Menschen mit weißen Schildern bei einer Kundgebung am Steintor Halle
Die Initiative 9. Oktober hat im Vorfeld des Halle-Prozesses eine Kundgebung organisiert. Bildrechte: Initiative 9. Oktober Halle

Aufarbeitung des Anschlags Initiative 9. Oktober Halle: "Ein 'Weiter so' darf es gesellschaftlich nicht geben"

30. September 2020, 10:47 Uhr

In Magdeburg läuft der Prozess nach dem Anschlag in Halle. Doch der Prozess ist keine gesellschaftliche Aufarbeitung des Vorgefallenen. Die Initiative 9. Oktober Halle will daher die Stimmen der Betroffenen stärken – und gegen Antisemitismus und Rassismus vorgehen.

Maria Hendrischke
Bildrechte: MDR/Jörn Rettig

Seit Juli läuft in Magdeburg der Prozess nach dem Attentat von Halle am 9. Oktober. Vor jedem Verhandlungstag organisieren zivilgesellschaftliche Gruppen Mahnwachen für die Betroffenen. Das Ziel: Der Prozess soll nicht vom mutmaßlichen Attentäter als Bühne für seine Ideologie genutzt werden können. Eine der Gruppen hinter den Mahnwachen ist die Initiative 9. Oktober Halle.

Das ist die Initiative 9. Oktober Halle

Die Initiative 9. Oktober hat sich im Juni 2020 in Halle gegründet. Das Ziel der Initiative ist die kritische Aufarbeitung des Anschlags in Halle am 9. Oktober 2019. Dabei geht es der Gruppe insbesondere darum zu klären, welche gesellschaftlichen Verhältnisse zu der Tat führen konnten. Die Initiative will vom Anschlag Betroffene zu Wort kommen lassen und dadurch ihre Perspektive – sowohl auf den Gerichtsprozess nach dem Anschlag als auch auf die gesellschaftliche Aufarbeitung – in die Öffentlichkeit tragen.

Die Mitglieder der Initiative 9. Oktober wirkten an Mahnwachen vor dem Prozess mit und beobachten jeden Prozesstag als Besucher im Gerichtssaal. Zum festen Kern gehören etwa 15 Personen. Die Initiative hat aber Kontakt zu etwa 40 Gruppen, darunter Hochschulgruppen, zivilgesellschaftliche sowie antifaschistische Gruppen.

Die wichtigen Stimmen der Nebenkläger

Die Kundgebungen sollen vor allem den Nebenklägern im Prozess die Möglichkeit geben, ihre eigene Sicht zum Anschlag öffentlich zu äußern, erklären zwei Mitglieder der Initiative 9. Oktober im Gespräch mit MDR SACHSEN-ANHALT. Das habe ein Teil der Nebenkläger beispielsweise mit einer gemeinsamen Erklärung im Prozess getan.

Die beiden Vertreter der Initiative wollen anonym bleiben. Zum einen, weil sie wollen, dass der Fokus auf den vom Anschlag Betroffenen bleibt. Zum anderen, weil sie bereits von Rechtsextremen in Halle bedroht wurden.

Die Schuld des Angeklagten, sagen die beiden, sei etwa durch das Video der Tat weitgehend geklärt. Was aus Sicht der Initiative aber noch unbedingt zu klären ist: Aus welchem sozialen Umfeld heraus konnte die Tat passieren? Dabei gehe es nicht nur um die Radikalisierung des Angeklagten, sondern vielmehr um alltäglichen Antisemitismus und Rassismus, bei dem offenbar niemand eingeschritten sei. Dieses Problem können aus Sicht der Initiative die Nebenkläger besser herausarbeiten als Richterin oder Staatsanwalt. "Und das wird wehtun. Da gehört auch dazu, zu benennen, dass Antisemitismus extrem verbreitet ist und nicht dagegen interveniert wird."

Wir haben uns der Anklage des Generalbundesanwalts als NebenklägerInnen angeschlossen, um sicherzustellen, dass die rassistische Ideologie des Angeklagten und seine Integration in militante rechte Strukturen nicht nur im Gerichtssaal, sondern auch von den Strafverfolgungsbehörden und der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Die diesen Ideologien innewohnende Menschenverachtung ist jetzt und über diesen Prozess hinaus Anlass zum Nachdenken.

Gemeinsame Erklärung von NebenklägerInnen im Prozess zum Anschlag von Halle

Präsenz zeigen im Prozess

Initiativenmitglieder nehmen an jedem Verhandlungstag als Prozessbeobachter teil. Es gehe darum, Präsenz zu zeigen und den Nebenklägerinnen – und auch dem Gericht – zu signalisieren: "Dieser Prozess ist der Öffentlichkeit nicht egal." Deshalb hoffen sie, dass die etwa 40 Besucherplätze im Gerichtssaal stets gut gefüllt sind: "Es darf nicht passieren, dass die leer bleiben."

Die Initiative fürchtet, dass mit dem Urteil und dem Prozessende auch die Auseinandersetzung mit dem Attentat enden könnte. Sie befürchten auch, dass in der Öffentlichkeit der Fokus zu sehr auf den Angeklagten gelegt werden könnte. Denn um diese Ausstrahlwirkung gehe es ihm, das habe er in seinem Manifest klargemacht: Die Motivation und das Transportieren der Tat seien ihm noch wichtiger als die Tat selbst. "Und dann sitzt man im Gerichtssaal und muss zusehen, wie er zehn Minuten im Blitzlichtgewitter grinst. Als hätte er gewonnen." Es gehe ihm um einen Nachahmungseffekt – und seine Adressaten seien im Internet unterwegs.

Täter wie der Angeklagte brauchen keine physischen Gemeinschaften mehr, um von Gleichgesinnten Ermutigung und Unterstützung zu erhalten. Es ist wichtig, dass dieser Prozess Politikern, Strafverfolgungsbehörden und der breiten Öffentlichkeit als Erinnerung an unser ständiges Bedürfnis dient, Rassismus, Sexismus, Islamophobie und Antisemitismus, die unsere Gesellschaft durchdringen, aktiv entgegenzutreten und alle rechten Ideologien zu bekämpfen. Wir fordern, dass dieser Prozess dazu dient, den Mythos des "isolierten Einzeltäters" aufzudecken und eine verantwortungsvolle Politik zur Bekämpfung der zunehmenden Online-Radikalisierung zu entwickeln.

Gemeinsame Erklärung von NebenklägerInnen im Prozess zum Anschlag von Halle

Wissen über Online-Radikalisierung fehlt

Im Prozess sei deutlich geworden, dass etwa sogenannte Imageboards, anonyme Internetforen, nicht verstanden würden, berichten die Initiativenvertreter. Dabei habe sich der Angeklagte auf Imageboards seine Waffen besorgt und aufgrund seines Auftretens auf den Boards auch eine größere Geldspende bekommen. Er sei ein Teil dieser Community. Doch erst am dritten Verhandlungstag sei durch einen Anwalt der Nebenklage darauf hingewiesen worden, dass weder der Beamte, der den Angeklagten befragt hatte, noch das Gericht einen Experten für Imageboards hinzugezogen hätten.

Bei der Verhandlung sei zudem aufgefallen, dass der Angeklagte sehr viel über seine Ideologie rede, welche er schließlich auch verbreiten wolle. Aber bei bestimmten Themen blocke er vollkommen ab: So habe er nicht sagen wollen, auf welchen Imageboards er unterwegs war, weil nicht wolle, dass diese geschlossen würden. Das Schließen allein würde nichts bringen, meinen die Vertreter der Initiative. Dann würden sich einfach neue Boards gründen. Stattdessen wäre eine nachhaltigere Veränderung notwendig: "Es muss eine gesellschaftliche Aufgabe sein, dass das, was da geäußert wird, nicht als normal und witzig wahrgenommen wird."

Anschlag eingebettet in weitere rechtsextreme Übergriffe

Außerdem ist der Initiative wichtig, herauszustellen, dass der Anschlag von Halle keineswegs "aus dem Nichts heraus" passiert ist oder völlig überraschend kam. "Diese Überraschung resultiert meines Erachtens auch aus einem Wegschauen", sagt ein Vertreter der Initiative. Stattdessen sei der Anschlag eingebettet in "eine lange Reihe extremrechter Übergriffe in Halle". Sie nennen als Beispiele die Vernetzungen zwischen Halles rechtsextremer Szene und dem rechten Verleger Götz Kubitschek in Schnellroda, die starke Rechtsaußen-Neigung der AfD in Sachsen-Anhalt und die Demonstrationen um den Rechtsextremen Sven Liebich auf dem Marktplatz Halle. Im September ist Liebich wegen Verleumdung, Beleidigung, Volksverhetzung und Beschimpfung von religiösen Bekenntnissen zu insgesamt elf Monaten Haft auf Bewährung verurteilt worden.

Die zwei Hallenser sagen, sie hätten gehofft, dass solche Brüche wie der Anschlag mehr gesellschaftliche Prozesse in Gang setzen würden. Doch nach den ersten Statements sei wenig passiert. Das war eine wichtige Motivation für die Gründung der Initiative gewesen: die Nicht-Bearbeitung des Anschlags innerhalb der Stadt. Relativ schnell nach dem Anschlag ist ihrer Beobachtung nach in Halle wieder Normalität eingekehrt. Dabei habe es weitere antisemitische Vorfälle gegeben, etwa das Hakenkreuz aus Papier vor der halleschen Synagoge, das ein Polizist entfernt haben soll. Hinzu komme der Fluchtversuch des mutmaßlichem Attentäters aus dem Gefängnis Roter Ochse in Halle: "Man kann sich das aus unserer Perspektive kaum vorstellen, was das bei den Betroffenen für eine Re-Traumatisierung auslösen kann."

Stärkere Aufarbeitung in Halle

Die Initiative hat Vorschläge für die Aufarbeitung des Anschlags an die Stadt Halle. Das Gedenk-Konzert sei nicht genug gewesen – es fehle eine grundsätzliche Auseinandersetzung etwa mit dem Thema Antisemitismus. Zum Jahrestag des Anschlags, am 9. Oktober 2020, plant die Stadt eine Demokratiekonferenz. Und das sei durchaus begrüßenswert, so die Initiative. Die Gruppe schlägt vor, dass die Stadt Halle zudem seine zivilgesellschaftlichen Organisationen fragen könnte: "Wie kann man Antisemitismus, Rassismus, Misogynie thematisieren? Welche Formate kann es geben? Was kann die Stadt Halle leisten?" Die Initiative plant zum Beispiel Vorträge und ein Bildungsprogramm.

Nicht nur die Stadtverwaltung, auch ein Großteil der Hallenser nach dem Anschlag weitergemacht wie vorher, kritisiert die Initiative. Vielen sei nicht bewusst, was konkret in ihrer Stadt passiert sei. Der Polizeieinsatz sei sicherlich registriert worden. Doch bald darauf habe die Einstellung "Uns hat es ja nicht betroffen" dominiert. "Und das ist ein fundamentales Problem. Es wäre die Aufgabe der Stadt, da eine Öffentlichkeit herzustellen. Denn auch wir als Initiative können nur zu einem beschränkten Publikum sprechen und mit beschränkten Ressourcen arbeiten."

Gedenken nicht auf den Jahrestag beschränken

Eine Sorge der Initiative ist, dass die Erinnerung an das Attentat in Halle ritualisiert und das Gedenken daran auf den Jahrestag beschränkt wird. Das Vorgefallene müsse öffentlich bleiben. "Ein normales 'Weiter so' darf es gesellschaftlich nicht geben."

Wir stehen in Solidarität mit allen, die von rechter Gewalt betroffen sind. Allein in den letzten Jahren haben die Taten, die wir in Kassel, Halle und Hanau erlebt haben, gezeigt, dass rechte Ideologien tödlich sind und uns alle betreffen. Als Gesellschaft tragen wir die Verantwortung, alle Menschen zu schützen, unabhängig von ihrer Herkunft, Religion, ihrem Geschlecht oder ihrer ethnischen Zugehörigkeit. Dazu müssen wir den Ideologien, die zu der Barbarei führen, die wir in Halle erlebt haben, und all denen, die solche Gewalt in Deutschland und im Ausland verherrlichen, furchtlos entgegentreten.

Gemeinsame Erklärung von NebenklägerInnen im Prozess zum Anschlag von Halle
Maria Hendrischke
Bildrechte: MDR/Jörn Rettig

Über die Autorin Maria Hendrischke arbeitet seit Mai 2017 als Online-Redakteurin für MDR SACHSEN-ANHALT – in Halle und in Magdeburg. Ihre Schwerpunkte sind Nachrichten aus dem Süden Sachsen-Anhalts, Politik sowie Erklärstücke und Datenprojekte. Ihre erste Station in Sachsen-Anhalt war Magdeburg, wo sie ihren Journalistik-Bachelor machte. Darauf folgten Auslandssemester in Auckland und Lissabon sowie ein Masterstudium der Kommunikationsforschung mit Schwerpunkt Politik in Erfurt und Austin, Texas. Nach einem Volontariat in einer Online-Redaktion in Berlin ging es schließlich zurück nach Sachsen-Anhalt, dieses Mal aber in die Landeshauptstadt der Herzen – nach Halle. Ihr Lieblingsort in Sachsen-Anhalt sind die Klausberge an der Saale. Aber der Harz ist auch ein Traum, findet sie.

Quelle: MDR/mh

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 30. September 2020 | 19:00 Uhr

8 Kommentare

Denkschnecke am 01.10.2020

Das Argument "Der Angeklagte sei ja überführt" war ja auch nicht meins, sondern derer, die hier gern einen "kurzen Prozess" sehen wollen. Ich plädiere dafür, dass diese furchtbare Tat genau denselben vollständigen Rechtsweg erfährt, den das deutsche Rechtssystem vorsieht. Auch um der Opfer willen (und nicht nur der Todesopfer).
Ich habe allerdings aufgrund Ihrer anderen Kommentare zum Prozess, dass SIe versuchen, ihn jetzt schon zu desavouieren und eine Dolchstoßlegende vorzubereiten. Die Identität des Angeklagten mit dem Täter dürfte deutlich gesicherter sein als die des Angeklagten Alaa S. in Chemnitz mit dem, der den Tod von Daniel S. zu verantworten hat, um mal eine Parallele zu ziehen.

Haller am 30.09.2020

Das ist simpel zu erklären warum ein Argument "Der Angeklagte sei ja überführt" nicht zählt.
Nehmen wir den Fall als Beispiel, wo ein Elephant auf der Bühne vor laufenden Kameras verschwinden tät.
Wessen ist der Künstler schuldig?

Wir haben hier mindestens 6 Videokameras und mindestens 3 "Fotoapparate" ... und Tatorte in Halle wo ungeklärt ist an welcher Position sich wer zu welcher Zeit aufgehalten hat.

bove am 30.09.2020

Das Video klärt recht wenig? Von welchem Video reden Sie, wenn Ihnen noch irgendetwas unklar bleibt?
Aber Sie haben mit Ihrem Verweis auf "Geomatiko" ja deutlich gemacht, wo Sie sich verorten. In der Ecke der rechten Verschwörungstheoretiker und Neonazis.

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