Selbsthilfegruppe Game Over: Ehemals Glücksspielsüchtiger aus Halle hilft anderen Betroffenen
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26. November 2024, 05:00 Uhr
25 Jahre lang war Stefan Börner aus Halle süchtig nach Glücksspielen. Dann stürzte sein Kartenhaus zusammen und er musste wegen Betrugs sogar hinter Gitter. Wie er nun anderen Betroffenen hilft und was er sich im Kampf gegen Spielsucht wünscht.
- Stefan Börner war jahrelang spielsüchtig. Wenn es Stress gab, zog es ihn regelmäßig in die Spielhalle.
- Experten kommen zu dem Schluss, dass Folgen von Glücksspielsucht drastischer sind als bisher angenommen.
- Börner hat den Absprung geschafft und eine Selbsthilfegruppe gegründet.
Möglicherweise wäre das Leben von Stefan Börner anders verlaufen, hätte er als Jugendlicher keine Münzen in einen Spielautomaten eingeworfen und einen kleinen Gewinn erzielt. Dieser Moment war jedoch womöglich der Auslöser für seine 25-jährige Glücksspielsucht. Stefan Börner wuchs in den 1980er Jahren in Lörrach in Baden-Württemberg auf und erlernte zunächst den Beruf des Maurers. Da er mit der Berufswahl seiner Eltern unzufrieden war, suchte er nach Möglichkeiten, den ungeliebten Job zu ertragen.
Immer wieder fuhr er damals mit seinem Bruder in die benachbarte Schweiz und verzockte regelmäßig sein Ausbildungsgehalt in Spielhallen. 1992 beschloss Stefan Börner, einen Neuanfang in Halle zu wagen. Er begann eine weitere Ausbildung zum Industriekaufmann und lernte seine damalige Frau kennen. Doch bei anhaltenden Problemen suchte er nach wie vor nach einem Ventil, um den Alltagsstress hinter sich zu lassen. Er ging in die Spielhalle.
Glücksspiel als Mittel für Trost
"Ich fühlte mich oft missverstanden und da bin ich in die Spielhalle gegangen und habe mich vom Automaten trösten lassen, der war für mich so eine Art Psychologe, der mir dann immer zuflüsterte, ich helfe dir, aber du musst immer im Schlitz oben noch etwas nachschmeißen", erinnert sich der ehemalige Spielsüchtige.
Der Automat war für mich so eine Art Psychologe.
Die Spitze des Eisbergs war zu dieser Zeit allerdings noch nicht erreicht, dieser folgte erst in den Jahren 1998 bis 2005. Und wenn es nicht so tragisch wäre, klingt es wie eine Episode aus einer Gaunerkomödie. Stefan Börner arbeitete zu dieser Zeit als Prokurist und hatte zu jedem Zeitpunkt Zugriff auf die Konten des Unternehmens. Er begann damit, Gelder auf sein Privatkonto zu überweisen, um sein kostspieliges Hobby zu finanzieren.
Das Zocken führt zu einem Doppelleben
Lange unentdeckt von Vorgesetzten und Familie, füllte er so über einen Zeitraum von sieben Jahren seine Spielkasse und verbrachte regelmäßig viel Zeit in den Casinos und Spielhallen der Stadt. Schließlich wurde der Betrug doch entdeckt. Zu diesem Zeitpunkt stürzte das Kartenhaus von Stefan Börner zusammen, sein Doppelleben war enttarnt und sein berufliches und privates Leben wurden durch den aufgedeckten Betrug zerstört.
"Irgendwann nach sieben Jahren hat man mich mit der letzten Überweisung konfrontiert, es hat lange genug gedauert, viel zu lange aus heutiger Sicht, weil sonst wäre der Schaden nicht so hoch gewesen", erzählt Börner. "Mir war die Schadensumme eigentlich gar nicht so bewusst, ich habe vielleicht mit 300.000 oder 400.000 Euro gerechnet, aber dass es dann am Schluss über eine Million waren, das hat mich selber erschreckt."
Glücksspielsucht ist ein weltweites Problem, und die Auswirkungen dieser Sucht sind laut Experten drastischer als bisher angenommen. Psychische Schäden, Kriminalität und Suizid gehören zu den häufigsten Effekten, die mit Glücksspielsucht einhergehen. Dies ist die Erkenntnis einer Kommission, die sich aus den Bereichen Glücksspielforschung, öffentliche Gesundheit und globale Gesundheitspolitik zusammensetzt. In einem kürzlich im Fachmagazin Lancet veröffentlichten Bericht stellt die Kommission fest, dass Glücksspiel "eine Bedrohung für die öffentliche Gesundheit" darstellt.
Spielsucht bringt Börner ins Gefängnis
Stefan Börner, damals 42 Jahre alt, gestand die Taten und wurde wegen Digitalbetrugs zu vier Jahren Haft verurteilt. Er saß zweieinhalb Jahre ab und verbrachte den Rest auf Bewährung. Seine Ehe scheiterte an der Glücksspielsucht. Eine erste Therapie begann Stefan Börner bereits im Gefängnis, doch mit seiner Entlassung und der beruflichen Neuorientierung kehrte die Spielsucht zurück und er war wieder mittendrin.
Erst eine weitere Therapie brachte letztlich den Erfolg. Seit 2012 ist Stefan Börner nicht rückfällig geworden. Seinen Entschluss, anderen zu helfen, besiegelte er ebenfalls im Jahr 2012. Seit der Gründung seiner Selbsthilfegruppe "Game Over" trifft er sich alle zwei Wochen mit Betroffenen, um über deren Ängste und Sorgen zu spechen – aber auch über die mentalen und physischen Symptome der Glücksspielsucht. Ein Teilnehmer, der unerkannt bleiben möchte, schätzt an dem Austausch, jeder könne von anderen etwas mitnehmen: "Ich finde hier vor allem Freunde, Gleichgesinnte, die mich auch verstehen in meiner Sucht."
Selbsthilfegruppenleiter Börner – der zweifacher Vater ist – scheut sich nicht, seiner Glücksspielgeschichte ein Gesicht zu geben, er gibt Interviews, geht in Talkshow und referiert regelmäßig auf Fachveranstaltungen. Darüber hinaus engagiert er sich auch im bundesweiten Fachverband Glücksspielsucht und bietet dort als einer von drei Moderatoren eine bundesweite Online-Selbsthilfegruppe an.
Glücksspielsucht wird vermehrt digital ausgelebt
Inzwischen verschiebt sich die Glücksspielsucht zunehmend ins Internet, und die Hemmschwelle, dort zu spielen, ist deutlich niedriger. Während bei jungen Männern häufiger Sportwetten im Fokus stehen, werden auch Kinder und Jugendliche zunehmend mit immer ausgefeilteren Werbemethoden animiert, meint Janine Teubner, Psychologin bei der Glückspielsuchtberatung in Halle.
"Ein ganz wichtiger Fakt ist an der Stelle, dass auch immer mehr eine Vermischung von Gaming und Gambling (Glücksspiel) stattfindet", so Teubner. Onlinespiele würden erstmal nichts kosten und
Glücksspielelemente enthalten – sogenannte Lootboxen. "Das sind so Wundertüten, die virtuell mit echtem Geld gezahlt werden und die dann zufällige Items ausschütten, die für das Spiel relevant sind. Das sind Glückmechanismen, wo Jugendliche und Kinder angefüttert werden. Es wird suggeriert: 'Es ist okay, für dein Hobby und Onlinespiele Geld auszugeben'", so Teubner.
Auf keinen Fall warten, bis das Kartenhaus zusammengefallen ist.
Börner rät: Outen, auch wenn es schwer fällt
Stefan Börner hat heute wieder ein gutes Verhältnis zu seiner Familie, das bedeutet ihm viel. Er kann jedem nur raten, der glaubt, sein Glück in Spielhallen zu finden: "Auf keinen Fall warten, bis das Kartenhaus zusammengefallen ist. Ich weiß, das ist sehr schwierig, weil Scham und Schuldgefühle die größten Hemmnisse sind, sich zu outen. Ich kenne das aus meiner eigenen Erfahrung", so Börner. Für Sachsen-Anhalt wünscht sich der heute 61-Jährige eine verstärkte Überwachung und Kontrolle der Sperren und Glücksspiel-Lizenzen durch die zuständigen Behörden.
Unter der Nummer 0800/1372700 erreichen Betroffene eine kostenlose Telefonberatung zur Glücksspielsucht von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.
Die Landesstelle für Suchtfragen in Sachsen-Anhalt bietet zudem gemeinsam mit anderen Beratungsstellen aus ganz Deutschland eine digitale Suchtberatung an, auch zum Thema Glücksspielsucht.
MDR (Janett Scheibe, Kalina Bunk)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 25. November 2024 | 19:00 Uhr
Altlehrer vor 20 Wochen
Das eigentliche Problem ist die leichte und ständige niederschwellige Verfügbarkeit von Glücksspielen ständig und überall samt aggressiver Werbung. Die Spielbank ist ja nur die Spitze für einen exklusiven Spielerkreis. Die Meisten spielen online.
goffman vor 20 Wochen
Das Problem ist nicht nur der finanzielle Schaden, auch der Kontrollverlust und Zeitaufwand sind erheblich. Und da sollten wir als Gesellschaft das gesamte Problem betrachten:
Glücksspiel ist nur ein Teil der Suchterkrankungen. Spielesucht und Mediensucht im allgemeinen sind mittlerweile Volkskrankheiten.
Wie sieht es mit Therapieangeboten und Prävention aus? Ich habe nicht den Eindruck, dass wir da genug tun.
steka vor 20 Wochen
Und wem gehören denn die Glücksspielhöllen, sprich Casinos ? Ist es nicht der Staat selbst, welcher der große Gewinner und wenns nur das Abkassieren der Steuern ist.