Verbrechen Vor 20 Jahren explodierte in Halle ein Wohnhaus – ein MDR-Reporter erinnert sich
Hauptinhalt
21. Dezember 2022, 19:04 Uhr
Am 21. Dezember 2002 erschütterte eine schwere Explosion das vorweihnachtliche Halle. Am Reileck flog ein Wohnhaus in die Luft. Die Opferbilanz: ein schwer- und vier Leichtverletzte und wie durch ein Wunder keine Toten! MDR SACHSEN-ANHALT-Reporter Theo M. Lies gehörte damals zu den ersten Journalisten, die den Explosionsort erreichten, und ist nun – nach 20 Jahren – an den Tatort zurückgekehrt.
- Kurz vor dem Weihnachtsfest wird für MDR-Reporter Theo M. Lies ein ganz normaler Samstag zu einem Datum, das er nie vergisst.
- Anwohner Joachim Rammelt hat die Detonation in der Stephanusstraße in Halle damals hautnah miterlebt.
- Im Nachhinein wird klar: Das vermeintliche Unglück war keines – sondern ein Verbrechen.
Es gibt Daten, da weiß man noch Jahrzehnte später, was man an diesem Tag gemacht hat. Für mich beginnt dieser Samstag kurz vor Weihnachten im Jahr 2002 zunächst mit Routine. Als Bereitschaftsreporter für MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE treffe ich mich mit meinem Kamerateam im halleschen Funkhaus und gehe die möglichen Einsätze für den Tag durch, als gegen 11 Uhr unser Tonmann zu mir kommt und aufgeregt von einer Explosion am Reileck berichtet. So eine Nachricht will man ja zunächst nicht glauben, doch als wir 15 Minuten später den Ereignisort an der Stephanuskirche erreichten, war jeder Zweifel verflogen.
Fensterscheiben zerborsten, Autos zertrümmert
Direkt neben dem Gotteshaus türmen sich Trümmer, da, wo einmal das Haus Nummer 3 gestanden hat. Aus denen schlagen noch Flammen, Feuerwehrleute mit Schutzmasken bekämpfen noch immer den Brand. In den Nachbargebäuden klaffen tiefe Wunden, im Umkreis von 100 Metern sind die Fensterscheiben zerborsten, Autos sind zertrümmert. Über allem liegt eine handdicke Staubschicht.
Mittlerweile glüht mein Mobiltelefon, die Explosion beherrscht bereits die Nachrichten. Entsprechend hoch ist das Interesse an Informationen. Für die Hörfunkwellen des Mitteldeutschen Rundfunks setze ich erste Berichte ab, weitere ARD-Sender melden sich mit Interviewanfragen. In den ersten beiden Stunden werden es wohl zehn gewesen sein. Zudem heißt es, Kontakt zur Polizei zu finden, zu den Rettungskräften, auch zu möglichen Zeugen. Immerhin sind fünf Verletzte zu beklagen, aber – wie durch ein Wunder – keine Toten. Aber noch immer ist nicht klar, ob es weitere Opfer gibt, Suchhunde werden an den Trümmerbergen eingesetzt.
Weitere Journalistenkollegen stoßen dazu. Für den Abend wird eine Direktschaltung vorbereitet, das war vor 20 Jahren noch ein hoher technischer Aufwand.
Anwohner: "Als wir vor die Türen traten, gab es Nummer 3 nicht mehr"
All das hat auch Joachim Rammelt direkt miterlebt. Er bewohnt mit seiner Familie ein schmuckes kleines Haus in der Stephanusstraße, direkt gegenüber der einstigen Nummer 3. Dort ist heute – statt einer stattlichen Gründerzeitvilla – ein profaner Parkplatz.
"Es war wirklich unfassbar, was da passiert ist. Erst diese beiden Detonationen, dann flogen uns die Fensterscheiben um die Ohren, allerdings standen wir an einer Mauer und wurden nicht verletzt. Und als wir vor die Türen traten, dann gab es die Stephanusstraße Nummer 3 nicht mehr. Dafür aber eine riesige dunkle Wolke."
40 Menschen aus der Nachbarschaft brauchten neue Bleibe
So schildert der ehemalige Zeitungsjournalist aus heutiger Sicht die Situation. Und weil ich Joachim Rammelt als früheren Kollegen kenne, habe ich ihn auch an jenem Unglückssonnabend vor 20 Jahren angesprochen, kurz nach der Explosion. Doch damals winkt er nur verzweifelt ab, kann das alles noch gar nicht fassen, denn auch sein Haus war erheblich geschädigt, wie er heute berichten kann. "Die Fassade hatte Risse, eine Mauer war verschoben, sämtliche Fenster von der Druckwelle zerstört."
Die Fassade hatte Risse, eine Mauer war verschoben, sämtliche Fenster von der Druckwelle zerstört.
Die Rammelts kommen dann über die Feiertage bei Verwandten unter, wie auch 40 weitere Bewohner aus dem Kiez.
Manipulierte Gasleitung: Verdacht fällt auf verschuldeten Hausbesitzer
Inzwischen wird fieberhaft nach den Ursachen dieser Gasexplosion gesucht. Man findet eine manipulierte Gasleitung, und aus dem Unglück wird ein Verbrechen. Bald schon konzentrieren sich die Ermittlungen auf den hochverschuldeten Hausbesitzer Norbert W. Der wollte sich dadurch eine millionenschwere Versicherungssumme erschleichen. Im April 2004 klickten die Handschellen. Das Landgericht verurteilte den damals 40-jährigen Finanzberater zu 15 Jahren Haft wegen versuchten Mordes.
Nach der Urteilsverkündung allerdings kam er wegen eines juristischen Formfehlers noch einmal auf freien Fuß und nutzte die Gelegenheit zur Flucht. In Albanien haben ihn Zielfahnder dann aufgestöbert und dann doch noch hinter Schloss und Riegel gebracht. Und bleibt es noch – nach Informationen der Staatsanwaltschaft Halle – bis 2028, denn das Sündenregister des Mannes ist inzwischen weiter gewachsen.
Heute erinnert fast nichts mehr in der Stephanusstraße an diese Explosion. Hunderte Fenster sind längst repariert, die Gebäude ringsum wieder in Ordnung und fein saniert. Wäre da nicht diese merkwürdige Lücke in der Häuserzeile, die heute ein Parkplatz nur unzureichend füllt.
MDR (Theo M. Lies, Daniel Salpius)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT-HEUTE | 21. Dezember 2022 | 19:00 Uhr