Zwei junge Frauen mit dicken Jacken an einem Herbsttag.
Die Hebammen-Studentinnen Sophie und Luise (rechts) sind im 3. Semester an der Universität in Halle eingeschrieben. Bildrechte: MDR/Luise Kotulla

Hebammenwissenschaft Hörsaal und Kreißsaal: So lernen Hebammen in Sachsen-Anhalt

19. November 2022, 17:59 Uhr

Wer Hebamme werden möchte, muss studieren. In Sachsen-Anhalt ist das lediglich in Halle möglich. Zwei angehende Hebammen, die zum ersten Jahrgang gehören, erzählen über ihre Herausforderungen – und Glücksmomente.

Luise Kotulla
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Die rund 20 Studentinnen sitzen fast alle pünktlich 9 Uhr in der Hörsaalbank, Tablet oder Laptop stehen zum Mitschreiben bereit, die Dozentin spricht über die Vorsorge bei Schwangeren. Sophie Anson aus Halle, 19 Jahre alt, und Luise Siegel, 20, aus Sachsen, schauen konzentriert auf ihre Tablets und machen sich Notizen. Sie gehören zum ersten Jahrgang, der in Sachsen-Anhalt ihren Wunschberuf Hebamme nicht mehr per Ausbildung lernt, sondern im Studium.

Eine Dozentin hält im Stehen eine Vorlesung.
Dozentin Almut Bickhardt arbeitet auch als Hebamme. Bildrechte: MDR/Luise Kotulla

"Was müsst ihr bei der Vorsorge machen?", fragt Hebamme Almut Bickhardt in die Runde. "Blutdruck messen", meldet sich eine Studentin. "Und Gewicht". Eine andere: "Herztöne vom Kind abhören". Die Dozentin ergänzt, was die Studentinnen nicht wissen: abdominal tasten und erfragen bzw. selbst prüfen, ob es Wassereinlagerungen bei der Schwangeren gibt.

Sophie und Luise sitzen nebeneinander in den schwarzen Holz-Bänken des alten Hörsaals in der Magdeburger Straße. "Hebammenwissenschaft" nennt sich ihr Studiengang an der Martin-Luther-Universität in Halle. Es ist der einzige in ganz Sachsen-Anhalt. Beide waren mehr als glücklich, in ihrer Heimat oder zumindest ganz nah zu ihrem Wohnort einen Studienplatz bekommen zu haben. "Sophie und ich hatten uns an über zehn Universitäten bzw. Kliniken in Deutschland beworben, um unserem Traum nachzugehen. Davon waren mehr Absagen als Zusagen dabei, weil so viele Mädels diesen Beruf erlernen wollen", erklärt Luise.

Sophie und ich hatten uns an über zehn Universitäten bzw. Kliniken in Deutschland beworben, um unserem Traum nachzugehen.

Luise Siegel, Studentin

Zur Hebamme im Studium statt in der Ausbildung

Studentinnen sitzen in Hörsaal-Bänken.
Luise und Sophie in der Vorlesung mit ihren Kommilitoninnen. Bildrechte: MDR/Luise Kotulla

An den beiden Hebammenschulen in Sachsen-Anhalt konnten sie sich nicht mehr bewerben – die Politik hatte schon lange beschlossen, dass der Beruf studiert werden muss. Das ist europaweit so. Doch ob Berufsausbildung oder Studium, das war der 20-jährigen Luise auch egal. "Ich hätte es auch gemacht, wenn es noch eine Ausbildung gewesen wäre. Es geht, glaube ich, uns allen darum, den Beruf zu erlernen, diese Tätigkeiten ausüben zu dürfen."

Vier Jahre dauert das Bachelor-Studium, am Ende werden die Studentinnen einen Berufs- und einen Studienabschluss haben. Konzipiert hat den Studiengang vor allem die Leiterin des Studiengangs, Dr. Gertrud Ayerle. "Wir hatten hier an der Universität auch schon 2008 das Angebot, dass Hebammenschülerinnen Module belegen konnten, um dann einen Bachelor zu erwerben. Das wurde dann beendet. Und es war die ganzen Jahre über mein Anliegen, dass wir einen Hebammenstudiengang hier an der medizinischen Fakultät aufbauen."

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Dr. Gertrud Ayerle Gertrud Ayerle ist gelernte Hebamme, zudem gelernte Krankenpflegerin. Sie hat mehrere Jahre in Kenia gearbeitet und sowohl ihr Bachelor- als auch Masterstudium in Washington (USA) absolviert. Danach war sie zwei Jahre an einer der dortigen Universitäten als praktische Dozentin tätig.

Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland arbeitete sie sechs Jahre an einer Hebammenschule, bevor sie an die Martin-Luther-Universität (MLU) in Halle wechselte. Dort erfolgte 2009 die Promotion zum Thema "Wohlbefinden in der Schwangerschaft". Viele Jahre hat sie am Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft der MLU gearbeitet. Dr. Ayerle leitet den im Jahr 2021 ins Leben gerufenen Studiengang "Hebammenwissenschaft". Die Hebammenforschung hat sie am Institut bereits vor 15 Jahren aufgebaut.

Sie selbst ist gelernte Hebamme, hatte in den USA dann sowohl Bachelor als auch Master gemacht und kannte dadurch das modularisierte Studien-System. Außerdem halfen ihre Jahre als Dozentin an einer Hebammenschule. "Das Prinzip ist sowohl an der Hebammenschule als auch im Studium, dass man mit kleineren Fertigkeiten beginnt und dann den Schweregrad und die Vielfältigkeit der Hebammen-Tätigkeiten im Verlauf der Ausbildung steigert und den Anspruch erhöht", so Dr. Ayerle.

Studium zur Hebamme: Diese Module gibt es

  • Medizinische Grundlagen
  • Grundlagen der Hebammentätigkeit
  • Hebammenpraxis: Grundlagen der Betreuung
  • Evidenzbasierte Praxis
  • Die Hebamme und das multiprofessionelle Team
  • Reproduktive Zeit: Fachkenntnis, Diagnostik und Beratung
  • Ethik und Geschichte
  • Hebammenpraxis: Physiologische Schwangerschaft, Geburt und postpartale Zeit
  • Hebammenhandeln im Wochenbett, bei der Geburt, in der Säuglingszeit
  • Qualitätsmanagement
  • Hebammen und vulnerable Familien
  • Familiengesundheit, Frühe Hilfen und Kinderschutz
  • Case Management

Verantwortung mit Neugeborenen

Das merken auch Sophie und Luise, die mittlerweile im dritten Semester sind. In ihrem letzten Praxiseinsatz – das sind pro Semester sechs Wochen – durften sie im Kreißsaal schon einiges, bei dem sie zu Beginn ihres Studiums noch zuschauen mussten. Jetzt konnten sie beispielsweise Schwangere vaginal untersuchen und auch die U1 durchführen, also die erste Untersuchung des Neugeborenen direkt nach der Geburt. Das sei einerseits mit Aufregung verbunden gewesen, andererseits aber auch eine tolle Erfahrung: "Es ist eine verantwortungsvolle Aufgabe, gegebenenfalls Pathologien (Krankheiten, d. Red.) zu erkennen. Und dann hat man die tolle Aufgabe, den Eltern alles am Kind zu zeigen und zu vermitteln, dass alles in Ordnung ist", erinnern sie sich.

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Vieles lernen sie an der Uni in Rollenspielen und sind von dieser Art des Lernens begeistert. Eine Studentin spielt die Schwangere, eine die Hebamme und eine dritte beobachtet lediglich. Da geht es zum Beispiel um die Wochenbettvisite bei Mutter und Kind nach der Geburt. "So können wir Situationen, die auch in der Praxis entstehen, im Vorfeld üben. Können uns selbst reflektieren, wie wir gehandelt haben oder wie wir handeln müssen", sagen die Studentinnen. "Und es ist immer eine schöne Motivation, dass man weiß: Die Belohnung ist, wenn man dann in der Praxis ist, anwenden zu können, was man bis jetzt gelernt hat", erzählt die 19-jährige Sophie.

Mehr als 300 Bewerberinnen und Bewerber pro Jahrgang Insgesamt mehr als 300 Frauen und auch wenige Männer hatten sich für den Studiengang beworben – für den ersten Jahrgang im Wintersemester 2021/2022 und auch für den zweiten im Wintersemester 2022/2023. Genommen werden können nur rund 20 angehende Hebammen. Männer sind bisher nicht dabei, sie lagen im Ranking aus Abi-Note und anderen Kriterien weiter hinten als die jungen Frauen. Die meisten der jetzigen Studentinnen haben Abitur, wenige eine Pflegeausbildung in der Kinder- oder Erwachsenenkrankenpflege.

Verdienst im Studium zur Hebamme: rund 1.000 Euro brutto

Jede der 21 Studentinnen hat entweder einen Vertrag mit dem Universitätsklinikum in Magdeburg oder dem in Halle. Der Vertrag läuft über die Dauer des Studiums, sichert die Praxiseinsätze und ist verbunden mit einem Bruttogehalt von etwas über 1.000 Euro. Sophie aus Halle erklärt: "Ich habe einen Ausbildungsvertrag mit dem Uniklinikum in Magdeburg, bin aber bei einem extra Klinikum, weil wir nicht alle zusammen in der Uni-Frauenklinik in Magdeburg sein können." Bei Luise ist es ähnlich. Sie hat ihren Vertrag mit dem Uniklinikum in Halle geschlossen, arbeitet aber im Kreißsaal in Merseburg am Carl-von-Basedow-Klinikum.

Etwa 20 bis 30 Geburten hat Sophie bisher erlebt, inklusive Kaiserschnitte. Die allererste Geburt, bei der sie dabei war, war für sie ganz besonders. "Diese Vertrauensbeziehung zur Frau aufzubauen – das ist mir wirklich in Erinnerung geblieben: die Zeit, die Frau, der Partner, weil ich da wirklich eine sehr schöne Beziehung aufbauen konnte", erzählt sie. Sie hatte die Frau schon fast sieben Stunden betreut, bis das Kind geboren wurde. "Sie hat mir auch so eine Dankbarkeit vermittelt. Das ist mir einfach sehr in Erinnerung geblieben. Auch das Handeln der Hebamme, was ich da das erste Mal so richtig wahrnehmen konnte."

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Ausbildung ist psychologisch anspruchsvoll

Auch Luise, die vor dem Studium ein FSJ in Leipzig auf einer Station für Gynäkologie samt Schwangerenambulanz gemacht hatte, erinnert sich an jede Geburt. Doch das sei nicht immer leicht zu verkraften. "Manchmal ist es schwierig, mit Praxis-Situationen abschließen zu können. Also sei es dadurch, dass nicht jede Geburt diesen typischen Bilderbuch-Verlauf annimmt oder wenn Kinder nicht reif genug geboren werden." Zuhause muss sie dann die Bilder verarbeiten. "Aber wir haben auch an der Universität oder an den verschiedenen Kliniken psychologische Unterstützung, falls wir welche benötigen", sagt sie.

Etwa 4.000 Stunden Theorie werden sie bis zum Ende ihres Studiums insgesamt haben, über alle Studienjahre verteilt auch zu psychologischen Fragen und trauma-sensibler Gesprächsführung in ihrer Rolle als Hebamme. Studiengangsleitern Dr. Ayerle erklärt: "Unser Ziel ist, dass wir frauenorientierte Hebammen ausbilden, Hebammen, die nicht nur dem System Folge leisten, sagen wir mal in einem Kreißsaal, der so und so organisiert ist, sondern die sich auf die Frauen konzentrieren, auf ihre Bedürfnisse."

Unser Ziel ist, dass wir frauenorientierte Hebammen ausbilden.

Dr. Gertrud Ayerle Leiterin des Studiengangs "Hebammenwissenschaft"

Schule vs. Studium

Der praktische Einsatz in der Geburtshilfe ist laut Studiengangsleiterin von den Stunden her vergleichbar mit der Ausbildung an den Hebammenschulen. Das theoretische Wissen ist dagegen viel höher – etwa 1.600 Stunden an den Schulen stehen mehr als 4.000 Stunden im Studium gegenüber. "Die Studierenden bekommen viel mehr Inhalte und Kenntnisse über verschiedene Bezugswissenschaften. Wir haben hier an der Universität die Geburtshilfe, die Reproduktionsmedizin, die Gynäkologie. Und aus diesen Fachbereichen haben wir auch Lehrende, die die aktuellsten Erkenntnisse in dem jeweiligen Fachbereich vermitteln können." Dazu kämen Dozenten vom Institut für Ethik der Medizin.

Bemerkenswert engagierter Jahrgang

Das Fazit des ersten Jahres: Von den 24 Studentinnen, die vor einem Jahr begonnen hatten, sind noch 21 dabei. Diejenigen, die geblieben sind, seien sehr engagiert, so die Dekanin der Medizinischen Fakultät, Prof. Heike Kielstein. "Die Studentinnen bringen sich sehr in den Studiengang ein. Ich habe selten so viele Fragen in Vorlesungen bekommen", sagte die Dekanin und Anatomie-Professorin MDR SACHSEN-ANHALT.

Das Engagement habe sie auch bei einem extra Seminar in der Anatomie, einem Präparierkurs zu den weiblichen Beckenorganen, gesehen: "Es gab viele Studentinnen, die tatsächlich noch ein zweites oder drittes Mal in den Präpariersaal gegangen sind und sich nochmal mit den Humanmedizin-Studierenden das weibliche Becken angeschaut haben", so die Anatomie-Professorin. Und auch an der Universitätsmedizin gebe es eine große Offenheit gegenüber dem akademisch selbstverantwortlichen Arbeiten von Hebammen. "Ich habe bis jetzt großes Interesse, eine große Akzeptanz, was diesen Studiengang und die Studierenden angeht, erfahren", sagte sie.

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Studentin Sophie hat noch sehr großen Respekt vor dem Hebammen-Beruf. Momentan fühlt sie sich nicht bereit dafür, hat aber auch noch den größten Teil ihres Studiums vor sich. "Der Hebammenberuf ist sehr komplex und vielfältig. Da zolle ich großen Respekt an alle Hebammen, die das schon drauf haben." Sie und ihre Kommilitonin Luise schauen sich viel von den Hebammen ab, die sie im Kreißsaal erleben. Und würden dort auch immer wieder für ihre Arbeit belohnt. Luise erklärt: "Das erwärmt schon jedes Mal das Herz, wenn man eine Geburt im Dienst hatte und dann schön und freudig nach Hause gehen kann."

Das erwärmt schon jedes Mal das Herz, wenn man eine Geburt im Dienst hatte.

Luise Siegel Studentin
Luise Kotulla
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Über die Autorin Luise Kotulla arbeitet seit 2016 als freie Mitarbeiterin bei MDR SACHSEN-ANHALT. Schwerpunkte der gebürtigen Hallenserin sind Themen aus dem Süden Sachsen-Anhalts, rund um engagierte Menschen und Probleme vor Ort. Außerdem ist sie für MDR um 4 als Fernsehredakteurin unterwegs.

Bevor sie zum MDR kam, hat sie beim Stadtfernsehen TV Halle gearbeitet. Sie studierte Geschichte, Medienwissenschaft und Online-Journalismus in Halle und Großbritannien. Ihre Lieblingsorte in Sachsen-Anhalt liegen in und um Halle, im Burgenlandkreis und im Harz.

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MDR (Luise Kotulla)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 19. November 2022 | 09:00 Uhr

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