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In der Ausstellung teilen Menschen, wo sie am 9. Oktober 2019 waren, als der Anschlag von Halle verübt wurde. Bildrechte: Paul Fiedler

"Tagebuch der Gefühle""Hatten Tassen mit Hakenkreuzen zu Hause" – Projekt klärt über Antisemitismus auf und erinnert an Halle-Anschlag

09. Oktober 2024, 15:23 Uhr

"Wo warst du am Tag des Halle-Anschlags?" – dieser Frage sind junge Menschen in einem "Tagebuch der Gefühle" nachgegangen. Das Projekt zeigt auf, wie sich Antisemitismus äußert und bringt unterschiedliche Menschen zusammen.

"Meine ersten Gedanken waren ziemlich zynisch", steht in einem der 1.000 Zitate der Ausstellung "Wo warst du?". "Aber so ziemlich als Erstes kam mir eine Verknüpfung zum 9.11. in den Kopf und ich habe gedacht: Nicht mal historische Daten können sich Neonazis richtig merken. Der ist einen Monat zu früh dran."

Es ist die Stimme einer 29-jährigen Hallenserin, an die sich Paul erinnert. Der heute 21-Jährige gehört seit sieben Jahren zum "Tagebuch" – so nennen die Freiwilligen ihr Projekt: Das "Tagebuch der Gefühle."

Anschlag in Halle: Projektgruppe befasst sich mit Antisemitismus

Das "Tagebuch der Gefühle" ist eine Projektgruppe aus Halle, in der sich Jugendliche mit dem Nationalsozialismus, seinen Tätern und Opfern und den Folgen beschäftigen. Seit 2011 besuchen die Projektteilnehmenden Gedenkorte in ganz Europa und schreiben anschließend ihre Gefühle und Gedanken in den Tagebüchern auf.

Viele Schüler, gerade die, die schon früh von der Schule gehen, kommen im Geschichtsunterricht nie in die Zeit des Nationalsozialismus.

Andreas Dose | Gründer des Projektes

"Eigentlich war das Tagebuch immer ein Geschichtsprojekt", sagt Lara. Seit knapp einem Jahr ist die Studentin bei dem "Tagebuch der Gefühle" dabei. In den vergangenen anderthalb Jahren hat sich die Projektgruppe zum ersten Mal mit dem Antisemitismus in ihrer Zeit befasst. "Wir wollten herausfinden, was der Anschlag auf die Synagoge mit Halle gemacht hat", erzählt Lara weiter. Dafür haben die Projektteilnehmenden über 1.000 Menschen aus Halle und Umgebung gefragt, wo sie vor fünf Jahren beim Anschlag in Halle waren.

Die Ausstellung fünf Jahre nach dem Anschlag in Halle: "Wo warst du?"

Einige dieser Erinnerungen an den Anschlag und weitere interaktive Elemente über die nationalsozialistische und rechtsextreme Geschichte Deutschlands werden bis zum 9. Oktober – bis zum fünften Jahrestag des Anschlags – in der Volkshochschule Halle zu sehen sein. Seit Samstag ist dort der Hauptteil der Ausstellungsreihe "Wo warst Du?" [beim Anschlag in Halle] zugänglich. Zudem sind ausgewählte Stimmen seit dem 9. September in zehn Nebenausstellungen in Halle ausgestellt, unter anderem im Klinikum Bergmannstrost, im Landesmuseum für Vorgeschichte, in der Marktkirche und in der Passage 13.

In Halle-Neustadt in der Passage 13 hat das Tagebuch der Gefühle Erinnerungen an den Anschlag auf die Synagoge ausgestellt. Bildrechte: Paul Fiedler/Tagebuch der Gefühle

Sozialpädagoge: "Viele Schüler kommen im Geschichtsunterricht nie in die Zeit des Nationalsozialismus"

Angefangen hat für Projektgründer und Sozialpädagoge Andreas Dose alles mit einer Frage: "Wann hat Adolf Hitler eigentlich die Mauer gebaut?" Die wurde ihm vor 13 Jahren gestellt. Eine Frage, auf die die Antwort eigentlich nur "nie" sein kann. "Natürlich war ich erstmal irritiert, aber wenn man drüber nachdenkt: Viele Schüler, gerade die, die schon früh von der Schule gehen, kommen im Geschichtsunterricht nie in die Zeit des Nationalsozialismus", sagt Dose.

Wann hat Adolf Hitler eigentlich die Mauer gebaut?

Schüler von Andreas Dose

Es wundere ihn nicht, dass da Geschichtslücken sind. "Zuhause holt das dann auch keiner auf", sagt Dose weiter. Als Werkstatt und Sozialpädagoge beim "Stabil-Projekt" arbeitet er mit genau diesen Jugendlichen und jungen Erwachsenen zusammen. Deshalb hat er eine andere Antwort gefunden: Das "Tagebuch der Gefühle."

Andreas Dose hat das Tagebuch der Gefühle vor 13 Jahre ins Leben gerufen. Bildrechte: MDR/Leonard Schubert

2012 fährt Dose das erste Mal zusammen mit Auszubildenden in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau – das größte Vernichtungslager im nationalsozialistischem Deutschland. 2018 begibt sich der Pädagoge zusammen mit der Stiftung Bildung und Handwerk und der Kooperativen Gesamtschule Ulrich von Hutten (KGS) auf Spurensuche.

Paul: "Antisemitismus war für mich einfach nur ein Fachbegriff"

Schüler Paul ist damals an der KGS, fährt mit nach Auschwitz und hält alles auf Videos fest. "Damals war Antisemitismus für mich einfach nur ein Fachbegriff aus dem Geschichtsunterricht", sagt Paul, der heute Medien- und Kommunikationswissenschaften und Politik in Halle studiert.

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Durch das Tagebuch habe er gelernt, wie sich Antisemitismus äußert, wohin Ausgrenzung und Hass führen können. Dass Antisemitismus aber in der heutigen Gesellschaft noch ein Problem sei, war ihm nicht klar. "Ich dachte, die Leute hätte aus dem, was die Nationalsozialisten angerichtet haben, gelernt", sagt Paul. Dann kam 2019 der Anschlag auf die Synagoge in Halle.

Lara: Antisemitismus in der eigenen Familie

"Ich hab damals gar nicht gecheckt, dass der Anschlag sich gegen Juden richtet", erzählt Lara. Als der rechtsextremistische Attentäter versuchte, die Synagoge in Halle anzugreifen, war sie gerade in der Mensa. Die damals 19-Jährige war für ihr Studium aus dem Harz nach Halle gezogen. "Ich hab dann gemerkt, dass die Stimmung anders wird. Viele sind gegangen, haben von dem Anschlag gesprochen. Aber so richtig realisiert hab ich das nicht", erinnert sie sich.

Lara ist dann mit einer Freundin nach Hause gegangen, erzählt sie. "Ich hab' mich schon gefragt: Wo verstecke ich mich? Was, wenn jetzt was passiert?", sagt sie weiter. Um sich abzulenken, haben sie einen Kinderfilm angemacht.

Vor ihrem Studium hat Lara in einem, wie sie selbst sagt, "rechten, antisemitischen und ausländerfeindlichen" Umfeld gewohnt, war selbst so geprägt, wenn auch nicht bewusst. Auf das Tagebuch-Projekt stößt die Studentin, als sie eine Hausarbeit zu Erinnerungkultur schreibt. "Ich hab ein Plakat gesehen und gemerkt: Da hab ich jetzt nicht so viel Resistenz gegen wie bei Ausländern."

Wir hatten Frühstücksbrettchen mit Adolf Hitler zu Hause.

Lara vom Tagebuch der Gefühle

Sie fängt an, sich beim "Tagebuch" zu engagieren, bekommt immer mehr Zugang zur NS-Geschichte und reflektiert ihre Kindheit. "Wir hatten Frühstücksbrettchen mit Adolf Hitler zu Hause und Tassen mit Hakenkreuzen", erzählt sie.

Neues Projekt in Planung

Heute ist das Tagebuch ihr Vorbild. Das Projekt kläre nicht nur auf, es bringe auch Menschen mit den unterschiedlichsten Hintergründen zusammen. "Wir haben Leute, die keinen Haupt- oder Realschulabschluss haben, andere mit Abitur, die gerade anfangen zu studieren und Menschen mit Behinderung", sagt Lara. Daher sind in der Hauptausstellung "Wo warst du?" unter anderem auch Podcasts von Schülern mit Seh- und Lernbehinderung zu hören, die während einer Gedenkstättenfahrt nach Auschwitz aufgenommen wurden.

Nach der Ausstellung "Wo warst du?" und der Veröffentlichung des siebten Tagebuchs der Gefühle hat Projektleiter Andreas Dose auch schon eine Idee für das achte: "Im Sommer 2025 werden wir uns mit Lebensborn und der Rolle der Frau im Nationalsozialismus beschäftigen."

Die Ergebnisse des Projekts sind an verschiedenen Orten ausgestellt. Bildrechte: Levent Karakurt

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MDR (Cynthia Seidel) | Erstmals veröffentlicht am 06.10.2024

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 05. Oktober 2024 | 15:00 Uhr

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