Nachrichten & Themen
Mediathek & TV
Audio & Radio
SachsenSachsen-AnhaltThüringenDeutschlandWeltLeben

Sozialer AufstiegHalle-Silberhöhe: Wie gelingt der Weg aus der Armut?

27. März 2023, 05:00 Uhr

MDR Investigativ hat Patrick und Tom in Halle-Silberhöhe getroffen. Beide haben als Kinder und Jugendliche Armut und den Hartz IV-Kreislauf kennengelernt – doch nur einer konnte als Erwachsener diesem entkommen. Woran hat es gelegen?

Es heißt immer wieder: Wer Arbeit haben will, der findet sie auch. Doch an diesem Spruch sei nichts dran, findet Patrick. Der 33-Jährige trinkt mit Bekannten gerade ein Bier am sogenannten Würfel in Halle-Silberhöhe. Am zentralen Platz des Viertels treffen sich bereits morgens, um 9 Uhr die ersten Menschen. Der Beton-Boden unter ihren Füßen ist grau, aber über ihren Köpfen strahlt es an diesem Tag im Februar hellblau. "Die meisten, die hier rumstehen, von um neune bis um zehn, alles Hartz IV-Empfänger. Leider ist es so."

Patrick hatte angefangen, Straßenbauer zu lernen. "Aber nicht zu Ende geführt. Stoff, Drogen, wie es halt so ist. Brauchen wir nicht herum zu lügen. Ich bin nicht stolz drauf", sagt er und nimmt einen schnellen Zug an seiner Zigarette. Patrick saß schon zehn Jahre seines Lebens im Gefängnis – wegen Körperverletzung, Diebstahl und Drogendelikten. Nun wolle ihm keiner mehr Arbeit geben, obwohl er hoch motiviert sei.

Schwieriges Thema: Patrick hat keine Familie

Jeden Tag kommt Patrick in die Silberhöhe, um sich in einer Arztpraxis Ersatzdrogen abzuholen. Er ist in einem Substitutions-Programm. Der junge Mann wohnt in einem anderen Stadtteil, hat eine Einraumwohnung, auf die er stolz ist. Viele Jahre hatte Patrick nichts und war obdachlos. Nun ist in der Wohnung alles aufgeräumt, kein Staub liegt auf den Schränken.

Doch Platz für eine Partnerin ist offenbar nicht eingeplant, auch einen Tisch oder eine Couch zum gemeinsamen Essen gibt es nicht. Die Wohnung zeigt etwas anderes: Einsamkeit. "Ich habe keine Familie oder Oma, Opa oder Onkel", erklärt Patrick. Er habe sechs Geschwister. "Aber ich weiß auch nicht. Ich bin irgendwie das schwarze Schaf der Familie." 

Wer ins Heim kommt, kann auf Dauer kein normales Leben führen, weil ja alle im Kopf irgendwie schräg sind.

Patrick

Patricks Mutter war Alkoholikerin, er kam als Sechsjähriger ins Heim. "Wer ins Heim kommt, kann auf Dauer kein normales Leben führen, weil ja alle im Kopf irgendwie schräg sind", sagt er. An das Gesicht seiner Mutter und das frühere zu Hause kann er sich heute nicht mehr erinnern. Er zündet sich eine weitere Zigarette an und hebt den Blick nicht mehr: "Anderes Thema!"

Alles beim Poker verzockt

Einer, der ebenfalls in Halle-Silberhöhe aufgewachsen ist, ist Tom Kesselhut. Sein Vater, gelernter Dachdecker, ist heute Alkoholiker. Dennoch hat es der 31-Jährige geschafft, sich von seiner Hartz IV-Vergangenheit zu lösen. Er lebt heute in Leipzig und hat sich dort erst vor Kurzem eine Eigentumswohnung gekauft. Als er jung war, habe er im Fernsehen "Tokio Hotel" und ihren Song "Durch den Monsun" gesehen. "Ich dachte: Was sind das für Jungs? In zwei Jahren reich und riesengroß?" Die Band aus Magdeburg habe ihn motiviert.

"Ich habe dann Jura studiert", erzählt Tom. Der Gedanke sei gewesen, dass man damit gut Geld verdienen könnte. Doch dieses Studium fand er langweilig. Stattdessen habe er angefangen, Poker zu spielen. "Leider!". Da habe er sein ganzes Geld – Bafög und das Einkommen aus dem Nebenjob als Kassierer – verzockt.

Schließlich wurde Tom doch erfolgreich: mit Onlinespielen im Livestream. Er spielt online Spiele und kommentiert gleichzeitig, was er macht. Mit seinem Charme und Humor hat er sich eine große Fangemeinde aufgebaut – weltweit, denn in den Livestreams und Videos spricht er englisch. Allein auf YouTube hat er als "TommyKay" fast 500.000 Follower. Viele sind aus Asien. Damit verdient Tom inzwischen weit über 10.000 Euro im Monat, verrät er MDR Investigativ.

Chancen auf Aufstieg haben nicht alle

Es gibt sie also, die Menschen, die herauskommen aus der Armut. Doch es gibt offenbar zwei Gruppen, denen es besonders schwerfällt, wieder in Arbeit zu kommen. Beide verkörpert Patrick: Es sind die mit Vorstrafen und jene, die an Substitutions-Programmen teilnehmen. Rund die Hälfte aller Abhängigen von Opioiden sind deutschlandweit in Substitutions-Programmen – 80.000 nehmen daran teil.

Bei diesen Menschen stoße auch das Jobcenter an seine Grenzen, sagt der Geschäftsführer des Jobcenters Halle, Jan Kaltofen. "Weil unsere Aufgabe ist, neben Lebensunterhalt, natürlich das Begleiten im Leben." Und da gebe es wiederum zwei Personenkreise: "Der eine bleibt in unserer Betreuung und der andere Personenkreis ist eben nicht mehr erwerbsfähig."

Raus aus der Armut, Leben ohne Geld vom Amt oder einen besser bezahlten Job zu bekommen – das schaffen, statistisch gesehen, nur wenige. Etwa ein Fünftel der Bevölkerung in Deutschland lebt unterhalb der Armutsgrenze und hat also weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens zur Verfügung. Aus dieser untersten Schicht in ein höheres Milieu aufzusteigen, das haben binnen vier Jahren nur 40 Prozent geschafft, wie aus einer OECD-Studie hervorgeht. Besonders in Deutschland hängt die sogenannte soziale Mobilität ganz maßgeblich mit der Herkunft und den Bildungschancen zusammen.

Für Tom war die Familie immer da

Als MDR Investigativ Patrick vor wenigen Tagen wiedertrifft, hat er Neuigkeiten: "Ich habe Aussicht auf einen Job als Hausmeister auf 520-Euro-Basis." Der junge Mann berichtet, dass er sich das selbst gesucht habe. Doch nur wenig später weicht die Euphorie der Ernüchterung. Die Verabredung platzt, weil die anderen nicht erscheinen und der Arbeitsvertrag kommt offenbar nicht zustande.

Im Gegensatz zu Patrick hatte Tom immer eine Familie, die für ihn da war. Die Eltern des erfolgreichen Streamers sind zwar getrennt – doch "ich komme häufiger in die Silberhöhe, um meine Mutter und meinen Vater zu besuchen", sagt Tom. Zu seinem Vater komme er vor allem, damit dieser nicht so alleine sei.

Ein Beispiel, wie man es von unten nach oben schaffen kann

Seit einigen Monaten ist der Vater trocken. "Mein Vater hat immer das Beste gegeben", sagt Tom. Er könne sich noch an ein Foto erinnern, auf dem der Vater ein Holz-Geschirr mit zwei Teer-Eimern tragen musste: "wie so alte, chinesische Sklaven." Nach der Arbeit als Dachdecker habe sein Vater sich manchmal im Sitzen duschen müssen, weil er so kaputt gewesen sei. "Meines Erachtens hat er sich wirklich den Körper kaputt gemacht. Das wurde dann leider mit Alkohol versucht zu übertünchen. Dieser Schmerz und diese Anstrengung."

Wenn man in so einem Viertel aufwächst, braucht man einfach einen Anker.

Tom Kesselhut

Heute kümmert sich Tom um seinen Vater. Doch das gute Leben, dass er heute führen kann, habe er zum Großteil seiner Familie zu verdanken. "Wenn man in so einem Viertel aufwächst, braucht man einfach einen Anker", sagt er. Für ihn seien das seine Großeltern und seine Mutter gewesen. "Mein Opa war ein gebildeter Mann, ein Schneidermeister, der, der wirklich was draufhatte." Der Großvater habe eine gute Rente bekommen und immer alles für den Enkel gegeben. "Also ein perfektes Beispiel dafür, wie die Familie ein wichtiges Attribut ist, wenn man es aus der 'Unterschicht', wenn man so sagen kann, schaffen kann."

Mehr zum Thema

Dieses Thema im Programm:MDR+ | MDR exactly | 27. März 2023 | 17:00 Uhr

Kommentare

Laden ...
Alles anzeigen
Alles anzeigen