Frisuren für Bedürftige Barber Angels in Halle: Waschen, schneiden, wertschätzen

20. Juni 2022, 10:11 Uhr

Die "Barber Angels Brotherhood" schneidet nun auch in Halle die Haare von Menschen, die sich sonst keinen Friseurbesuch leisten können. Dazu gehören zahlreiche Menschen, die keine Wohnung haben. Andere Städte in Sachsen-Anhalt fragen die ehrenamtlichen Friseurinnen und Friseure bereits an.

Daniel Tautz vor einer grauen Wand
Bildrechte: MDR/Jörn Rettig

Wer an diesem Sonntagmittag auf den Hof der halleschen Lutherkirche tritt, muss die Eindrücke erst einmal sortieren: Da stehen zunächst die aufgereihten Biertische, vollgepackt mit Scheren, Trimmern, Kämmen, Sprühflaschen. Dann ist da die Sonne, die mit satten 35 Grad vom Himmel brennt. Und dann sind da rund 30 Menschen versammelt, die meisten von ihnen mit schwarzen Lederwesten am Körper. "Barber Angels Brotherhood" prangt auf den Aufnähern. Sie sind heute zu ihrer Halle-Premiere gekommen.

Haarschnitt im Innenhof

Die Zeiger am Kirchturm stehen kurz vor 13 Uhr. Ein letztes Foto, ein Einschwören im Team, dann verteilen sich die Lederwesten im schattigen Innenhof. Armin ist einer der ersten, der den Hof betritt. Er setzt sich auf eine der Bierbänke und zieht seine Mütze vom Kopf. "Die Spitzen ein bisschen ab", sagt er und schüttelt sein schulterlanges, braunes Haar. "Und eine fesche Stufe reinmachen."

Armin wohnt im Haus der Wohnhilfe in Halle, erzählt er. Mit der Pflege und den Duschen gehe das in der Obdachlosenunterkunft ganz gut. Aber sein letzter Haarschnitt ist schon lange her. Hinter ihm steht Ute Bock, mit langen Haarnadeln steckt sie das Haar in Position, bevor sie behutsam die Schere ansetzt. Die Friseurin aus Halle ist heute das erste Mal dabei, "Gäste-Engel" steht auf ihrem T-Shirt. Neben ihr sind aber auch viele "erfahrene" Engel angereist, Friseurinnen und Unterstützer zum Beispiel aus Berlin, aus Leipzig.

Frisuren für mehr Selbstbewusstsein

"Jeder hat es verdient, ein menschenwürdiges Dasein zu führen", erklärt Nico, während er im Schatten eines Baumes steht. "Und dazu gehört auch ein vernünftiger Haarschnitt." Der stämmige Mann trägt natürlich Weste und wird hier liebevoll ‘Papa Bär’ genannt.

Mit ihren Aktionen wollen sie vor allem das Selbstbewusstsein der Menschen stärken. Dass das klappe, sehe man immer wieder auf den Einsätzen. "Die Menschen kommen gebrochen, die kommen gebückt", sagt Nico. "Aber wenn sie merken, es gibt Menschen, die mir helfen und zuhören, wachsen die auf einmal aus sich heraus. Und nutzen vielleicht die Chancen, die sich auftun, und schreiben zum Beispiel eine Bewerbung."

Ein paar Schritte weiter an der Bierbank surren zwei Trimmer im monotonen Gleichklang. Einer liegt in der Hand von Cathy, einer Friseurin aus Magdeburg. Wie alle anderen ist auch sie ehrenamtlich hier. "Man fühlt sich mit ‘nem Haarschnitt doch viel viel wohler", sagt sie, während sie die Kontur an einem Haaransatz verfeinert. "Und wenn die Leute rausgehen haben sie ein Lächeln im Gesicht."

Viel mehr als nur ein Projekt für Obdachlose

Auf dieser hölzernen Bank haben in der letzten Stunde viele Leute ihre Haare gelassen: Marcel, der früher mal obdachlos war und jetzt mit Hartz IV und den Lebensmittelpreisen zu knabbern hat. Lena Andrea, die kurz vor ihrer geschlechtsangleichenden Operation steht und gepflegt im Krankenhaus auftauchen möchte. Oder Bärbel, die über die Suppenküche bald einen Ausflug nach Wernigerode macht, bei dem sie frisch zurechtgemacht durch die Altstadt spazieren möchte. Die Gäste der Barber Angels sind so vielfältig wie ihre Lebensgeschichten.

Die Barber Angels Brotherhood wurde 2016 im schwäbischen Bad Biberach von einem Friseurmeister gegründet. Mittlerweile hat sich die Initiative in ganz Deutschland und teilweise gar in Europa ausgebreitet. Dass die Barber Angels jetzt auch in Halle schneiden, geht auch auf das Team vom Hilfebus "Vier Jahreszeiten" zurück.

Hilfebus aus Halle hat Barber Angels geholt

Der fährt dreimal die Woche durch Halle und verteilt Suppe, verschenkt Klamotten und bietet offene Ohren. Mit an Bord ist Familie Strübing mit ihren ehrenamtlichen Freunden und Bekannten. Für viele Bedürftige in Halle ist das Projekt mittlerweile eine Institution geworden. David Strübing weiß, dass auch an einem Tag wie heute bei weitem nicht nur Obdachlose ihre Hilfe benötigen.

80 Prozent der Menschen hier haben eine Wohnung, 20 Prozent sind unsere Weltenbummler.

David Strübing

Während im Innenhof geschnippelt und rasiert wird, steht das Team vom Hilfebus auf dem sonnigen Vorplatz der Lutherkirche, hakt die Terminliste ab und verteilt Hygienebeutel mit Zahnpasta oder Mundspülung. "Wir müssen die Basis erfüllen, dass keiner Hunger leiden muss", sagt David. "Aber dann schon kommt die Pflege, das Wohlfühlen, die Würde."

Vom Pfeffi-Heiko zum Gast-Engel

Zwischen allen wuselt heute auch Gast-Angel Heiko umher. Mit kräftigen Bewegungen fegt er gerade ein paar dichte Locken zusammen, die der drückende Sommerwind noch nicht weggeweht hat. Vor ein paar Jahren nannte man ihn noch Pfeffi-Heiko. Damals als er am Leipziger Hauptbahnhof auf der Straße lebte. Bevor er über einen Streetworker in eine Entzugsklinik kam und sein Leben wieder auf die Spur brachte. Jetzt kehrt er hier die Haare zusammen und räumt auf.

"Als ich noch auf der Straße war, bin ich einmal in vier Wochen duschen gewesen", erzählt er heute. "Die Leute haben einen Bogen um mich gemacht, weil ich so gestunken habe." Mittlerweile wisse er, wie wichtig schon ein bisschen Pflege sein kann. Und wie viel wichtiger noch solche Angebote wie die der Barber Angels.

Termine werden von weiteren Städten angefragt

Über den Nachmittag verteilt setzen sich um die 50 Personen auf die Bierbänke und lassen sich frisieren. Kein schlechter Start für die Barber Angels in Halle, auch wenn hier alle wissen, dass der Bedarf noch viel größer ist. Bei vielen Obdachlosen gebe es zunächst eine große Scham, herzukommen, erklärt Barber Angel Nico. Zudem müsse sich das Angebot natürlich erst rumsprechen. Und das kann es jetzt auch, denn künftig werden die Barber Angels alle drei Monate in Halle schneiden.

Und wie sieht es im Rest von Sachsen-Anhalt aus? "Wir haben Anfragen aus Zerbst, aus Wernigerode, aus Halberstadt", zählt Nico auf. "Der Bedarf ist auf jeden Fall da. Und der wird nicht weniger, sondern leider immer mehr." Doch dafür braucht es natürlich überall weitere ehrenamtliche Helferinnen und Helfer – und Menschen, die die Organisation der Events übernehmen.

Als die Zeiger am Kirchturm auf 16 Uhr stehen, wird es ruhiger an den Frisierbänken. Dafür sammeln sich die Menschen jetzt am Kuchenbuffet, mit einem Kräppelchen oder einem kühlen Eistee in der Hand. Sie tauschen sich aus, freuen sich über ihre neuen Frisuren, lachen gemeinsam. Denn auch darum geht es bei den Barber Angels: gute Gespräche und eine ordentliche Portion Wertschätzung.

MDR (Daniel Tautz,Julia Heundorf)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 18. Juni 2022 | 08:30 Uhr

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