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Isabell Weise (links) und Nina Conzen aus Halle engagieren sich im Verein Mother Hood für die Rechte von Frauen und Familien. Bildrechte: MDR/Luise Kotulla

GeburtshilfeWarum es wichtig ist, dass Frauen gute Geburten erleben

19. Juni 2022, 16:59 Uhr

Nina Conzen hat zwei Söhne. Die Geburt des ersten erlebte sie als traumatisierend, die des zweiten als heilsam. Den Unterschied machte, wie sich die Hebammen verhielten – beim zweiten Kind genau so, wie es in einer neuen Leitlinie zur Geburt empfohlen wird. Darin steht das Geburtserlebnis der Familie im Mittelpunkt. Im Interview erzählen Nina Conzen und die Leiterin einer Kaiserschnitt-Selbsthilfegruppe von den Folgen einer belastenden Geburt – und was ihnen an der Leitlinie gefällt.

  • Isabell Weise und Nina Conzen aus Halle setzen sind im Verein Mother Hood für Frauen und Familien ein. Sie erklären, was sie an einer neuen Geburten-Leitline schätzen.
  • Nina Conzen erzählt, wie traumatisch die Geburt ihres ersten Kinds war, bei der es die Leitlinie noch nicht gab.
  • Die Leitlinie hätte Nina Conzen mehr Sicherheit gegeben, ihre Rechte bei der Geburt einzufordern, sagt sie. Bei der Geburt ihres zweiten Kinds gab es die Leitlinie – und die Geburtserfahrung nennt Conzen "heilsam".

MDR SACHSEN-ANHALT: Wenn eine Frau ein schlimmes Geburtserlebnis hatte – was genau ist daran das Problem? Man könnte doch denken: Solange das Baby gesund ist, ist alles okay?

Isabell Weise, Leiterin Kaiserschnitt-Selbsthilfegruppe in Halle: Was ich in der Kaiserschnitt-Selbsthilfegruppe so häufig erlebe, ist, dass die Frauen unter einem verringerten Selbstwertgefühl leiden und an sich zweifeln, warum sie das denn nicht geschafft haben [Anm. d. Red: eine natürliche Geburt]. Viele Frauen haben das Vertrauen in sich und den eigenen Körper verloren oder es ist stark gemindert. Das liegt auch an der Erwartungshaltung. Man denkt, man ist gut vorbereitet, geht in die Geburt, und plötzlich ist alles anders.

Zur Person: Isabell Weise

Isabell Weise ist 29 Jahre alt und hat zwei kleine Töchter. Sie studiert Psychologie und lebt seit rund zehn Jahren in Halle. Sie ist Ende 2018 dem Mother Hood e.V. beigetreten. Zusätzlich leitet sie eine Kaiserschnitt-Selbsthilfegruppe im Familienzentrum im Paulusviertel.

Manche haben auch Probleme, eine gute Bindung zu ihrem Baby aufzubauen. Oder es dauert länger, als sie sich das gewünscht hätten. Manche haben Schwierigkeiten mit ihren Bezugspersonen, mit dem Partner zum Beispiel, weil der sie nicht so auffangen kann, wie sie es sich gewünscht hätten und wie sie es bräuchten. Und dann kommt es auch vor, dass Frauen eine posttraumatische Belastungsstörung bekommen. Etwa 20 Prozent aller Frauen beschreiben ihre Geburt als traumatisch. Das finde ich ganz schön viel. Und ungefähr drei Prozent aller Frauen entwickeln eine posttraumatische Belastungsstörung.

Nina Conzen, 2. Vorsitzende des Vereins Mother Hood: Die Probleme hat man gleichzeitig mit einem kleinen Baby. Es ist unglaublich herausfordernd, den Alltag mit Baby und zusätzlich psychischen Problemen zu meistern. Das führt zu riesigen Schwierigkeiten im Familienalltag.

Zur Person: Nina Conzen

Nina ist 35 Jahre alt, ihre beiden Söhne sind ein und drei Jahre alt. Wenige Monate nach der Geburt ihres ersten Kindes kam sie zum Verein Mother Hood. Mittlerweile ist sie 2. Vorsitzende des Vereins in Sachsen-Anhalt. Sie hat als Modedesignerin gearbeitet, jetzt studiert sie Grundschullehramt mit Schwerpunkt Gestalten.

Der Verein Mother Hood hat auch ein Leitmotto, was ich total wichtig finde. Nämlich: "Es ist nicht egal, wie wir geboren werden und eben auch nicht, wie wir gebären." Denn wenn das Leben schon so losgeht, dass die Mutter nicht die Kapazitäten hat, um für das Baby da zu sein, weil sie erst einmal diese traumatische Erfahrung verarbeiten muss, dann kann man sich vorstellen, dass das Baby das eben auch spürt. Und so können langfristige Folgeschäden entstehen.

Der Mother Hood e.V. möchte Frauen und Familien informieren – und die Geburtshilfe verbessern. Bildrechte: MDR/Luise Kotulla

Mother Hood e.V.Der Verein Mother Hood (deutsch: Mutterschaft) setzt sich für sichere Geburten sowie die Rechte von Frauen und Familien ein — und strebt eine Verbesserung der Geburtshilfe in ganz Deutschland an.

Deutschlandweit hat der Mother Hood e.V. mehr als 1.500 Mitglieder. Menschen, die ein schlimmes Geburtserlebnis hatten, bekommen dort Hilfe. Das gilt auch für Väter, die eine Geburt begleitet haben. Die Vereinsarbeit hat die Schwerpunkte Information, Hilfe und politische Arbeit.

In Sachsen-Anhalt gibt es in Halle und Magdeburg zwei Regionalgruppen. Die sieben Frauen der halleschen Regionalgruppe treffen sich einmal im Monat im IRIS Familienzentrum im Paulusviertel. Sie alle sind Mütter. Vor der Coronapandemie hatten sie unter anderem einen Filmabend mit anschließender Podiumsdiskussion organisiert. Wer Fragen zur neuen Leitlinie hat, kann sich auch an den Verein wenden.

Mittlerweile gibt es eine neue Leitlinie für Geburten. Was findet ihr an der Leitlinie wichtig?

Isabell Weise: Wir finden sie wichtig, weil endlich die Frau in den Mittelpunkt gestellt wird und das Wohlergehen der Frau zentral in dieser Leitlinie ist. An vielen Stellen dieser Leitlinie kann man sehen, dass die Frau mit einbezogen werden soll, die Frau beraten werden soll. Denn Kommunikation ist so wichtig. Wenn sie fehlt, kann es für die Frauen ganz schwer werden.

Der Fokus ist eben nicht mehr, dass ein gesundes Kind zur Welt kommt und dass die Frau körperlich gesund bleibt, sondern auch, dass das Geburtserleben für Frau und Kind positiv ist. So wird deutlich: Wie die Frau die Geburt erlebt, kann Auswirkungen auf ihr Leben und das Leben ihres Kindes und ihrer Familie haben.

Isabell Weise | Leiterin einer Kaiserschnitt-Selbsthilfegruppe

Und auch, wenn eine Geburt nicht als traumatisch erlebt wird, kann man trotzdem rückblickend traurig sein, wie mit einem umgegangen wurde. Gute Kommunikation vermittelt Sicherheit. Das ist eine Voraussetzung dafür, dass eine Geburt gut gelingen kann und als positiv erlebt wird.

Nina Conzen: Durch diese S3-Leitlinie werden jetzt auch Dinge genannt, die ein wissenschaftliches Fundament haben. Zum Beispiel, dass man als Geburtshelferin alles tun soll, was das Wohlergehen der Gebärenden steigert. Das kann bedeuten, dass sie Yoga macht, dass sie meditiert, dass sie sich eine Massage wünscht, dass sie etwas zu trinken bekommt. All diese Sachen, bei denen man vorher gesagt hat: "Das ist 'nice to have', aber alles irgendwie nur Schnickschnack." Das wird jetzt wissenschaftlich unterlegt und bekommt damit Wertigkeit. Denn diese Dinge haben eine Auswirkung darauf, wie das Geburtserleben ist.

Was habt ihr im Verein Mother Hood für Erfahrungen, wird sich schon überall an die Leitlinie gehalten?

Isabell Weise: Ich habe mit einer Hebamme Rücksprache gehalten, und sie sagte, dass es teilweise schon umgesetzt wird. Aber dass es ein langer Weg ist, bis alle Kollegen und Kolleginnen das umsetzen. Schließlich wurde es jahrzehntelang anders gemacht — und dann wird es nicht mit einem neuen Papier verändert. Aber diejenigen, die etwas verändern wollen, die haben jetzt mehr Möglichkeiten, sich durchzusetzen und zu argumentieren, warum das wichtig ist.

Nina Conzen: Und manche Dinge sind auch, glaube ich, nicht so einfach zu machen, wie wir uns das wünschen, wie zum Beispiel der Wegfall vom Dauer-CTG. Denn was macht eine Hebamme, wenn sie allein auf Station ist, und mehrere Gebärende gleichzeitig betreuen muss?

Es sind noch andere Faktoren, die sich in der Geburtshilfe verändern müssen: eine bessere Ausstattung mit Personal beispielsweise. Deshalb sind es alles gute Punkte und es geht in die richtige Richtung. Aber es muss eben auch noch an anderen Stellschrauben gedreht werden, damit das Realität wird.

Warum war deine erste Geburt so schlimm für dich, Nina?

Achtung: Die folgenden Antworten können für Schwangere oder Mütter mit schwierigen Geburtserfahrungen verstörend sein.

Nina Conzen: Ich habe 2018 meine erste Geburtserfahrung in Halle gemacht und die ist sehr fremdbestimmt vonstatten gegangen. Ich bin mit einer ganz anderen Erwartung in die Klinik gegangen. Und eine einzige Person in diesem Geburtssetting hat ihre Macht, die sie in diesem Moment hatte, mir gegenüber missbraucht.

Durch Einleitung gingen die Wehen los. Die wurden dann sogar noch verstärkt mit einem Wehentropf, weil sie in dem Moment nicht stark genug waren. Und diese harten Wehen, die dann durch mich durchgeprescht sind, haben dazu geführt, dass der Kopf meines Kindes permanent gegen meine Beckenknochen gedonnert wurde. Der Kopf hatte noch viel zu weit über dem Beckeneingang geschwebt. Und das war einfach ein Knochenschmerz, der nichts mit einem Wehenschmerz zu tun hatte, sondern das war jedesmal ein Gefühl von "mein Becken zerreißt". Und das sind Schmerzen, die will man sich nicht vorstellen. Für mich war das ganz deutlich zu unterscheiden von einem Wehenschmerz.

Die Geburtshelferin wollte leider überhaupt nicht sehen, was los ist. Sie hat mir quasi abgesprochen, dass meine Empfindungen stimmen. Ich wusste aber, dass sich das nicht so anfühlt, als ob die Geburt voranschreitet. Sie hat mir dann noch diesen Satz reingedrückt: "Ja, Kindchen. Eine Geburt ist halt kein Zuckerschlecken, da müssen wir jetzt durch." Und dann hat sie uns [Anm. d. Red: Nina und ihren Partner] einfach alleine im Kreißsaal gelassen und kam gefühlt über Stunden nicht wieder.

Ich habe noch ein schmerzlinderndes Mittel bekommen, wo ich nicht ausreichend darüber aufgeklärt wurde, wo mir nur gesagt wurde: "Das hilft Ihnen jetzt, ein bisschen zur Ruhe zu kommen." Und ich dachte, immer her damit. Dann musste ich mich ab diesem Zeitpunkt aber permanent übergeben. Hinterher wurde mir gesagt, dass das eine Nebenwirkung von diesem Medikament sein kann. Aber da war es zu spät. Ich habe durch das Übergeben unglaublich viel Kraft verloren.

Von wem wurde dir dann doch geholfen?

Nina Conzen: Ich habe nur noch abgewartet, bis die Schicht gewechselt hat. Die nächste Hebamme war toll. Sie war empathisch, hat auch schnell verstanden, was bei mir los ist und wie sie mich wieder etwas zurückholen kann, psychisch.

Es war aber einfach zu spät. Schlussendlich hat das zum Kaiserschnitt geführt. Ich war mit dieser Entscheidung in dem Moment sogar sehr glücklich, weil es das erste Mal war, dass ich nach 24 Stunden mal nach meinen Bedürfnissen gefragt wurde — was auch krass ist, dass das in der Zeit davor nicht passiert ist.

Wie ging es dir und deinem Baby danach?

Nina Conzens neugeborener Sohn musste auf der Neonatologie überwacht werden. (Symbolbild) Bildrechte: MDR/Grit Hasselmann

Nina Conzen: Ich war in der ersten Lebenswoche unseres Babys kaum ansprechbar. Ich war noch so fertig von dieser Geburt. Und es hatte auch medizinische Folgen. Unser Kind musste noch eine Woche lang auf der Kinderstation überwacht werden, weil die Entzündungswerte so hoch waren — weil es so viel Stress hatte unter der Geburt. Ich hatte Fieber, mein Kind hatte Fieber. Das wäre vermeidbar gewesen, wenn es eine bessere Geburtsbegleitung gegeben hätte.

Wäre das mit der Leitlinie anders gewesen?

Nina Conzen: Ob die Leitlinie das hätte verändern können, weiß ich nicht. Es hing so viel von dieser einzelnen Person ab. Was aber ein wichtiger Punkt ist: Ich hätte nach dieser Geburtserfahrung mit der Leitlinie im Gepäck eine bessere Grundlage gehabt, um genau zu benennen: Das und das hätte nicht passieren dürfen, warum habt ihr nicht danach gehandelt.

Isabell, hätte die Leitlinie die Geburten aus deiner Selbsthilfegruppe verändern können?

Isabell Weise: Der große Vorteil mit der Leitlinie ist, dass die Frauen während der Geburt etwas haben, woran sie sich festhalten können, wo sie nachfragen können: "Warum wird das gerade mit mir gemacht? Begründen Sie mir bitte, warum Sie sich gerade nicht an die Leitlinie halten." Ich glaube, das kann Sicherheit geben, um Mut zu haben, während der Geburt zu sagen: "Ich verstehe gerade nicht, was mit mir passiert. Ich möchte, dass es mir erklärt wird."

Um das Gespräch positiv abzuschließen: Warum hast du deine zweite Geburt als heilsam empfunden, Nina?

Nina Conzen während ihrer zweiten Schwangerschaft. Bildrechte: Nina Conzen

Nina Conzen: Als mein zweiter Sohn geboren wurde, war die Leitlinie seit fünf Monaten draußen. Meine beiden Hebammen hatten schon vor dem Erscheinen der Leitlinie in diesem Sinne gehandelt. Sie hatten schon immer das richtige Verständnis von ihrem Beruf. Sie betrachten die Frau, die gebärt, als absolute Expertin, auf die sich alles zentrieren muss. Und dass sie dafür da sind, diese Person bestmöglich zu unterstützen — und nicht, dass sie übergriffig werden.

Das Tolle war, dass ich das bekommen habe, was ich gebraucht habe: Unterstützung, ein Mitfühlen und gleichzeitig eine Situations-Überwachung. Ich habe mich sehr sicher gefühlt. Die Hebamme hat in kurzen Abständen den Herzschlag meines Babys überprüft und hat mir immer wieder gesagt: "Es ist alles okay. Dem Baby geht es super. Der Herzschlag ist ganz entspannt."

Ich werde niemals etwas Intensiveres erleben als die Geburt meiner Kinder – mein Partner genauso. Und ich finde, dass jede werdende Mutter, jeder werdende Vater, des Recht darauf hat, dass diese Erfahrung gut wird und positiv verarbeitet werden kann.

Nina Conzen | zweifache Mutter

Nina Conzen mit ihrem Mann und den beiden Kindern. Bildrechte: Nina Conzen
Bildrechte: Alexander Kühne

Über die AutorinLuise Kotulla arbeitet seit 2016 als freie Mitarbeiterin bei MDR SACHSEN-ANHALT. Schwerpunkte der gebürtigen Hallenserin sind Themen aus dem Süden Sachsen-Anhalts, rund um engagierte Menschen und Probleme vor Ort. Außerdem ist sie für MDR um 4 als Fernsehredakteurin unterwegs.

Bevor sie zum MDR kam, hat sie beim Stadtfernsehen TV Halle gearbeitet. Sie studierte Geschichte, Medienwissenschaft und Online-Journalismus in Halle und Großbritannien. Ihre Lieblingsorte in Sachsen-Anhalt liegen in und um Halle, im Burgenlandkreis und im Harz.

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MDR (Luise Kotulla)

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 19. Juni 2022 | 19:00 Uhr

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