Antisemitismus Ein Jahr nach dem Anschlag von Halle: Gedenken ist nicht genug
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Ein Jahr nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle und dem Tod zweier Menschen gedenkt die Stadt den Betroffenen. Doch wie nachhaltig wirkt das gegen Antisemitismus und Rassismus? Eine Einschätzung von einem Gedenktag, der nicht reicht.

Es ist nach 11 Uhr, als ich am 9. Oktober 2020 meine Wohnung in Halle verlasse, um zum Gedenken auf den Marktplatz zu gehen. Vor einem Jahr hat ein bewaffneter Mann in Halle die Synagoge angegriffen und zwei Menschen getötet. Um 12:01 Uhr sollen die Glocken der Stadt läuten – und die Menschen schweigen.
Ich hatte geplant, früher loszugehen. Konnte ich aber nicht. Ich hatte die Befürchtung, von Halle, von meinen Nachbarn enttäuscht zu werden. Dass sich viel zu wenige mit diesem Tag, dem antisemitischen Anschlag, überhaupt beschäftigen würden. Und diese Befürchtung will ich nicht bestätigt sehen. Mit einem flauen Gefühl im Magen gehe ich los.
Doch gleich in der Nähe hat das Landesnetzwerk der Migrantenorganisationen Sachsen-Anhalt (LAMSA) einen Stand aufgebaut. Davor malen drei Personen mit Kreide Figuren auf den Gehweg, die sich an den Händen halten. Eine Menschenkette der Corona-Zeit. In einigen Läden auf dem Weg in die Innenstadt hängen hellblaue Plakate, auf denen zum Beispiel "Wir gedenken" steht. Schlicht, eine kleine Geste – und gerade deshalb so eine schöne Idee. Ich fühle mich besser.
Polizei und Presse
Auf dem Marktplatz sind nicht bedeutend mehr Menschen unterwegs als an einem gewöhnlichen Tag – ganz anders als beim Gedenkkonzert für die Opfer des Anschlags. Der Marktplatz war voll gewesen. Dafür sind viele Medienvertreter und Polizisten unterwegs. Ich zähle allein fünf Kamerateams und etwa zehn Polizeiwagen.
Auch auf dem Markt entstehen mehr und mehr Kreidemenschen. Und Schriftzüge, die sich gegen Terror, Antisemitismus, Rassismus und für Frieden und Menschenwürde aussprechen. "Wenn’s regnet, ist das alles wieder weg", bemerkt eine Frau. Es nieselt leicht.
"Was ist Ihnen durch den Kopf gegangen?"
Kurz nach dem Mittagsglockenschlag beginnt das Carillon auf dem Roten Turm zu spielen. Das Lied heißt Hevenu Shalom Alechem – Wir wollen Frieden für alle. Die Menschen auf dem Platz vor der Marktkirche schweigen. Kurz denke ich, dass sogar die Straßenbahnen stehen bleiben, aber das ist nicht so. Die zwei Minuten Stille sind schnell vorbei. Ich schaffe es in der Zeit bei weitem nicht, alle Gedanken in Ruhe zu Ende zu denken, die ich in dem Moment im Kopf habe.
Mit dem Ausklang des jüdischen Lieds kommt wieder Bewegung in die verharrten Menschen auf dem Marktplatz. Die Menge löst sich rasch auf. Ich gehe zum Geoskop. Dort stehen einige Kerzen und Blumen. Ein Meer wie im vergangenen Jahr ist es aber nicht. Doch in diesem Jahr ist um das Geoskop eine violette Linie auf dem Boden gezogen. Auf ihr steht: "Wie haben Sie sich gefühlt? Was ist Ihnen durch den Kopf gegangen?"
Eigentlich beziehen sich die beiden Fragen auf den Anschlagstag. Ich beziehe sie jedoch unwillkürlich auf diesen Gedenktag, auf die Kreide-Menschenkette, die Schweigeminuten, das Glockenläuten, die Kränze vor Synagoge und Kiezdöner. Auf das "ein Jahr danach".
Und ich denke: Das ist doch nicht genug. Das verändert doch nachhaltig viel zu wenig.
Begegnungen schaffen
Nach dem Anschlag am 9. Oktober 2019 habe ich zu jüdischem Leben in Sachsen-Anhalt recherchiert. Bis dahin kannte ich keinen deutschen Juden. So geht es vermutlich sehr vielen. Am Steintor höre ich kurz bei der Liveübertragung der Demokratiekonferenz zu, wie eine Jüdin vom Programm "Meet a Jew" erzählt, auf Deutsch "Triff einen Juden". Sie sagt, selbst wenn sich sämtliche Jüdinnen und Juden in Deutschland an dem Programm beteiligen würden, würde es Jahrzehnte dauern, um alle Schulklassen einer Jahrgangsstufe zu besuchen.
Dabei wäre ein Kennenlernen so wichtig. Im Unterricht über den Holocaust zu sprechen, scheint nicht zu reichen, um antisemitische Vorurteile abzubauen. So sehen das auch einige andere Menschen auf dem Marktplatz.
Es reicht anscheinend nicht, in der Schule darüber aufzuklären, sondern man muss ganz aktiv Berührungspunkte schaffen zwischen verschiedenen Religionen, zwischen verschiedenen Menschen. Damit Leute verstehen, dass 'anders' nicht bedeutet, dass das falsch ist oder schlecht.
Umleitung um die Auseinandersetzung
Zu den Gedenkveranstaltungen an der Synagoge und am Kiezdöner sind nur geladene Gäste zugelassen. Die Ludwig-Wucherer-Straße ist dafür gesperrt. Straßenbahnen werden für die Zeit umgeleitet; "wegen einer Veranstaltung", wie es auf den Anzeigetafeln an den Haltestellen umschrieben wird.
Ich habe den Eindruck: Wer sich nicht ohnehin durch den Anschlag betroffen fühlt, muss sich nicht einmal heute, am Gedenktag, damit auseinandersetzen. Schon am Rande der Innenstadt sehe ich keine Kreidesprüche und Kreidemenschenketten mehr auf dem Gehweg. Gegen Abend regnet es. Also dürfte auch die Kreide auf dem Markt nicht lange standhalten.
Aber die Zeichnungen sind eben auch nur: gesetzte Zeichen. Was an einem Gedenktag passiert – gegen Hass, für friedliches Zusammenleben – ist überhaupt nicht wichtiger als das, was an den übrigen Tagen des Jahres passiert. Das sind dann vielleicht eher die kleinen, alltäglichen Verhaltensweisen: Zivilcourage, Offenheit für vermeintlich Fremde. Ulrike Thomann, die für den Gedenktag extra nach Halle gereist ist, fasst es so zusammen:
Es war wirklich eine Gewalttat, aber Gewalttaten fangen schon früh an. Das sind schon Unfreundlichkeiten oder sich besser fühlen als andere, Ausgrenzung. Es gibt so viele Dinge, die vorher passieren – wo wir alle etwas machen können.
Über die Autorin Maria Hendrischke arbeitet seit Mai 2017 als Online-Redakteurin für MDR SACHSEN-ANHALT – in Halle und in Magdeburg. Ihre Schwerpunkte sind Nachrichten aus dem Süden Sachsen-Anhalts, Politik sowie Erklärstücke und Datenprojekte. Ihre erste Station in Sachsen-Anhalt war Magdeburg, wo sie ihren Journalistik-Bachelor machte. Darauf folgten Auslandssemester in Auckland und Lissabon sowie ein Masterstudium der Kommunikationsforschung mit Schwerpunkt Politik in Erfurt und Austin, Texas. Nach einem Volontariat in einer Online-Redaktion in Berlin ging es schließlich zurück nach Sachsen-Anhalt, dieses Mal aber in die Landeshauptstadt der Herzen – nach Halle. Ihr Lieblingsort in Sachsen-Anhalt sind die Klausberge an der Saale. Aber der Harz ist auch ein Traum, findet sie.
Quelle: MDR/mh
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 09. Oktober 2020 | 19:00 Uhr
Hallebewohner vor 26 Wochen
Der geisteskranke Täter kam aus Eisleben und nicht aus Halle. Was hat die Stadt Eisleben bisher getan um diese grausige Tat eines Bürgers ihrer Stadt aufzuarbeiten? Der Mann hat sich schließlich in Eisleben radikalisiert. Was tut man in Eisleben gegen solche Möglichkeiten der Radikalisierung im politischen und religiösen Bereich? Ich habe Wortmeldungen der Stadtoberen von Eisleben bei den Gedenkveranstaltungen in Halle vermisst!
SGDHarzer66 vor 26 Wochen
Außer ihrer Stimme im Chor der Empörungsdemokraten entnehme ich starke Defizite in puncto Grammatik. Sie bestätigen zumindest die Pisa-Studien. Ist ja auch was wert.
H.E. vor 26 Wochen
@Altmeister 50
Sie haben völlig recht und ich kann sie nur damit unterstützen.
Es wird ja immer lautstark behauptet, die Juden haben den Palästinensern das Land weggenommen. Haben sie nicht, sondern aufgrund der Idee der Kibbuzbewegung von den Palästinensern gekauft für sehr viel Geld, die sich durch das wüstenähnliche Gebiet eine goldene Nase verdienten was die Juden urbar machten. Und bereits dreimal hätten die Palästinenser einen eigenen palästinensischen Staat haben können, aber immer verworfen und zwar das erste Mal bereits ein Tag nach der Gründung von Israel durch die UNO.