschenken würden...
von Manger vor 1 Wochen
Kann es sein, dass die beschriebene Märchenwelt genau die Ihre ist?
Lesen - sogar von dicken Überschriften kann helfen: "Glaube nicht, dass das bis 67 geht"
Oder Sie sind so nett, mir kurz zu erklären wie Sie den 80 jährigen an einer Teermaschine beschäftigen möchten?
Fürchterlich, echt schäbig...