Burgenlandkreis Auf der Suche nach den jungen Männern

17. Mai 2022, 08:54 Uhr

In der Gemeinde Kaiserpfalz leben mehr junge Männer zwischen 20 und 39 Jahren als Frauen in dieser Alterspanne. Recherchen von MDR SACHSEN-ANHALT zeigen, was das Einwohnermeldeamt bestätigt: Der Männerüberschuss hier ist besonders ausgeprägt. Ein Rundgang durch Kaiserpfalz, für Teil 2 des Themenschwerpunkts zum Männerüberschuss.

Kilometerweites Kopfsteinpflaster zwischen stechend gelb-leuchtenden Rapsfeldern. Die Stoßdämpfer des Autos haben ordentlich zu tun. Das Ziel dieser Holperpiste ist die Gemeinde Kaiserpfalz – im letzten Eck von Sachsen-Anhalt. Dort sind die Himmelsscheibe von Nebra und Thüringen zum Greifen nah.

Die Fahrt ins Nirgendwo hat einen besonderen Grund: MDR-Recherchen haben ergeben, dass es in der Gemeinde Kaiserpfalz einen natürlich hohen Anteil junger Männer zwischen 20 und 39 Jahren gibt*. Sprich: Hier kommen im Schnitt 145 Männer auf 100 Frauen (Stand 2020).

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MDR FERNSEHEN Fr 13.05.2022 17:20Uhr 01:44 min

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Die Gemeinde Kaiserpfalz schrumpft

Mit der Wende haben viele Einwohner den Ort verlassen – sie sind nach Westdeutschland gegangen oder in die großen Städte nach Halle und Magdeburg, wie sich später noch zeigen wird. Gegangen sind vor allem die Frauen, die Männer blieben – so die Theorie.

*Warum die Gemeinde Kaiserpfalz?

Die Gemeinde Kaiserpfalz zeigt einen besonders hohen Anteil der 20-39-jährigen Männer auf. Die gesamte Altersgruppe ist von 655 Personen (1990) auf 262 im Jahr 2020 geschrumpft, ein Rückgang von exakt 60 Prozent. Der Rückgang bei den Männern fiel mit 53,6 Prozent (von 334 auf 155) dabei deutlich niedriger aus als bei den Frauen (von 321 auf 107 = - 66,6 Prozent).

Zwar ist der Ort nur auf Platz vier der Orte mit Männerüberschuss, dafür aber der einzige mit einem natürlichen Überschuss. In anderen Orten wie Oranienbaum oder Harbke, entsteht dieser Überschuss durch externe Einflüsse, wie etwa eine Unterkunft für Geflüchtete.

Dieses Phänomen ist kein Einzelfall in Sachsen-Anhalt, wie Sozialgeograph Klaus Friedrich von der Martin-Luther-Universität Halle MDR SACHSEN-ANHALT verrät: "Nach der Wiedervereinigung gab es deutlich mehr Abwanderungen von Frauen als Abwanderungen von Männern aus ländlichen Räumen. Und aus dieser langfristigen Entwicklung hat sich ein Frauendefizit herausgebildet."

Mit diesem Vorwissen ist die Mission für den Besuch in der Gemeinde Kaiserpfalz klar: Warum bleiben vor allem junge Männer in einem kleinen Nest? Es stellt sich die Frage, ob hier mehr Leben ist, als man denken mag. Und vor allem: Tut dem Ort das gut?

Ein friedlicher Ort

Die Handbremse rastet ein. Das Auto parkt vor dem Dorfgemeinschaftshaus im Ortsteil Memleben. "Gemeinschaft" klingt erstmal nach sprudelndem Leben, doch die Tür ist verschlossen. Die Spinnweben im Türrahmen verraten, dass hier schon länger keiner gewesen sein muss. Im Fenster daneben ist in fetten Buchstaben das Wort "Seniorentreff" zu lesen. Nach jungen Männern, geschweige jungen Menschen, sieht das hier nicht aus.

Ein kurzer Fußmarsch in der gleißenden Sonne führt an einem Fußballfeld vorbei. Zwar steht der Rasen noch Meter hoch, aber immerhin ein erstes Indiz für – ganz klischeehaft – fußballspielende junge Männer.

Keine Perspektive im Ort: Das Ehepaar Maurer

Gegenüber vom Fußballfeld wohnt das Ehepaar Maurer. Ihren echten Namen wollen sie hier nicht lesen. Er schippt gerade Kies von der Straße auf sein Grundstück. Dass hier im Schnitt besonders viele junge Männer leben, könne er nicht bestätigen, sagt Herr Maurer. Denn er wohne erst seit April in dem kleinen Ort. Doch er verrät, dass die Perspektiven hier im Ort nicht die besten zu sein scheinen – zumindest nicht, wenn man nicht Rentner ist:

Den jungen Leuten wird hier keine Perspektive gegeben. Wenn man sich die Trostlosigkeit anschaut: Arbeitsplätze fehlen, Industrie geht weg. Das ist schon traurig.

Herr Maurer (Name geändert) Einwohner in Memleben

Seine Frau tritt an den Zaun heran. Sie sagt, dass die Bevölkerung eigentlich gemischt sei. Während sie spricht, wedelt sie mit ihrer Gartenschere: "So viele junge Menschen sieht man hier eigentlich gar nicht. Auf dem Sportplatz sind es ein paar, die Fußball spielen, aber im Großen und Ganzen sieht man eher ältere Menschen."

Das Ehepaar verweist auf ihren Nachbarn Lothar. Der wohne schon ewig hier und wisse da mehr als sie. Beeilung ist aber angesagt, denn man hört schon das Knattern des Mopeds von nebenan.

Man(n) will lieber Single bleiben: Lothar

In letzter Sekunde kann das Moped mit dem Anhänger voller Schnittgut aufgehalten werden. Lothar ist 1965 zur Ausbildung nach Memleben gekommen und lebt seitdem hier, wie er stolz erzählt. Und er verrät noch etwas: "Ja, es gibt schon einige junge Männer hier." Aha, das macht Hoffnung.

Ich sage immer, die wollen alle keine Frau haben. Wenn ich hier unsere Straße runtergucke oder meinen Enkel mit 31 sehe – da sind keine Ambitionen da.

Lothar Einwohner in Memleben

Die jungen Männer hätten nur ihren Beruf und Autos im Kopf, sagt er lachend. Woran das liegt? Er weiß es nicht, es fehle vielleicht an Attraktionen im Dorf, vermutet er.

Im Gespräch mit ihm fällt das Wort "Dorfgemeinschaftshaus". Doch dass die jungen Leute sich dort treffen, verneint er mit angezogener Augenbraue. Das ist im Prinzip geschlossen, sagt Lothar brummelnd. Lediglich Jugendweihen oder Familienfeiern fänden dort noch statt. Lothar setzt seinen Helm auf die schwitzigen Haare und knattert davon.

Noch ein Single-Mann: Sabine

Die Suche geht weiter, vorbei an reihenweise aufgehängter Wäsche, die im Wind wehend in der Sonne trocknet. Auch hier hängt nichts, was in irgendeiner Weise auf sportlich, jung und dynamisch hinweisen könnte. Eine Straße weiter: Ein Rentner-Paar, das händchenhaltend auf einer Bank sitzt. Viel Lebensenergie sieht anders aus.

Eine Kofferraumtür klappt zu. Sabine – auch sie will ihren echten Namen hier nicht lesen – packt ihren Einkauf aus ihrem weißen VW aus. Auch sie hat einen Sohn: 31 Jahre alt und Single, erzählt sie aufbrausend und wedelt dabei mit ihren Einkäufen:

Es gibt viele Singles hier. Das liegt daran, weil man nicht so viel Bewegung hat. Man lebt hier ruhiger, ist halt so. Man hat zwar alles hier, aber man muss überall hinfahren.

Sabine (Name geändert) Einwohnerin in Memleben

Ein wunder Punkt ist getroffen – verständlich. Das Alter der Männer stimmt aber schon mal und dass nicht jeder Mann ein passendes Gegenüber findet, scheint sich damit auch irgendwie zu bestätigen. Nur sehen kann man die jungen Männer an diesem Tag nicht.

Der Heimatverein bangt um die Existenz des Ortes: Karla Würfel

Eine leere Straße. Die Häuser hier brauchen dringend einen Anstrich. Auf der gegenüberliegenden Seite steht Karla Würfel – im Jump Suit und mit bunt karierten Schuhen. Sie ist die Vorsitzende des Heimatvereins Memleben, wie sie erzählt. Vielleicht weiß sie, wo sich die jungen Männer verstecken:

Im Verhältnis gibt es zu wenig junge Menschen. Es fehlen Arbeitsplätze. Sie gehen weg und gehen eher in die Städte oder größeren Gemeinden.

Karla Würfel Vorsitzende Heimatverein Memleben

Ein Hupen unterbricht sie. "Da muss ich schnell hinrennen." Karla Würfel läuft zu einem Bäckermobil und bestellt Spezialbrot für ihren Mann und Kornbrötchen für sie. Jetzt wird klar, was alle meinen mit: "Es fehlen Arbeitsplätze". Hier gibt es nicht mal einen Bäcker im Ort und die mobilen Dienste kommen so früh, dass man als Arbeitnehmer keine Chance hat, etwas vom Kuchen zu ergattern.

Die Lebensgrundlage fehlt

Immerhin Karla Würfel kommt zufrieden zurück. Es beschleicht einen das Gefühl, dass es hier eher zu wenig junge Männer gibt und noch weniger junge Menschen im Allgemeinen. Auf die Frage, ob man hier im Ort denn gute Möglichkeiten hat, eine Familie zu gründen, muss sie lachen:

Es fehlen Kinderkrippe, Kindergarten und Schulen. Ein Grund, warum sich junge Leute hier nicht ansiedeln. Die Kinder ewig mit Bus fahren lassen oder selbst jeden Tag fahren – das macht ja keiner.

Karla Würfel Vorsitzende Heimatverein Memleben

Sie selbst hat keine Kinder oder Enkel hier, wie sie verrät. Die seien alle in der Nähe von Berlin und Erfurt. Großstadt eben. Karla hat Angst um ihren Heimatort: "Hier in der Straße leben fast nur ältere Leute, wenn sie hinter die Kirche gehen, da ist es noch schlimmer."

Letzter Versuch: Jessica Kunze

Ein letzter Versuch junge Männer zu finden, soll im Ortsteil Wohlmirstedt stattfinden. Auf dem Weg dorthin liegt die Kirche, von der Karla Würfel sprach. Hinter ihr befindet sich der Friedhof – Humor hat Karla Würfel also.

In Wohlmirstedt treffen wir auf die einzige Kita weit und breit. Einen Vater, der sein Kind gerade abholt, ist nicht vor Ort, aber nach mehrmaligem Klingeln öffnet die Kitaleiterin die Tür. Jessica Kunze erzählt, dass sie 50 Kinder aus der Gemeinde Kaiserpfalz betreuen. Ein Glücksgriff, denn das bedeutet, es gibt 50 Väter – sprich: 50 junge Männer – zumindest in der Theorie.

Anders als die anderen Einwohner, redet sie von einem familienfreundlichen Ort: "Für Familien wird viel gemacht. An und für sich ist die Lebensqualität gut in Kaiserpfalz", schließt sie.

Am Ende der Gemeinde

Es gibt sie also, die Männer zwischen 20 und 39 Jahren – zumindest wird über sie gesprochen. Warum die Männer in dem Alter hierbleiben, wenn alle davon reden, dass keinerlei Perspektive vorhanden ist? Eine klare Antwort ergibt sich am Ende dieses Besuchs nicht. Klar ist aber: Wer hier lebt, entscheidet sich bewusst für ein anderes Lebensgefühl – egal ob männlich, weiblich oder divers.

Und Tatsache ist auch, dass der Ort ein Problem hat: Einen Teufelskreis, aus dem er nicht ausbrechen kann. Aus den Gesprächen zeigt sich: Es gibt hier keine Arbeitsplätze und somit auch keine Daseinsvorsorge. Das bewegt junge Leute nicht dazu, hier eine Familie zu gründen. Es ist niemand da, der sich um den Ort und die Alten kümmert.

Thüringer Rostbratwurst: Andreas Ulbricht

Zeit zurückzufahren, denn ein paar Meter hinter Wohlmirstedt ist schon Thüringen. Vor der Grenze gibt es einem kleinen Imbiss, wo die ersten Rostbratwürste verkauft werden – ein Rückreisesnack.

Andreas, der Besitzer des Imbiss, kennt hier jeden. Er macht Mut, denn junge Leute kommen scheinbar wieder in die Gemeinde zurück – Männer und Frauen:

Ich denke mal, es kommen immer mehr zurück. Früher sind alle in den Westen gegangen, jetzt merkt man, das ist nicht mehr so.

Andreas Ulbricht Restaurantbesitzer in Wohlmirstedt

Das ist doch ein Hoffnungsschimmer – für Jung und Alt. Ein letzter Ketchupfleck auf den Fahrersitz, dann geht es zurück in die Großstadt.

MDR (Maximilian Fürstenberg)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 16. Mai 2022 | 07:00 Uhr

3 Kommentare

Ilse am 17.05.2022

Alles eine Frage der Perspektive, wenn man in einem sich rückentwickelnden
oder abgehängten Gebiet geboren u. aufgewachsen ist, sieht es immer normal aus, ist überall auf der Erde so.

MDR-Team am 17.05.2022

Wie so denn zynisch? Zumal wir alles mit Zahlen unterlegt haben.

Moewe1 am 17.05.2022

Was für ein zynisch, sarkastischer Beitrag, voller Klischees gegen das Landleben. Vielleicht waren die meisten jungen Männer arbeiten.

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