Tagesbetreuung Neues Autismusförderzentrum in Halle eröffnet

09. Oktober 2022, 15:02 Uhr

In einem neuen Autismusförderzentrum in Halle werden Erwachsene betreut, die Autismus oder schwere Behinderungen haben und nicht in Behindertenwerkstätten arbeiten können. Auch eine Tagesgruppe für Kinder und Jugendliche soll entstehen. Das Ziel: Alle Patienten so selbstständig und so lebensfähig wie möglich machen. Sowohl in Sachsen-Anhalt als auch deutschlandweit braucht es dringend mehr Förderangebote, sagt der Träger.

In der Delitzscher Straße in Halle gibt es seit Oktober ein neues Autismuszentrum. Auf zwei Etagen des Gebäudes befinden sich eine logo- und eine ergotherapeutische Praxis, eine Fördergruppe für Autisten und eine Tagesbetreuung für Menschen mit schweren körperlichen und geistigen Behinderungen. Auch eine Tagesgruppe für Kinder und Jugendliche soll hier entstehen. Die Betreuungs- und Behandlungskosten trägt das jeweilige Sozialamt.

Autismus Autismus ist eine Entwicklungsstörung mit vielen verschiedenen Ausprägungen. Manche Autisten können ein relativ normales Leben führen, andere lernen nie richtig sprechen und brauchen viel Unterstützung. Die meisten Autisten haben Probleme, sich in andere hineinzuversetzen, deren Gefühle zu verstehen und angemessen darauf zu reagieren. Außerdem sind sie schnell von ihrer Umwelt überfordert und kommen nicht gut mit Veränderungen zurecht. Sie brauchen feste Abläufe und bekannte Strukturen, um ein Gefühl von Sicherheit und Orientierung zu haben. Sind Autisten überfordert und kommen in den sogenannten "Overload" kann es zu Ausrastern kommen, bei denen Betroffene zum Beispiel wild um sich schlagen oder wegrennen. Weltweit geht man davon aus, dass etwa ein Prozent Autismus hat. Jungen sind dabei vier Mal häufiger betroffen als Mädchen.

Alternative zu Pflegeheim und Psychiatrie

Das Zentrum ist ein Angebot für alle, die großen Förderbedarf haben und aufgrund ihrer Einschränkungen nicht in einer Behindertenwerkstatt arbeiten können oder wegen der begrenzten Plätze nicht in einer klassischen Fördergruppe unterkommen. Diese jungen Erwachsenen laufen nach der Schulzeit oft ins Leere, haben keine Perspektive.

Das ist auch eine große Belastung für die Eltern, sagt Raik Himmel, der für die Träger des Zentrums spricht. Immerhin sei es für die wenigsten eine Option, ihr achtzehnjähriges Kind in ein Pflegeheim zu geben. Das habe nichts mit Förderung zu tun, so Himmel, sondern sei eher ein "Abstellen", zumal Autisten, die bei Überforderung zu Ausrastern neigten, auch schnell mal in der Psychiatrie landen würden.

Eigenständigkeit entwickeln

Das möchte Raik Himmel ändern. Deshalb hat er gemeinsam mit seiner Frau, die die logopädische Praxis "Sprachwerkstatt" in Halle-Ammendorf betreibt, und der Geschäftsführerin der team-social-solutions GmbH, Rena Bothe, das Autismuszentrum gegründet. Es soll eine Anlaufstelle für alle sein, die bisher durchs Raster gefallen sind, ein Ort, an dem gemeinsam an der Kommunikationsfähigkeit gearbeitet und jeder so selbstständig und so lebensfähig wie möglich gemacht wird. "Alle werden gemäß ihren Fähigkeiten eingebunden. Wir kaufen zusammen ein, kochen, waschen das Geschirr ab und putzen, natürlich alles im Rahmen der Möglichkeiten", erklärt Raik Himmel.

Hinzu kämen die Therapieangebote der logo- und der ergotherapeutischen Praxis, die mit den Patienten zum Beispiel an Sprache, Kommunikation, Beweglichkeit und Körpergefühl arbeiten. Der Weg zu mehr Eigenständigkeit ist nach Aussage von Himmel natürlich ein langwieriger Prozess, der nicht in ein paar Wochen abgeschlossen werden kann. Ergänzend zu der Tagesbetreuung kann sich der Logopäde auch betreute Wohngemeinschaften für die Patienten vorstellen. In einzelnen Fällen sei vielleicht auch ein Praktikum mit einer Eins-zu-eins-Betreuung oder eine begleitete Ausbildung möglich.

Himmel stellt jedoch klar, dass jeder, der dem Arbeitsmarkt auf irgendeine Art zur Verfügung steht, zum Beispiel im Rahmen einer Werkstatt für Behinderte, kein Fall für die Fördergruppe des Autismuszentrums ist, selbst wenn Eltern oder Betreuer das wünschen. Da gebe es entsprechend andere Angebote, zum Beispiel Fördergruppen, die direkt an eine Behindertenwerkstatt angeschlossen sind. Das Autismuszentrum konzentriere sich vor allem auf Autisten und Erwachsene mit schweren körperlichen und geistigen Behinderungen, von denen die meisten wahrscheinlich nie arbeiten gehen können.

Fehlende Förderangebote

Nach Aussage von Himmel braucht es aber nicht nur mehr Förderangebote, sondern das Land müsse sich auch den Problemen annehmen, die dazu beitragen, dass Autisten und Menschen mit schweren Behinderungen nach der Schulzeit oft keine Perspektive haben.

So gebe es etwa keine Schulform, die wirklich für Autisten geeignet sei, der Bedarf an Praktikumsstellen für Förderschüler sei durch die vorhandenen Plätze nicht ausreichend abgedeckt und nach der Schule bräuchte es mehr Fördergruppenplätze. Außerdem fehlten spezielle Angebote für Autisten und schwerbehinderte Menschen.

Himmel erklärt, die Situation werde auch dadurch verschlimmert, dass die Sozialagentur Sachsen-Anhalt, die solche Förderzentren bewilligen muss, aktuell keinen Bedarf sieht. Lange, komplizierte Abläufe, ein pures Entscheiden nach Aktenlage und ein fehlendes Gespür für die Realität führten dazu, dass das Land gewissermaßen als Bremse fungiere.

Raik Himmel hofft, dass das neue Zentrum zeigen kann, wie dringend es solche Förderangebote für Autisten und schwerbehinderte Menschen braucht und es vielleicht ein Umdenken anstoßen kann. Für Halle wünscht er sich eine gute Zusammenarbeit mit bereits etablierten Trägern wie der Autismusambulanz oder dem Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ). Er ist zuversichtlich, dass sich innerhalb der Stadt ein gutes Netzwerk entwickeln wird.

MDR (Annekathrin Queck)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT - Das Radio wie wir | 09. Oktober 2022 | 12:00 Uhr

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