KriminalstatistikKörperverletzung, Sexualstraftaten, Bedrohung: So viel Gewalt gibt es an Schulen
Die Gewaltvorfälle an Schulen nehmen zu. Vergangenes Jahr zählte das Landeskriminalamt Sachsen-Anhalt rund 1.200 Fälle und damit deutlich mehr als vor der Pandemie. In Thüringen und Sachsen sieht es ähnlich aus. Woran das liegt und was man bei Vorfällen tun kann.
- Die Zahl der Körperverletzungen, Bedrohungen, Nötigungen und Sexualstraftaten an Schulen ist etwa ein Drittel höher als vor der Pandemie.
- Als die Schulen schlossen, hatten Kinder "kaum Möglichkeiten, ihre Sozialkompetenz zu trainieren", sagt eine Expertin.
- Gewalt an Schulen geht nicht immer nur von Schülern aus – auch Erwachsene sind beteiligt.
- Der Anteil der Tatverdächtigen ohne deutschen Pass ist überproportional hoch. Dafür gibt es mehrere Gründe.
Eigentlich sollten Schulen Orte sein, an denen Kinder und Jugendliche sich besonders sicher fühlen. Eine Auswertung des Landeskriminalamts Sachsen-Anhalt, die dem MDR vorliegt, zeigt jedoch, dass es immer häufiger zu Körperverletzungen, Bedrohungen, Nötigungen und Sexualstraftaten kommt. Vergangenes Jahr registrierte das Landeskriminalamt 1.203 solcher sogenannten Opferdelikte an Schulen – etwa ein Drittel mehr als 2019 und 70 Prozent mehr als 2014.
Großer Bedarf an Schulpsychologen
Carola Wilhayn leitet das Referat für Schulpsychologie am Landesschulamt Sachsen-Anhalt. "Ich würde nicht sagen, dass der Schutzraum Schule in Gefahr ist", sagt Wilhayn. "Aber er ist ein hohes und wichtiges Gut und wir müssen mit vereinten Kräften dafür sorgen, dass er intakt bleibt."
Wenn Schülerinnen, Lehrer oder Schulleitungen Unterstützung brauchen, bitten sie oft Wilhayns Referat um Unterstützung. Die Schulpsychologinnen und Schulpsychologen bieten Präventionsmaßnahmen und psychologische Beratungsgespräche an, sie unterstützen alle Schülerinnen und Schüler. An den Schulen gebe es viel Bedarf dafür, sagt Wilhayn.
Die Kinder hatten kaum Möglichkeiten, ihre Sozialkompetenz zu trainieren
Carola Wilhayn, Landesschulamt Sachsen-Anhalt
Dass die Gewalt an Schulen gestiegen sei, liege an verschiedenen Ereignissen der vergangenen Jahre, unter anderem an der Pandemie. Als die Schulen schlossen, waren viele Kinder plötzlich zuhause – ohne Kontakte zu Gleichaltrigen, die für die psychosoziale Entwicklung aber erforderlich seien, sagt Wilhayn. Wichtige Entwicklungsschritte wie das gewaltfreie Aushandeln von Konflikten seien damals unterbrochen worden. "Die Kinder hatten kaum Möglichkeiten, ihre Sozialkompetenz zu trainieren."
Der Pandemie folgten weitere gesellschaftliche Krisen wie die Klimakrise sowie die Kriege in der Ukraine und im Gazastreifen. "Das kann Ängste und existenzielle Sorgen bei den Kindern und Jugendlichen erzeugen", sagt Wilhayn. Hinzu kam der Personalmangel an Schulen. All das habe die angespannte Situation noch verstärkt.
Vorfälle, die früher von Eltern, Lehrkräften oder Schulsozialarbeitern abgefedert werden konnten, würden heute schneller zu einer Überlastung führen – und womöglich auch eher zu einer Anzeige, vermutet Wilhayn. Auch das könne zum Anstieg der Fallzahlen beitragen.
Gewalt an Schulen überall in Deutschland gestiegen
Kriminalstatistiken aus anderen Bundesländern zeigen, dass die Gewalt an Schulen nicht nur in Sachsen-Anhalt zugenommen hat. Auch in Thüringen und Sachsen registrierten die Landeskriminalämter nach der Pandemie rund ein Drittel mehr Körperverletzungen, Nötigungen, Bedrohungen und Sexualstraftaten an Schulen als zuvor.
Da die Erhebungsmethoden sich unterscheiden, ist ein Vergleich der Fallzahlen zwischen den Bundesländern nicht aussagekräftig. Aber klar ist: Die Zahl der Gewaltvorfälle an Schulen ist in Deutschland deutlich gestiegen. Das bestätigt auch eine Recherche der Neuen Osnabrücker Zeitung.
Über die polizeilich registrierten Straftaten hinaus dürfte es eine hohe Dunkelziffer an Fällen geben; auch Mobbing als am stärksten verbreitete Gewaltform an Schulen wird von den Statistiken nicht erfasst.
Die Gewalt steigt, die Jugend rastet aus: Das ist eine falsche Darstellung
Nico Noltemeyer, Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung
Laut einer repräsentativen Umfrage im Auftrag der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung hat mehr als die Hälfte der Lehrkräfte an allgemeinbildenden Schulen den Eindruck, dass psychische Gewalt und Formen des Mobbings unter Schülerinnen und Schülern nach der Pandemie zugenommen haben. Vier von zehn Lehrkräften waren demnach im vergangenen Schuljahr mindestens einmal pro Woche persönlich mit psychischer Gewalt unter Schülerinnen und Schülern befasst, drei von zehn mit körperlicher Gewalt.
Die Gewalt steigt, die Jugend rastet aus – das sei trotzdem eine falsche Darstellung, sagt Nico Noltemeyer, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung in Bielefeld. Zum einen gab es während der Pandemie erwiesenermaßen mehr häusliche Gewalt als zuvor. Diese Gewalt sei zum Teil aus den Familien in die Schulen geschwappt. Zum anderen "wissen wir, dass viel Gewalt an Schulen von Erwachsenen ausgeht", sagt Noltemeyer.
Die Kriminalstatistik aus Sachsen-Anhalt enthält Zahlen dazu. Fast die Hälfte der polizeilich registrierten Opferdelikte wurde demnach von Kindern unter 14 Jahren verübt. In etwa 40 Prozent der Fälle waren Jugendliche die Tatverdächtigen. Und in zwölf Prozent der Fälle waren die Tatverdächtigen älter als 21 Jahre. Der Großteil der Gewalt an Schulen wird also von Schülerinnen und Schülern verübt, aber auch Erwachsene sind beteiligt.
Außerdem sind die Delikte nach der Herkunft der Tatverdächtigen aufgeschlüsselt. Vergangenes Jahr lag der Anteil der Schülerinnen und Schüler ohne deutschen Pass in Sachsen-Anhalt bei zehn Prozent, ihr Anteil an den Tatverdächtigen lag bei 22 Prozent. Ausländerinnen und Ausländer sind also vergleichsweise häufig in Gewaltvorfälle verwickelt.
Dafür gibt es mehrere Erklärungsansätze. So geht ein Großteil der Gewalt an Schulen von Jungen und jungen Männern aus. Deren Anteil ist unter den zugewanderten Minderjährigen überproportional hoch. Oft stammen die ausländischen Schüler aus sozial benachteiligten Familien oder haben in ihren Herkunftsländern traumatische Erfahrungen gemacht – zwei weitere Faktoren, die die Wahrscheinlichkeit von Gewalt erhöhen können.
Und schließlich sprechen viele ausländische Schülerinnen und Schüler kein gutes Deutsch. "Wenn man Konflikte nicht mit Sprache austragen kann, ist man schneller bei nonverbalen Mitteln wie Gewalt", sagt Wilhayn vom schulpsychologischen Referat des Landesschulamts Sachsen-Anhalt.
In Wilhayns Referat arbeiten 29 Schulpsychologinnen und Schulpsychologen. Wegen des gestiegenen Bedarfs sucht das Landesschulamt zurzeit nach zusätzlichem Personal. In Sachsen-Anhalt ist die Versorgung nach Angaben des Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen unter allen Bundesländern am schlechtesten. Jede schulpsychologische Vollzeitkraft ist demnach im Schnitt für 9.670 Schülerinnen und Schüler und 576 Lehrkräfte zuständig. In Thüringen und Sachsen ist das Verhältnis mit etwa 5.000 Schülern und 300 Lehrkräften je schulpsychologischer Vollzeitkraft deutlich besser.
Landesschulamt: 336 Hilferufe wegen Gewalt oder Androhung von Gewalt
Um Gewalt an Schulen vorzubeugen, braucht es allerdings nicht nur Schulpsychologen, sondern auch Schulsozialarbeiter, Streitschlichter, Präventionsmaßnahmen und nicht zuletzt auch Handlungsleitfäden für Betroffene: Was können Lehrkräfte, Schulleitungen, Eltern und Schüler tun, wenn es zu Gewalt kommt? An wen können sie sich wenden?
Schulpsychologische Ansprechpartner in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen
- In Sachsen-Anhalt können Betroffene sich an das Schulpsychologische Beratungsangebot des Landesschulamts wenden.
- In Thüringen ist der Schulpsychologische Dienst zuständig.
- In Sachsen gibt es die schulpsychologische Beratung des Landesamtes für Schule und Bildung.
Beim Landesschulamt Sachsen-Anhalt sind vergangenes Jahr 336 Meldungen wegen sogenannter Besonderer Vorkommnisse eingegangen: 336 Hilferufe wegen Gewalt oder Androhung von Gewalt. Wenn Wilhayn oder eine ihrer Kolleginnen nach einem solchen Vorfall an eine Schule gerufen werden, geht es neben der Aufarbeitung des Ereignisses oft um die Frage, wie die Täter aus ihren Fehlern lernen und das zugefügte Leid wiedergutmachen können.
Ein mögliches Mittel: eine freiwillige Entschuldigung vor versammelter Klasse. "Sich aufrichtig und auch vor anderen entschuldigen zu wollen, kann am Ende der Auseinandersetzung mit der Tat stehen", sagt Wilhayn. "Das ist dann ein positiver und meist auch nachhaltiger Lerneffekt." So können Kinder und Jugendliche Verantwortung für ihr Handeln übernehmen – und es beim nächsten Konflikt vielleicht nicht mit Gewalt versuchen, sondern mit Worten.
MDR (Alicia Müller, David Wünschel)
Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 04. Oktober 2024 | 12:00 Uhr
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