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#HalleZusammen auf dem MarktplatzTrotz, Trauer und pure Freude: Halle erinnert und steht zusammen

22. Oktober 2019, 15:14 Uhr

Unter dem Motto #HalleZusammen haben am Samstag rund 15.000 Menschen ihre Solidarität für die Opfer des Anschlags in Halle vor gut einer Woche deutlich gemacht. Hat dieser Anschlag die Stadt verändert? Und was hat das Attentat mit den Menschen in Halle gemacht? Beobachtungen vom Marktplatz.

von Luca Deutschländer, MDR SACHSEN-ANHALT

Rund 15.000 Menschen haben am Samstag das Motto #HalleZusammen verinnerlicht. Bildrechte: MDR/Holger John

Manchmal braucht es nur ein ganz einfaches Symbol. Am Roten Turm, einem Wahrzeichen von Halle, ist an diesem Samstag ein schwarzes Banner zu sehen. Darauf eine Hand, die eine Kerze hält. Darüber die Worte: "Keine Gewalt." Es sind nur zwei Worte – doch mit ihnen ist eigentlich alles gesagt.

Es ist nicht einmal zwei Wochen her, als ein rechtsextremer Attentäter in Halle zwei Menschen tötete und zwei weitere schwer verletzte. Ganz zu schweigen von den vielen Menschen, die nachhaltig traumatisiert sind von dem, was sie an diesem 9. Oktober gesehen oder gehört haben. Terror? Ausgerechnet in Halle? In dieser freundlichen und hübschen Stadt an der Saale, in der mehr als 20.000 Menschen an der Uni studieren, viele davon aus dem Ausland? Ja. Rechtsextremer Terror, Antisemitismus, Judenhass. Im 21. Jahrhundert.

Die Antwort auf den Hass eines Einzelnen soll an diesem Tag Freude sein. Zusammenhalt. Solidarität. Und Toleranz. All das soll an diesem 19. Oktober im Mittelpunkt stehen. #HalleZusammen eben.

Der Tag im Zeitraffer

Es ist 14 Uhr und der Marktplatz ist schon recht ordentlich gefüllt. Straßenbahnen fahren nicht mehr. Die Lebensfreude und das Erinnern sollen im Mittelpunkt stehen. Die Menschen – in erster Linie die Hallenserinnen und Hallenser – sollen zusammenrücken. Nach brutalen Attentaten wie dem in der Saalestadt klingt so etwas schnell nach einer Floskel. Dieser Samstag aber zeigt, dass es keine Floskel sein muss – sondern Realität werden kann. Wer sich an diesem Tag auf dem Markt umsieht, sieht das: Menschen jeden Alters, Menschen aller Gesellschaftsschichten, Kulturfreunde oder Fußballfans. Sie alle stehen eng beisammen, manche umarmen sich.

Es ist noch recht grau an diesem Nachmittag und zunächst wirkt es so, als hätte sich die Stimmung der trüben Suppe am Himmel angepasst. Begeisterung sieht anders aus – so ist der erste Eindruck. Doch der ändert sich schnell. Als die Moderatoren des Tages das Programm vorstellen, sind die Musikfans unter den Besuchern schon einmal zufrieden. Es wird applaudiert und gejubelt.

14:30 Uhr und auf der Bühne steht jetzt Viola Rieck. Sie leitet den halleschen Chor "Missklang". Bis vor kurzem sang Jana L. dort mit. Bis zum 9. Oktober, um genau zu sein. Da wurde sie kaltblütig erschossen. Im Paulusviertel in Halle. "Jana war eine sehr engagierte und liebenswerte Frau", sagt Chorleiterin Rieck, ehe sie und ihre Sängerinnen und Sänger ein Lied auf Suaheli anstimmen. "Es ist ein Wiedersehens- und ein Abschiedslied", erzählt Rieck. "Zuletzt haben wir es hier 2006 gesungen. Damals war auch Jana dabei."

Jana hat den Mund aufgemacht. Ich möchte nicht, dass jemand nun aus Angst schweigt. Sondern dass er es macht wie Jana.

Viola Rieck | Leiterin des halleschen Chors "Missklang"

15 Uhr. Laut Polizei sind inzwischen rund 5.000 Menschen auf dem Marktplatz. Halle gibt ein freundliches Bild ab. Ein älterer Herr fragt, wie es denn gerade beim Auswärtsspiel des Halleschen FC steht. 2:0 in Mannheim. "Sehr gut", sagt der Mann und geht fröhlich weiter. Ein anderer, jüngerer Hallenser, bietet ungefragt seine Hilfe beim Anzünden der Zigarette an: "Feuer, Meister?", fragt er.

Lächelnd steht ein älteres Ehepaar am Rande des Marktplatzes. Ihre Namen wollen die freundliche Dame und der nette Herr zwar nicht nennen; aber sie wollen davon erzählen, wie es ihnen geht nach dem Anschlag vor zehn Tagen. "Man kann das nicht so schnell verarbeiten und in Worte fassen", sagt die Frau. "Bislang", erzählt sie, "habe ich mich sicher gefühlt. Ich war auch schon in der Synagoge." Das Paar lebt seit mehr als 50 Jahren in der Saalestadt. Beide sind verunsichert. "Das kann hier bei so einer Veranstaltung auch passieren", sagen sie. Trotzdem sind sie hier.

Leipziger, Kölner und Berliner – #HalleZusammen

Es sind längst nicht nur Menschen aus Halle auf dem Marktplatz. Zeitweise drängt sich der Eindruck auf, dass besonders viele Gäste angereist und beinahe in der Überzahl sind. Klar, aus der Umgebung, Landsberg etwa. Oder Petersberg. Auch aus Leipzig haben sich Menschen auf den Weg gemacht. Aber eben auch aus Köln, aus Bayern oder aus Berlin. Sie wollen Teil von #HalleZusammen sein.

16 Uhr und Moderator Holger Tapper verkündet, dass der Hallesche FC sein Auswärtsspiel in Mannheim mit 4:0 gewonnen hat. Es ist der Moment, an dem der bislang lauteste Jubel ertönt. Sport verbindet.

Popstar Mark Forster hat gerade die Bühne betreten und #HalleZusammen wirkt zwischenzeitlich wie ein ganz normales Open Air im Herbst. Der Marktplatz wird voller und voller, die Fans des Künstlers schreien vor Glück. Katharina und Philipp gehen die Sache etwas gelassener an. Sie stehen etwas abseits des Marktplatzes und beobachten, was auf der Bühne passiert. Katharina hat in Halle studiert, heute lebt sie in Staßfurt. Zufällig war sie am Tag nach dem Attentat in ihrer früheren Heimat. "Da war die Stimmung ruhiger als sonst. Andächtig fast", sagt sie. "Hier und heute geht es wieder."

Der 9. Oktober 2019 war für Halle eine Zäsur. Das haben in den Tagen seit dem Anschlag viele Menschen gesagt. Ihr Tenor: Es gibt ein Halle vor dem Anschlag. Und eines danach. Irgendwie ist das ja auch logisch. Ein Attentat mit zwei Toten, Schusswechsel in der Innenstadt, eine Verfolgungsjagd, blinder Judenhass. Keine Stadt kann das einfach so wegstecken. Da ändert es wenig, dass der Täter in Untersuchungshaft sitzt und seine Motive gestanden hat.

Die entscheidende Frage ist: Wie gehen die Menschen in Halle damit um? Ist Halle auch für sie eine andere Stadt als noch vor zwei Wochen? Die Meinungen der Menschen, mit denen MDR SACHSEN-ANHALT an diesem Samstag spricht, sind verschieden. Es gibt Leute wie das bereits erwähnte Ehepaar, das sagt: Ja, Halle hat sich verändert. Es gibt aber auch Menschen wie Daria. Seit 19 Jahren lebt sie nun in Halle und man glaubt ihr allein wegen der funkelnden Augen, dass sie diese Stadt liebt. "Ich habe tolle Nachbarn und tolle Kollegen. Ich fühle mich sehr wohl hier", erzählt sie. Angst? Nein. "Mein Sohn fährt jeden Tag mit dem Rad zur Schule. Und das wird er weiterhin tun."

16:30 Uhr. Stromausfall. Mark Forster feiert gerade mit seinen Fans, als plötzlich das Bild auf den Videoleinwänden zu flattern beginnt – und Mark Forster nicht mehr zu hören ist. Kurze Verwunderung. Dann aber folgen Szenen, die vielleicht zu den schönsten dieses Tages gehören werden: Das Publikum jubelt – erst recht, als Mark Forster Unterstützung von den Kollegen Max Giesinger und Joris bekommt. Zusammen hüpfen sie auf der Bühnenkante, singen, ohne dass es einer in den letzten Reihen versteht. Aber es geht um das Zeichen. #HalleZusammen, auch auf der Bühne. Fünf Minuten später ist der Strom wieder da.

All das beobachten vor einem Getränkestand auch Olli, Catharina und Patrick. Aus Leipzig sind sie heute hierher kommen, um die Hallenserinnen und Hallenser zu unterstützen. Olli ist zwar nicht oft in Halle. Trotzdem hat er den Eindruck, dass die Stimmung etwas bedrückt ist. So war es am Tag des Anschlags ja auch in Leipzig, erzählt Olli. Da wurden die Sicherheitsvorkehrungen verschärft, plötzlich war die erhöhte Polizeipräsenz für ihn deutlich zu spüren. Dieser Anschlag hat nicht nur etwas mit Halle gemacht.

Es wird politisch auf dem Marktplatz von Halle

Kurz vor 17 Uhr. Katrin und Thomas Wieczorke leben ebenfalls in Halle. Und wenn Mark Forster hier auftritt, dann wollen sie sich das nicht entgehen lassen. "Aber wir sind natürlich nicht nur deshalb hier", betont Thomas Wieczorke. Die Menschen in der Stadt seien sensibler geworden, erzählt er. "Ich glaube schon, dass das die Stadt nachhaltig beschäftigt." Innerhalb der Familie habe er am Tag des Attentats und den Tagen darauf viel gesprochen. Sie haben sich ausgetauscht im Hause Wieczorke. Reden soll schließlich helfen.

Jetzt am späten Nachmittag wird es zum ersten Mal so richtig politisch in Halle. Man kennt das ja von Veranstaltungen wie #WirSindMehr aus Chemnitz, wo allein die Zusammenstellung der Bands ein politisches Statement war. Feine Sahne Fischfilet, Kraftklub, Die Toten Hosen. Wer diese Bands einlädt, setzt automatisch ein deutliches Zeichen. So mancher hatte sich im Vorfeld gefragt, ob dieses Zeichen auch von den Künstlern ausgehen kann, die am Samstag in Halle auf der Bühne standen. Der Tag hat gezeigt: Ja, kann es. Und irgendwie waren die Toten Hosen ja auch vor Ort, oder die Prinzen und Clueso. Sie alle und noch einige mehr hatten Videobotschaften überbracht. Clueso sprach da vom "Kampf gegen rechtes Gedankengut", Sebastian Krumbiegel von den Prinzen rief "Nazis raus".

Inzwischen steht Matthias Brenner auf der Bühne. Er ist Intendant des Neuen Theaters in Halle und steht damit für die Kulturszene der Stadt, die sich an diesem Tag schon mehrfach präsentiert hat. Brenner ist bekannt für seine markigen und deutlichen Worte, spätestens mit seinem Auftritt geht von #HalleZusammen ein sehr deutliches politisches Statement aus. Denn Brenner sagt, wild gestikulierend und voller Wut und Ekel über das Attentat am 9. Oktober:

Wer die Höckes wählt, der wählt den Krieg, der wählt die Spaltung, der wählt Ausgrenzung, der wählt Vertreibung, der wählt den Tod unserer Gesellschaft. Ich liebe Freiheit und das kostet mich Mut. Aber: Diese beiden Menschen dürfen nicht umsonst auf der Straße liegen geblieben sein. Es ist toll, dass wir zusammen sind.

Matthias Brenner | Intendant des Neuen Theaters in Halle

18:45 Uhr. 14.000 Besucher sind da. Auf der Bühne steht Popsänger Joris. Er singt mit dem Publikum "Freiheit", später sagt er: "Ich würde jetzt gerne jeden Einzelnen von euch im Arm halten. Lasst euch niemals lähmen." Die Menschen, die hier sind, wollen sich ganz gewiss nicht lähmen lassen vom Hass eines Rechtsextremisten und Antisemiten.

Es ist dunkel geworden in Halle. Wo eigentlich die Straßenbahnen fahren, sitzen Jugendliche auf der Bordsteinkante. Unterhalten sich, fotografieren, lächeln, scheinen nachzudenken. Auf den Videoleinwänden sprechen Stefanie Heinzmann, Rea Garvey, Max Raabe und Peter Maffay über den Kampf gegen Rechtsextremismus. Und dann, es ist 20:20 Uhr, kommt der letzte Musiker dieses Abends auf die Bühne: Max Giesinger. Gut zwei Jahre ist es her, dass Giesinger sich bei einem Auftritt hier ins Goldene Buch der Stadt eingetragen hat. Heute ist er wieder hier. Und der Jubel ist laut. Man glaubt, die schwärmenden Teenager herauszuhören. Und denkt kurz, das hier sei ein ganz normales Konzert.

Doch das ist es natürlich nicht. Die roten Herzen, die überall im Einklang mit dem Schriftzug #HalleZusammen zu sehen sind, zeugen davon.

Die Botschaft des Tages: "Keine Gewalt!"

Es ist beinahe 21:30 Uhr, als Giesinger noch einmal so richtig loslegt. Er holt drei Kinder auf die Bühne, dann singen alle gemeinsam. Die Handylichter leuchten. Sie strahlen mit Giesinger und den Kindern auf der Bühne um die Wette.

Irgendwann, die Uhr zeigt fast 22 Uhr, ist dieser Tag mit so viel Musik und so vielen guten Worten zu Ende. Man lässt den Blick noch einmal über den Marktplatz schweifen und bleibt wieder an dem Banner am Roten Turm hängen. "Keine Gewalt", steht dort geschrieben. Es ist die Botschaft von knapp 15.000 Menschen. Und die Botschaft eines ganzen Tages. #HalleZusammen.

Bildrechte: MDR/Jörn Rettig

Über den AutorLuca Deutschländer arbeitet seit Januar 2016 bei MDR SACHSEN-ANHALT – in der Online-Redaktion und im Hörfunk. Seine Schwerpunkte sind Themen aus Politik und Gesellschaft. Bevor er zu MDR SACHSEN-ANHALT kam, hat der gebürtige Hesse bei der Hessischen/Niedersächsischen Allgemeine in Kassel gearbeitet. Während des Journalistik-Studiums in Magdeburg Praktika bei dpa, Hessischem Rundfunk, Süddeutsche.de und dem Kindermagazin "Dein Spiegel". Seine Lieblingsorte in Sachsen-Anhalt sind das Schleinufer in Magdeburg und der Saaleradweg – besonders rund um Naumburg. In seiner Freizeit steht er mit Leidenschaft auf der Theaterbühne.

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Quelle: MDR/ld

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 19. Oktober 2019 | 19:00 Uhr

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