Fünf Jahre nach dem antisemitischen AnschlagSteinmeier bei Gedenken in Halle: "Es ist Zeit für Solidarität"
In Halle ist am Mittwoch an das antisemitische und rassistische Attentat vom 9. Oktober 2019 erinnert worden. Damals hatte ein bewaffneter Attentäter versucht, in die Synagoge einzudringen und ein Massaker anzurichten. Als ihm das nicht gelang, erschoss er zwei Menschen und verletzte weitere. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagte in Halle, dass der Staat den Anschlag nicht habe verhindern können, bleibe eine dauerhafte Mahnung. Das Internet bezeichnete er als "Hasstankstelle".
- In Halle ist am Mittwoch der Opfer des antisemitischen Attentats vor fünf Jahren gedacht worden.
- Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mahnte, es sei Aufgabe jedes Einzelnen, Hass zu widersprechen.
- Der Zentralrat der Juden rief Politik und Gesellschaft auf, Juden besser zu schützen und ihr Vertrauen zurückzugewinnen.
Am fünften Jahrestag des antisemitischen und rechtsterroristischen Anschlags vom 9. Oktober 2019 ist in Halle am Mittwoch der Opfer gedacht worden. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagte bei einer Gedenkveranstaltung in der Ulrichskirche am frühen Mittwochabend, der Anschlag habe das Leben der Beteiligten für immer verändert: "Wer den Terror von Halle überlebt hat, trägt schwer an der Last dieses furchtbaren Tages. Für sie alle gibt es unwiderruflich ein Davor und ein Danach." Die Stadt Halle hatte zur Gedenkveranstaltung explizit auch die Bürgerinnen und Bürger eingeladen.
Steinmeier: Internet wird zu oft zu einer "Hasstankstelle"
Steinmeier, der zuvor bereits mehrere Anschlagsorte besucht und mit Betroffenen gesprochen hatte, erklärte: "Der Täter von Halle wollte uns als Gesellschaft spalten. Er hat zwei Menschen kaltblütig ermordet. Er wollte jüdisches Leben auslöschen. Beides ist ihm nicht gelungen. Er hat nichts erreicht."
Es ist Zeit für Solidarität, wo jemand angegriffen wird.
Frank-Walter Steinmeier | Bundespräsident
Das Risiko, Opfer menschenfeindlicher Gewalt zu werden, trügen nicht alle auf dieselbe Weise, sagte Steinmeier. Es bleibe aber eine dauerhafte Mahnung, dass der Staat den Anschlag nicht habe verhindern können. Zwar sei er froh, dass der Staat mit mehr Schutz reagiert habe – so steht die auch die hallesche Synagoge seit dem Attentat dauerhaft unter Polizeischutz. Die Wahrheit sei aber auch, "dass es nahezu täglich schwieriger wird, den Kampf gegen den Terror zu führen."
Seit dem terroristischen Angriff der Hamas auf Israel vor einem Jahr scheine sich "ein Ventil für einen ungezügelten Judenhass" geöffnet zu haben, sagte Steinmeier: "Zu oft wird das Internet zu einer Hasstankstelle, an der sich Menschen – oft sind es junge Männer – aufladen." Es komme auf jeden Einzelnen an, zu widersprechen, wenn gegen Minderheiten vorgegangen werde. Es sei Zeit für Solidarität.
Haseloff: Sachsen-Anhalt steht an der Seite seiner jüdischen Bürgerinnen und Bürger
Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff, CDU, sprach während seiner emotionalen Rede in der Ulrichskirche von der "tiefsten Zäsur" in der Geschichte Sachsen-Anhalts. "Wir müssen uns gemeinsam stützen und in den Armen halten", appellierte Haseloff. Menschlichkeit müsse grundsätzliches Prinzip in unserer Gesellschaft sein.
Wir müssen uns gemeinsam stützen und in den Armen halten.
Reiner Haseloff, CDU | Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt
Der hallesche Bürgermeister Egbert Geier (SPD) sagte zu Beginn der Gedenkveranstaltung in der Ulrichskirche, seit dem Attentat seien zwar fünf Jahre vergangen. Der Schmerz und die Trauer aber seien noch immer spürbar. "Wir dürfen die Lehren, die wir aus diesem Tag ziehen müssen, nicht vergessen", appellierte Geier. Der Rathauschef erinnerte an die Worte eines griechischen Dichters: Hass erzeuge Hass. "Man hat den Eindruck", so Geier, "viele – zu viele – haben es immer noch nicht gelernt."
Präsident des Zentralrates der Juden: Tiefes Misstrauen in Staat und Polizei
Zu Gast waren neben Steinmeier und Haseloff unter anderem auch der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Josef Schuster, diplomatische Vertreterinnen und Vertreter der israelischen und US-amerikanischen Botschaften. Neben Reden von Haseloff, Steinmeier und Geier wurde die Veranstaltung auch musikalisch untermalt von der Staatskapelle Halle.
Der Anschlag von Halle scheitert und wurde doch nicht verhindert.
Josef Schuster | Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland
Als Vertreter der Jüdinnen und Juden in Deutschland sagte Josef Schuster mit kritischem Blick auf die Arbeit der Behörden: "Der Anschlag von Halle scheiterte und wurde doch nicht verhindert." Er sprach von einem tiefen Misstrauen in den Staat und die Sicherheitsbehörden in Deutschland, das die Überlebenden seitdem begleite. Viele Juden würden das Gefühl, nicht geschützt zu sein, kennen. Politik und Gesellschaft stünden in der Pflicht, das Vertrauen Stück für Stück wieder zurückzugewinnen.
Überlebender nach dem Anschlag: "Ich bin wütend"
Zu Wort kam bei der Gedenkveranstaltung unter anderem auch Conrad Rößler, der während des Anschlages im Imbiss in der Ludwig-Wucherer-Straße vor Ort war. Während seine Freunde geflohen seien, habe er sich in einer Toilette versteckt: "Ich war sicher, dass ich in dieser sterben würde."
Ich bin wütend, in einem Land zu leben, in dem Politiker sich über rassistische Angriffe empören, aber zu wenig tun, um diese zu verhindern.
Conrad Rößler | Überlebender des antisemitischen Anschlages
In den vergangenen Jahren habe er viel Dankbarkeit verspürt, sagte Rößler. Über die Unterstützung der mobilen Opferhilfe, auch über die Gemeinschaft der Nebenklägerinnen und Nebenkläger, die ihm sehr viel Kraft gegeben habe. Rößler spüre allerdings auch Wut. "Ich bin wütend, in einem Land zu leben, in dem Politiker sich über rassistische Angriffe empören, aber zu wenig tun, um diese zu verhindern", sagte der junge Mann. Er sei aber auch wütend auf sich selbst. Weil er zu feige sei, "dem Nazi, der in Straßenbahn rumpöbelt, meine Meinung zu sagen". Seine Wut werde nicht vergehen, bis alle Menschen in Deutschland ohne Angst abends im Dunkeln spazieren gehen könnten.
Neue Thora für Synagogengemeinde in Halle
Bereits am Nachmittag hatten Bundespräsident Steinmeier und Ministerpräsident Haseloff bei den Gedenkveranstaltungen gemeinsam die letzten Buchstaben in die neue Thora geschrieben, die die Synagogengemeinde Halle zum Anlass des Gedenkens erhalten hatte. Der Ministerpräsident sagte dabei, Sachsen-Anhalt stehe an der Seite seiner jüdischen Bürgerinnen und Bürger. Er versprach, die Landesregierung werde alles tun, um ihr Versprechen, Jüdinnen und Juden zu schützen, einzulösen.
Bundeskanzler Scholz: Antisemitismus nicht hinnehmen
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte anlässlich des Jahrestages des Anschlags schon am Morgen dazu aufgerufen, Antisemitismus nicht hinzunehmen: "Es darf niemals sein, dass jüdische Bürgerinnen und Bürger in Angst leben müssen", schrieb er auf der Plattform X. Das Gedenken an die Opfer mahne uns, diese Verantwortung wahrzunehmen. Ähnliches forderte auch Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) auf X: "Wir sind es, die sich diesem Hass entgegenzustellen haben: um unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger zu schützen und um Frieden und Freiheit für alle zu bewahren." Antisemitischer Hass richte sich nicht nur gegen Juden, sondern gegen alle Menschen, die in einer freiheitlich demokratischen Gesellschaft in Frieden miteinander leben wollten.
Der evangelische Landesbischof Friedrich Kramer hatte im Gespräch mit der Deutschen Presseagentur Solidarität mit den jüdische Gemeinden bekundet. Zum Zeitpunkt des Anschlags habe man gedacht, das sei der Tiefpunkt gewesen. Doch nicht zuletzt seit dem Terrorangriff der Hamas in Israel werde der "Judenhass von Tag zu Tag größer in der ganzen Welt und auch in unserem Land, quer durch alle sozialen Gruppen und politischen Strömungen". Jüdisches Leben hier brauche sichere Orte. Die Synagoge sei ein Ort der Stärkung und des Trostes. In den vergangenen fünf Jahren seien in Sachsen-Anhalt zwei neue Synagogen eröffnet worden, in Dessau-Roßlau und Magdeburg. Das zeige: "Jüdisches Leben hat hier Zukunft."
12:03 Uhr: Innehalten und Glockengeläut in Halle
Im Hof der Synagoge hatte es bereits am Mittag ein stilles Gedenken gegeben. Menschen legten Kränze nieder. Um 12:03 Uhr – zum Zeitpunkt der ersten tödlichen Schüsse – läuteten in der Stadt die Kirchenglocken. Auch Busse und Bahnen der Halleschen Verkehrs-AG hielten an und erinnerten an den Anschlag.
Am Abend begann auch vor dem zweiten Ort des Anschlags, vor dem "Tekiez" in der Ludwig-Wucherer-Straße, eine Gedenkveranstaltung. Die "Soligruppe 9. Oktober" hielt dort eine Kundgebung ab. Den Abschluss machten später Gedenkveranstaltungen mit einem stillen Gedenken auf dem Marktplatz.
Vor fünf Jahren, am 9. Oktober 2019, hatte ein bewaffneter Attentäter versucht, in die Synagoge zu gelangen. Als ihm dies nicht gelang, erschoss er die 40-jährige Jana L. auf offener Straße und den 20-jährigen Kevin S. in einem Döner-Imbiss in der Ludwig-Wucherer-Straße. Später verletzte er in Wiedersdorf bei Landsberg zwei Personen schwer.
Bereits am Dienstagabend stellte der MDR seinen neuen Film "Der Anschlag – Terror in Halle und Wiedersdorf" vor. Der Film folgt verschiedenen Protagonistinnen und Protagonisten aus der Stadtgesellschaft und Betroffenen.
Mehr zum Leben und Gedenken nach dem Anschlag von Halle
dpa, epd, MDR (Corinna Thamm, Maren Wilczek, Alisa Sonntag, Luca Deutschländer) | Erstmals veröffentlicht am 09.10.2024
Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 09. Oktober 2024 | 19:00 Uhr
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