Altlasten Früheres Orgacid-Gelände: Wie belastet sind Boden und Grundwasser?
Hauptinhalt
05. Oktober 2024, 05:00 Uhr
Anwohner in Halle befürchten, dass sich auf dem Gelände der ehemaligen Orgacid-Fabrik noch immer giftige Rückstände im Boden und Grundwasser befinden. In den vergangenen Jahrzehnten hat es etliche Untersuchungen gegeben – doch Klarheit herrscht noch immer nicht.
- Bis heute keine systematische Untersuchung des Untergrundes
- Vorwürfe gegen ehemalige Umweltdezernentin der Stadt
- Es werden erneut Messungen und Analysen benötigt
- Eigentümer müssen eventuell Sanierung bezahlen
Die Anwohner haben Sorge und sie sind gereizt: „Werden wir noch erleben, dass hier wirklich etwas passiert“, fragt ein Bürger auf einer Informationsveranstaltung der Stadt Halle in einem Sportlerheim Anfang August dieses Jahres. Rund 80 Interessierte waren gekommen, um sich über neue Erkenntnisse der ehemaligen Kampfstofffabrik Orgacid zu informieren. Die etwa 13-Hektar große Altlastenverdachtsfläche liegt im Süden der Stadt, im Ortsteil Ammendorf. Nicht nur in der nahe gelegenen Heimstättensiedlung hat man Sorge, dass das Grundwasser kontaminiert sein könnte. In unmittelbarer Nachbarschaft befinden sich vereinzelt Wohnhäuser.
Ein Rückblick: Im Orgacid-Werk Halle-Ammendorf wurden bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs etwa 26.000 Tonnen des chemischen Kampfstoffes Lost produziert, besser bekannt als Senfgas. Der Haut- und Lungenkampfstoff war im Ersten Weltkrieg eine der gefürchtetsten Waffen. Er reizt Augen, Haut und Atemwege und ist potenziell tödlich. Mehr als 60.000 Bomben sollen in der Fabrik damals abgefüllt worden sein.
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Kampfstofffabrik von den Amerikanern an die sowjetischen Streitkräfte übergeben, wie aus einem Auskunftsbericht der Stadt Halle von 1991 hervorgeht. Es sei zu wilden Sprengungen der Fabrik gekommen. Experten gehen davon aus, dass dadurch das Gelände weiträumig kontaminiert wurde. Ein Teil der Kampfstoffbestände wurde verbrannt, das Gelände in den Jahren danach oberflächlich entgiftet und mit Erde aufgeschüttet. Der große Bunker, in dem der Kampfstoff gelagert wurde, zugemauert.
Anfang der 90er Jahre wurde der Lagerbunker wieder geöffnet. Darin fanden sich mehrere Tonnen Wasser-Kampfstoff-Gemisch. Eine Spezialeinheit der NVA rückte an, um dieses gefährliche Gebräu zu neutralisieren. Dadurch sei noch mehr giftiger Abfall entstanden, berichten damals Beteiligte. Heute ist das Gelände größtenteils umzäunt und auf verschiedene Eigentümer aufgeteilt. Am Rand hat sich Gewerbe angesiedelt.
Bis heute keine systematische Untersuchung des Untergrundes
Bis heute soll es keine systematische Untersuchung des Untergrunds gegeben haben. Abwasserschächte und Kanäle sollen bis heute nicht zur Gänze erkundet worden sein. Das weiß Professor Johannes Preuß, der seit fast 40 Jahren zu Rüstungsaltlasten forscht. Der Kampfstoffexperte hat sich auch mit dem ehemaligen Orgacid-Gelände ausgiebig befasst.
Preuß vermutet noch immer Reste von Lost im Boden, zum Beispiel in Rohren, die in vollem Zustand gesprengt und nie entfernt wurden: „Die Erfahrung hat gelehrt, dass in solchen ehemaligen Industrieobjekten Probleme bestehen. Aufräumarbeiten scheinen hier überwiegend auf die Erd- und Gebäudeoberfläche bezogen gewesen zu sein. Bis heute hat es nur systematische Untersuchungen der mehrere Meter dicken Abdeckung und knapp darunter gegeben. An das Innere der gesprengten Gebäude hätte man nur mit Aufgrabungen kommen können. Das ist selten geschehen, auch, weil man auf die Zeit gesetzt hat, die angeblich alle Wunden heilt.“
Wieviel toxische Stoffe noch im Boden sind, ist bis heute also ungewiss. MDR Investigativ liegen Dokumente und Zeugenaussagen vor, die von zwei Unfällen auf dem Gelände berichten. Mitte der 70er Jahre sei es bei Baggerarbeiten südlich des Geländes zu einem Vorfall gekommen, bei dem ein Arbeiter Ausschlag, Rötungen und Pickel auf der Haut bekam, als er aus einer Grube kroch. Die Baggerschaufel habe eine Röhre in der Tiefe aufgerissen, aus der „eine braune, stark stechend riechende Brühe“ auslief. Er musste sich sofort in das Krankenhaus begeben und habe danach mit schweren gesundheitlichen Problemen zu kämpfen, heißt es in dem Zeugenbericht von 1990.
Der andere Unfall ereignete sich bei Straßenarbeiten im März 1999. Auf dem Gelände sei ein Baggerfahrer bei Erdarbeiten auf den ehemaligen Lost-Kanal gestoßen, der früher zum unterirdischen Transport des chemischen Kampfstoffes verwendet wurde. Aus einem Schreiben der staatlichen Gewerbeaufsicht geht hervor, dass der damalige Baggerfahrer „das Auftreten unbekannter Schadstoffe mit sehr unangenehmem Geruch“, wahrgenommen habe. Einen Tag später habe er Unwohlsein, Schwindelgefühl sowieso Hautausschlag gehabt. Er sei zur Beobachtung auf die Uniklinik Halle gekommen. Drei weitere Kollegen seien mit ähnlichen Symptomen krankgeschrieben worden, heißt es in einem damaligen Zeitungsbericht. Die Ursachen konnten in beiden Fällen nicht abschließend geklärt werden.
Seit der Wende wurde das Areal mehrfach auf Giftstoffe untersucht und es sind meterweise Gutachten angefertigt worden. 1993 schlussfolgerte die damalige Umweltdezernentin und spätere Oberbürgermeisterin der Stadt Halle, Dagmar Szabados: „Keine Gefährdung des Grundwassers durch Kampfstoffe oder deren Abbau- oder Zersetzungsprodukte.“
Dabei war die Kampfmittelräumungsfirma Friedrich Lenz bereits ein Jahr zuvor zu einem ganz anderen Schluss gekommen. In ihrem Sanierungskonzept für das Gelände heißt es: „Von dem Gelände der ehemaligen Kampfstofffabrik „ORGACID“ GmbH in Halle-Ammendorf geht eine Gefährdung für Menschen und Umwelt aus. Eine nachhaltige Kontamination des Grundwassers kann nicht ausgeschlossen werden.“
Vorwürfe gegen ehemalige Umweltdezernentin der Stadt
MDR Investigativ konnte den damaligen Inhaber und Geschäftsführer der Firma Friedrich Lenz GmbH ausfindig machen und mit ihm sprechen. Er habe damals im Auftrag der Stadt Bodenproben entnommen und diese analysieren lassen. Neben Schwermetallen fanden sich auch hohe Dosen eines Abbauprodukts des chemischen Kampfstoffes. „Dieses Gelände […] als Baumarkt oder Wohnanlagen zu nutzen, das wäre unverantwortlich gewesen“, sagt Friedrich Lenz. Das wäre die Erkenntnis der Untersuchung von damals gewesen.
Als Lenz Vertretern der Stadt die Untersuchungsergebnisse und das Sanierungskonzept vorstellte, soll Dagmar Szabados eine ungewöhnliche Bitte geäußert haben. Er erinnert sich: „Ganz konkret ist an uns herangetragen worden, ob wir nicht dieses Gutachten so abändern könnten, dass man auf diese umfangreiche Sanierung des Geländes verzichten könne“, sagt Lenz. Frau Szabados habe erklärt, dass so das Gelände nicht nutzbar sei. Er habe diese Bitte abgelehnt.
An uns ist herangetragen worden, ob wir nicht dieses Gutachten so abändern könnten, dass man auf diese umfangreiche Sanierung des Geländes verzichten könne.
Dagmar Szabados teilt MDR Investigativ dazu auf Anfrage schriftlich mit: „Die Anschuldigungen von Herrn Lenz, dessen Rolle mir nicht erinnerlich ist, weise ich zurück, frage aber, warum Herr Lenz damals nicht an die Öffentlichkeit gegangen ist, wenn angeblich eine kommunale Wahlbeamtin an ihn herantritt mit einem so ungeheuerlichen Anliegen wie einer Gutachtenfälschung. Dies nach über 30 Jahren zu tun, halte ich für unredlich.“
Laut Friedrich Lenz, habe er damals aus unternehmerischer Sicht den Sachverhalt nicht öffentlich machen wollen, da er auf weitere Aufträge in der Region hoffte. Erst als er von MDR Investigativ-Reportern im Rahmen der Recherche befragt wurde, entschied er sich, an die Öffentlichkeit zu gehen. Was damals in den Büroräumen besprochen wurde, ist für MDR Investigativ heute nicht nachprüfbar.
Fest steht: Toxische Abbauprodukte von Lost finden sich seit Jahren im Grundwasser. Das haben Messungen auf und außerhalb des Geländes ergeben. Das sorgt schon seit Jahren für Beunruhigung bei den Nachbarn. Doreen Sander ist eine von ihnen. Sie besitzt zusammen mit ihrer Mutter ein Mehrfamilienhaus am äußeren Rand der ehemaligen Kampfstofffabrik. Als sie im Jahr 2000 das Gelände von der Halleschen Wohnungsgesellschaft, einem Tochterunternehmen der Stadt, gekauft hat, ahnte sie noch nichts von einer potenziellen Kontaminierung. Damals gab es ein Wertgutachten, mit einer für sie verbindlichen Aussage: „Im Wertgutachten schreibt dann der Gutachter „Altlastenfrei“. Hätte ich gewusst, dass hier vielleicht irgendwelche Giftgase aus dem Krieg sind, dann wäre ich um Himmels Willen niemals hierhergezogen“, so Sander. Wie es zu der Bewertung „Altlastenfrei“ kam, kann die Hallesche Wohnungsgesellschaft auf Nachfrage nicht beantworten. Es lägen keine Unterlagen mehr vor. Laut MDR Investigativ Recherchen gab es weitere Flurstücke, die von der Stadt an privat verkauft wurden. Der jetzige Eigentümer wollte sich zu dem Thema jedoch nicht äußern.
Es werden erneut Messungen und Analysen benötigt
Als 2018 erneut Abbauprodukte des Kampfstoffes Lost im Grundwasser gemessen wurden, beauftragte die Stadt ein sogenanntes historisch-genetisches Gutachten. Dafür hat der Altlastensachverständiger Tobias Bausinger alte Dokumente und Gutachten ausgewertet. Diese stellt er auf der Bürgerversammlung im Sportlerheim vor. Das Ergebnis: Die Forderung nach einer Sanierung sei verfrüht: „Denn wir haben keine abschließende Gefährdungsabschätzung. Und solange es die nicht gibt, kann man keine Sanierung fordern.“ Doch aus seiner Sicht sollte es eine Gefährdungsabschätzung geben. Das bedeutet, es werden erneut Messungen und Analysen benötigt. So geht es nun bereits seit Jahrzehnten.
Dass wir es besser machen müssen, ist offensichtlich.
Auf der Veranstaltung ist auch der Beigeordnete für Stadtentwicklung und Umwelt, René Rebenstorf. Er bekommt immer wieder den Vorwurf zu hören, dass es an Transparenz fehle. „Es ist eine Kritik, der ich mich stellen muss, die ich annehme“, sagt Rebenstorf. „Deswegen bin ich auch hier. Dass wir es besser machen müssen, ist offensichtlich.“
Gegenüber MDR Investigativ sagt Rebenstorf, dass er seit sechs Jahren im Amt sei und nichts für die Versäumnisse der Neunziger Jahre könne: „Man hat vor 30 Jahren Dinge anders bewertet. Heute ist eine Sensibilität deutlich verstärkter da. Wir müssen mit diesen Themen deutlich sensibler umgehen und vermutlich zu anderen Schlüssen kommen.“
Die Stadt will nun alte Grundwassermessstellen reaktivieren und neue in Betrieb nehmen, um den Schadstoffaustrag aus dem Gelände zu beobachten. Verhärtet sich dabei der Verdacht einer Kontaminierung des Grundwassers, muss die Quelle auf dem Gelände identifiziert und saniert werden.
Eigentümer müssen eventuell Sanierung bezahlen
Das Problem: Das Gelände ist auf viele Eigentümer aufgeteilt. Der Stadt gehören nur einzelne kleine Teilflächen am äußersten Rand. Das heißt, für genauere Untersuchungen - zum Beispiel, um Messstellen zu errichten - müsste die Stadt die Eigentümer mit ins Boot holen. Grundsätzlich tragen diese auch Verantwortung, sagt René Rebenstorf: „Sie haben dafür zu sorgen, dass von ihrem Grundstück keine Gefahr ausgeht. Keine Gefahr für Leib und Leben der Nachbarschaft, aber auch keine Gefahr für die Umwelt und für die Natur. Insbesondere das Grundwasser darf nicht geschädigt werden.“
Wenn es zu einer Sanierung kommen sollte, ist noch völlig unklar, wer für die Kosten aufkommt. Auch die Eigentümer könnten grundsätzlich zur Kasse gebeten werden. „Das müssen wir am Einzelfall dann nochmal rechtlich abprüfen, ob (der Eigentümer) tatsächlich persönlich haftbar gemacht werden kann oder ob gegebenenfalls, da wir ja hier über folgendes Zweiten Weltkrieges noch reden, jemand anderes noch in die Mitverantwortung genommen werden kann.“, teilt René Rebenstorf mit.
Komplizierter könnte es bei einem Flurgrundstück werden, bei dem der Eigentümer seit der Wiedervereinigung unbekannt ist. Das Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen prüft derzeit den Rechtsnachfolger. Den rechtmäßigen Besitzer zu finden, sei laut der Behörde nach so langer Zeit schwierig und zeitaufwändig. Daher habe sie bereits mit zwei Sanierungsgesellschaften des Bundes und des Landes über eine Übernahme der Liegenschaft gesprochen. „Aufgrund der nicht kalkulierbaren potenziellen Sanierungskosten führten diese Bemühungen jedoch zu keinem positiven Ergebnis“, so die Erkenntnis der Behörde.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR exakt | 25. September 2024 | 20:45 Uhr
ElBuffo vor 3 Wochen
Die Nutzung des Geländes war, wie dem Artikel zu entnehmen ist, ebenfalls nicht unbekannt. Ob man das jetzt bei Privatpersonen unternehmerisches Risiko nennt? Eine Spekulation auf jeden Fall.
steka vor 4 Wochen
Naja, unternehmerisches Risiko würde ich sehen wenn wider besseren Wissens im Hochwassergebiet baue, Hochwasserstände sind leicht ermittelbar. Als Altlasten, die ich in Kauf nehmen muß sehen ich Schrott, Schutt und sonstigen unschädlichen Müll. Für hochgiftige Altlasten, die nnoch größere Kreise ziehen als das eigene Grundstück groß ist sehe ich doch den Staat in der Pflicht , ebenso bei Munitionsfunden.
Shantuma vor 4 Wochen
Die Fläche wurde wohl nach 1990 von der Stadt verkauft. Ob die heutigen Eigentümer von der Vergangenheit wissen ist unbekannt.
An der Produktion waren diese Eigentümer wohl nicht mehr involviert. Dennoch haben sie das Grundstück gekauft und somit auch die Altlasten des Grundstücks.
Dies nennt man unternehmerisches Risiko.
Nun können diese Eigentümer gerne diese Flächen wieder zurück verkaufen (für einen geringen Preis versteht sich, denn die Fläche ist ggf. kontaminiert und somit nicht sehr wertvoll).
Auch eine Enteignung ist möglich, siehe Grundgesetz, ob es aber soweit kommen muss ist fraglich.
Zu erst sollte man die Eigentümer auffinden, und mit denen über das Problem sprechen und klar die Folgen benennen (Wertverlust). Danach kann man ein Konzept erarbeiten.