"Arbeiterkind" Vom Bildungsaufsteiger zum Mentor: Initiative begleitet Studierende
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07. November 2024, 12:46 Uhr
Mike Bohrer ist der Akademiker in seiner Familie. Trotz anfänglicher Hürden hat er den Weg durchs Studium gemeistert. Heute engagiert er sich bei der Initiative "Arbeiterkind", die Studierende aus nicht-akademischen Familien unterstützt. So half er Nhu Nguyet Nguyen, ein Stipendium zu erhalten und ihr Studium fortzusetzen.
- Ein Akademiker der ersten Generation blickt auf seinen herausfordernden Bildungsweg zurück und engagiert sich nun bei der Initiative "Arbeiterkind".
- Die Initiative will Studierenden Orientierung bieten und ihnen helfen, finanzielle und strukturelle Hürden zu überwinden.
- Auch einer jungen Frau konnte geholfen werden, ein Stipendium zu erhalten und ihr Studium weiterzuführen.
Es war eine Mischung aus Vorfreude und Respekt, die Mike Bohrer vor nunmehr 14 Jahren auf dem Campus der Martin-Luther-Universität in Halle empfand, als er seinem neuen und unbekannten Bildungsweg als Studierender gegenüberstand. Sowohl er als auch sein Bruder waren die Ersten in ihrer Familie, die diesen Weg wählten und sich dafür qualifizierten. Oft entscheiden sich Kinder aus nicht-akademischen Haushalten eher für eine Berufsausbildung.
Stichwort "Arbeiterkind" Laut Hochschulbildungsreport beginnen von 100 Kindern aus Akademikerfamilien 79 ein Studium, während es bei Nicht-Akademikerfamilien nur 27 von 100 sind. "Arbeiterkind" hat sich eigenen Angaben zufolge zum Ziel gesetzt, die Hemmschwelle für mögliche Studierende aus Arbeiterfamilien abzubauen und durch eine stetig wachsende Community noch besser und schneller die entsprechende Zielgruppe zu erreichen.
Nicht so Mike Bohrer: Dabei waren seine Lehrer damals zunächst gar nicht überzeugt, dass er sich für einen gehobenen Bildungsweg eignet. "Das fing schon auf dem Gymnasium an. Ich habe keine Gymnasialempfehlung bekommen. Mit dieser Nachricht im Hinterkopf läuft man eher geduckt und macht eine Art Fluchtlernen", erzählt der studierte Kriminologe heute rückblickend.
Zunächst kein Überblick im Studium
Trotzdem schaffte er es und hatte nach dem Abitur eine Fülle an Studienangeboten vor sich, die ihn anfänglich überforderten, erinnert er sich. So vieles sei Neuland gewesen: Wie funktioniert eine Bibliothek? Was bedeutet es, eine Universität zu besuchen? Wie schreibt man eine Hausarbeit? "Als ich zur Uni kam und mich eingeschrieben habe, habe ich gemerkt, dass es ein großer Unterschied zur Schule ist." Es habe sehr viele Angebote gegeben. Einen Überblick habe er nicht gehabt.
Hätte Mike Bohrer die gemeinnützige Initiative "Arbeiterkind" damals schon gekannt, wären ihm vielleicht einige Semester im zunächst falschen Studiengang erspart geblieben. Denn: Die Initiative präsentiert sich an Universitäten und bietet verschiedene Unterstützungsmöglichkeiten an. Bundesweit engagieren sich laut "Arbeiterkind" 6.000 Ehrenamtliche in 80 lokalen Gruppen, um Schülerinnen und Schüler über die Möglichkeiten eines Studiums zu informieren und sie auf ihrem Weg vom Studieneinstieg bis zum erfolgreichen Studienabschluss und Berufseinstieg zu begleiten.
Ehrenamtliche helfen beim Studieneinstieg
Die Ehrenamtlichen seien größtenteils selbst Studierende oder Akademikerinnen und Akademiker der ersten Generation, heißt es. Sie sollen in den regionalen Gruppentreffen von ihren eigenen Erfahrungen des Bildungsaufstiegs berichten und individuelle Unterstützung anbieten.
"Wir können bei allen Themen, die das Studium betreffen, helfen und unterstützen – beispielsweise bei der Studienfinanzierung, aber auch bei Stipendien", sagt Jasmin Friese, Bundeslandkoordinatorin in Sachsen und Sachsen-Anhalt bei "Arbeiterkind". Oft wüssten Schüler aus nicht-akademischen Familien nicht, was ein Stipendium ist und wie sie es bekommen – oder würden erst gar nicht Betracht ziehen, sich dafür zu bewerben, erklärt Jasmin Friese, Bundeslandkoordinatorin in Sachsen und Sachsen-Anhalt bei "Arbeiterkind". Die Initiative will das ändern.
"Arbeiterkind": Vom Hilfesuchenden zum Mentor
Zurück zu Mike Bohrer: Nachdem er sein Erststudium abgebrochen hatte, machte er eine Berufsausbildung zum Rechtsanwaltsfachangestellten – und absolvierte anschließend ein duales Studium im Strafvollzug. Beruflich im Jugendgefängnis und Justizministerium unterwegs, studierte er parallel den Masterstudiengang Kriminologie an der Universität Hamburg.
Seit 2020 engagiert er sich selbst ehrenamtlich bei den "Arbeiterkindern". In seiner Tätigkeit als Mentor hat er beispielsweise der Viet-Deutschen Nhu Nguyet Nguyen geholfen. Nhu Nguyet Nguyen, deren Familie bereits in zweiter Generation in Deutschland lebt, hatte zuvor Betriebswirtschaftslehre studiert und drei Jahre in der freien Wirtschaft gearbeitet, erzählt sie. Dennoch sei sie in ihrem neuen Job nicht angekommen, erzählt sie. Ein weiterführendes Studium? Hätte die 30-Jährige als zu großes Risiko für sich gesehen.
Empowerment für Studentin
Dann lernte Nhu Nguyet Nguyen bei einem Regionaltreffen der Initiative Mike Bohrer kennen. Der habe sie ermutigt und unterstützt, einen Antrag auf das Deutschland-Stipendium zu stellen, erzählt sie – mit Erfolg. Die Erfahrungen mit anderen Studierenden aus Arbeiterfamilien empfindet Nhu Nguyet Nguyen rückblickend als Bereicherung: "Ich habe mir angeschaut, wie die anderen arbeiten und das war ein richtig empowerndes Gefühl, ein Zugehörigkeitsgefühl", sagt sie. Danach habe sie sich nicht mehr so alleine gefühlt.
Aktuell macht Nhu Nguyet Nguyen ihren zweiten Bachelor. Sie studiert soziale Arbeit.
MDR (Janett Scheibe, Moritz Arand) | Erstmals veröffentlicht am 06.11.2024
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 13. November 2024 | 19:00 Uhr