Ursachen und LösungenWarum Jugendliche gewalttätig werden
Wie kann man gegen Gewalt unter Jugendlichen vorgehen? Nachdem vor allem in Halle immer öfter Jugendliche andere Jugendliche überfallen, diskutieren Expertinnen und Experten Lösungen – etwa härtere Strafen. Als mögliche Ursachen werden Machtdemonstration, Männlichkeitsbilder und die Corona-Pandemie diskutiert.
- Für Kinder- und Jugendrechtsprofessorin Theresia Höynck sind Freiheitstrafen das letzte Mittel der Wahl.
- Ursachen für jugendliche Gewalt sieht die Polizei unter anderem in Machtdemonstration und für den materiellen Vorteil.
- Für mehr Sicherheit für Jugendliche wird unter anderem über Beratungsangebote und ein neues Sicherheitskonzept diskutiert.
Nach den Gewalttaten aus der Silvesternacht und den zunehmenden Angriffen von Jugendlichen auf Gleichaltrige zum Beispiel in Halle, stellt sich die Frage, ob die derzeitigen Maßnahmen gegen Jugendgewalt ausreichen oder ob es härtere Strafen braucht. Eine Frage, die am Montagabend in der Talkrunde FAKT IST! diskutiert wurde.
Der Sozialarbeiter Tim Marx sagte, Täter würden immer jünger und gewalttätiger: "Es wird berichtet, dass 14-jährige Kinder den Unterarm eines anderen Mitschülers mit einem Kantholz durchschlagen, um zu schauen, wie das ist, wie sich das anfühlt". Marx bietet Anti-Gewalt-Trainings an. Seiner Meinung nach werden Täter zu spät gebremst. Sie würden Allmachtsphantasien entwickeln: "Also sie denken: Mir kann keiner was, mir passiert ja nichts, es gibt keine Konsequenz", so Marx.
Freiheitsentzug vs. Resozialisierung
Theresia Höynck ist Jugendrechtsexpertin und erklärt: "In einem Rechtsstaat muss Freiheitsentzug die absolut letzte Lösung sein." Laut der Professorin führen freiheitsentziehende Maßnahmen dazu, dass Betreffende sozial ausgegrenzt werden – auch nach dem Freiheitsentzug. Das habe nicht nur gravierende Auswirkungen auf die Biografie der Betreffenden, sondern könne auch dazu führen, dass diese wieder straffällig werden.
Polizei: Jugendkriminalität auf gleichbleibendem Niveau
Mario Schwan, Landespolizeidirektor Sachsen-Anhalt, sagt, dass die Jugendkriminalität in den letzten Jahren in Sachsen-Anhalt eigentlich immer auf einem Niveau geblieben sei. Aber: "Wir haben im letzten Jahr tatsächlich festgestellt, dass es Anfang des Jahres zu einer starken Zunahme an Raubstraftaten und Körperverletzungsdelikten in Halle gekommen ist."
Daraufhin sei eine extra Ermittlungsgruppe gegründet worden, die mehr als 400 Verfahren bearbeite. Die Straftaten "sind zum Teil gemacht worden, aus Gründen der Machtdemonstration und tatsächlich spielen auch materielle Dinge eine Rolle – denn wenn ein Raub stattfindet, geht es ja darum, dass etwas geraubt wird, zum Beispiel Bargeld oder Markenklamotten." Das Geld, beziehungsweise die verkauften, geraubten Gegenstände, würden teilweise auch genutzt, um Rauschmittel zu kaufen.
Theresia Höynck betont, dass auch die Corona-Pandemie dazu geführt habe, dass gerade diese Altersgruppe so kriminell sei, da sie in den drei Jahren Corona nicht feiern, auf die Straße gehen konnten und jetzt draußen erst richtig aktiv würden.
Auch Männlichkeitsbilder spielen eine Rolle: Vor allem männliche Jugendliche werden aggressiv und gewalttätig. Max Lindner, Leiter der Beratungsstelle "ProMann" aus Magdeburg, macht Präventionsarbeit an Schulen. Männliche Schüler fragen ihn demnach: "Was hätte ich denn sonst tun sollen, statt zuzuschlagen? Und wieso habe ich das gemacht?" Sie würden nach Lösungen suchen, um sich alternativ ausdrücken zu können. Dabei dürfe man sie nicht alleine lassen.
Mögliche Lösungen: CDU-Landtagsabgeordnete sieht Eltern in der Pflicht
"Gerade die, die 'besonders hart' sind und sich an Stärke, Gewalt und Männlichkeit orientieren, reagieren mit weiterer Gewalt", so Höynck. Gewalt erzeuge Gegengewalt.
Die Stadt Halle prüft derzeit, ob der Jugendgewalt mit einem sogenannten "Haus des Jugendrechts" begegnet werden kann. In einer entsprechenden Einrichtung befinden sich staatliche Träger wie Jugendgerichtshilfe, Polizei und Staatsanwaltschaft und zum Teil auch soziale Verbände. Ziel ist es, Jugendkriminalität besser vorzubeugen und bei Vorfällen stärker zusammenzuarbeiten.
Die CDU-Landtagsabgeordnete Kerstin Godenrath aus Halle sieht nicht zwangsweise den Staat als einzigen Verantwortlichen. Viel eher sehe sie die Eltern in der Pflicht, ihren Kinder Werte wie Respekt, Lebensfreude und Hoffnung beizubringen, sagte sie MDR SACHSEN-ANHALT. "Die Kinder sind die Erwachsenen von morgen und formen die Gesellschaft", so Godenrath, die auch Landesvorsitzende des Weißen Rings ist, der Gewaltopfer unterstützt.
Mehr Sicherheit für Jugendliche
Simone Hetsch von der Arbeiterwohlfahrt (AWO) forderte bereits im Oktober vergangenen Jahres, dass Beratungsangebote für Jugendliche, die von Gewalt betroffen sind, einfacher zugänglich gemacht werden sollten.
Zusätzlich hatte die Vorsitzende der Halleschen Jugendwerkstatt, Anna Manser, bereits im Oktober darauf hingewiesen, dass auch die Stadt Halle in der Verantwortung stehe. Ihrer Meinung nach ist es wichtig, offen über das Thema Jugendgewalt zu sprechen und gemeinsam zum Beispiel bei Gesprächsabenden im Stadthaus nach Lösungen zu suchen. Auch Godenrath fordert ein Forum mit Streetworkern, Jugendverbänden, der Jugendgerichtshilfe und dem Ausländerbeirat der Stadt.
Wenn wir möchten, dass junge Menschen sich positiv entwickeln können, dann müssen wir ihnen unbedingt mit etwas Kredit begegnen und dem Versuch, sie zu verstehen, und nicht sie bekämpfen.
Professorin Theresia Höynck | Expertin für Jugendrecht und Jugendgerichtshilfe
Außerdem hatte der Stadtrat im Sommer ein Sicherheitskonzept für Halle beschlossen. Insbesondere an Orten, an denen Menschen sich unsicher fühlen, ist eine bessere Beleuchtung vorgesehen. Zusätzlich soll das Ordnungsamt an Problemstellen rund um die Uhr im Einsatz sein.
Die Ursachen für Jugendgewalt seien vielseitig. Für die Jugendrechtsexpertin Höynck gibt es daher nicht die eine Lösung: "Wenn wir möchten, dass junge Menschen sich positiv entwickeln können, dann müssen wir ihnen unbedingt mit etwas Kredit begegnen und dem Versuch, sie zu verstehen, und nicht sie bekämpfen."
Innenministerium: 436 Ermittlungsverfahren in Halle
Im Landtag von Sachsen-Anhalt hatte Innenministerin Tamara Zieschang (CDU) am vergangenen Freitag erklärt, dass es seit April 2022 allein in Halle insgesamt 436 Ermittlungsverfahren im Bereich der Jugendkriminalität gegeben habe. 136 Tatverdächtige sind demnach ermittelt worden, zwei Drittel davon seien deutsche Staatsangehörige. Zieschang betonte, dass nicht nur die Täter, sondern auch die Opfer oftmals Minderjährige seien. In Halle hatte die Polizei zur Bekämpfung der Jugendkriminalität im vergangenen Jahr eine eigene Ermittlungsgruppe mit dem Namen "Cornern" ins Leben gerufen.
Zieschang erklärte mit Verweis auf die polizeiliche Kriminalstatistik aber auch, dass die Fallzahlen der Jugendkriminalität seit 2013 insgesamt nur leichten Schwankungen unterlegen gewesen seien. Nach den Corona-Jahren 2020 und 2021 lägen sie nun wieder auf dem Straftaten-Niveau von davor. Zieschang betonte, die Schwerpunkte lägen in Magdeburg und Halle.
Kritik am Antrag der AfD
In den Landtagsfraktionen gehen die Auffassungen über Ursachen und Konsequenzen derweil auseinander. Die AfD forderte in einem Antrag eine härtere Gangart gegen jugendliche Straftäter. Die Gründe für Jugendgewalt lägen unter anderem in der Auflösung der "klassischen Familie" und der "unkontrollierten Masseneinwanderung."
Guido Kosmehl von der FDP forderte bei dem Thema eine besondere Sensibilität in der Staatsanwaltschaft. Es gehe darum, dass jeder einzelne Fall so gut es geht aufgearbeitet und zur Anklage gebracht wird.
Die Linken-Abgeordnete Nicole Anger erklärte hingegen, jungen Menschen müsse ein Rahmen geboten werden, "damit Straftaten gar nicht erst zur Option werden". Auch der Grünen-Abgeordnete Sebastian Striegel sagte: "Junge Menschen brauchen nicht härtere Strafen, sondern Unterstützung." Er kritisierte, dass der AfD-Beitrag vor Rassismus und Bestrafungsfantasien strotze.
Kritik kam auch von der SPD: Rüdiger Erben, innenpolitischer Sprecher der Fraktion, erklärte, es gebe bereits zwei Anträge zum Thema im Innenausschuss. Er warf der AfD vor, ungeachtet dessen die Bühne der Landtagssitzung zu suchen, um die eigenen Thesen vor der Kamera ausbreiten zu können.
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MDR (Cynthia Seidel, Marvin Kalies, Uta Krömer, Felix Fahnert, Johanna Daher, Julia Heundorf) | Zuerst veröffentlicht am 30. Januar 2023
Dieses Thema im Programm:FAKT IST! aus Magdeburg | 30. Januar 2023 | 22:10 Uhr
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