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Projekt "Paten und Lotsen"Wie ehrenamtliche Übersetzer in Halle Geflüchteten im Alltag helfen

23. April 2021, 15:17 Uhr

Ob Arztbesuche oder Behördengänge: Für Zugewanderte, die noch nicht gut Deutsch sprechen, sind solche wichtigen Termine eine Herausforderung. In Halle werden sie von ehrenamtliche Übersetzerinnen und Übersetzer zu den Terminen begleitet. Die Ehrenamtlichen sind selbst Geflüchtete und Migrantinnen. Warum das beiden Seiten bei der Integration hilft.

von Maria Hendrischke, MDR SACHSEN-ANHALT

Dienstag um 8 Uhr hat Salah Alissa einen Termin bei einem Orthopäden im Süden Halles. Aber nicht als Patient. Stattdessen begleitet er einen Geflüchteten zu seinem Termin in der Praxis – als ehrenamtlicher Übersetzer. Alissa, ein syrischer Anwalt, ist vor etwa fünf Jahren nach Halle gekommen. Er spricht Arabisch, Kurdisch – und jetzt auch fließend Deutsch. Er soll zwischen dem Orthopäden und dem Patienten übersetzen, dessen Deutschkenntnisse noch nicht so sicher sind.

Salah Alissa ist seit etwa acht Monaten Übersetzer im Projekt "Paten und Lotsen". Davor hat er gearbeitet, durch die Corona-Krise aber seinen Job verloren. Er wollte trotzdem etwas weitermachen. Als Alissa nach Halle gekommen ist, gab es das Projekt noch nicht. Anfangs sei es für ihn wegen der deutschen Sprache schwer gewesen. Das sei auch ein Grund für ihn gewesen, jetzt beim Programm Paten und Lotsen mitzumachen. Außerdem sei er selbst in der Situation der Migranten gewesen, denen er nun hilft. Er wolle ihnen die Situation durch seine Erfahrungen erleichtern.

Allgemein

Wie gehen die CDU, AfD, Linke, SPD, die Grünen und FDP mit dem Thema "Zuwanderung" um? Die Konzepte und Ideen der Parteien im Wahlkampf 2021 in Sachsen-Anhalt können Sie hier nachlesen.

CDU

Ein Bleiberecht für alle lehnt die Partei nach eigener Aussage strikt ab. Sie will sich stattdessen für eine Integrationsobergrenze für "tatsächlich Schutzbedürftige" einsetzen. Die CDU fordert von Menschen, die in Deutschland leben wollen oder Schutz suchen, den Willen zur Integration. Ausländische Fachkräfte sollen unbürokratisch für das Land gewonnen werden. Asylverfahren sind nach Vorstellung der CDU vordringlich an den EU-Außengrenzen zu klären. Deswegen spricht sich die Partei für den zügigen Ausbau der Europäischen Agentur für Grenz- und Küstenwache Frontex aus. Weiterhin will sich die CDU auf Bundesebene dafür einsetzen, die Liste sicherer Herkunftsländer auszuweiten. Abgelehnte Asylbewerber sollen durch eine landeseigene "Abschiebungssicherungseinrichtung" leichter abgeschoben werden.

AfD

Asylsuchende sollen in zentralen Unterkünften untergebracht und Geldleistungen ausnahmslos durch Sachleistungen ersetzt werden. Die AfD fordert eine Beendigung der Ausgabe von elektronischen Gesundheitskarten an Asylbewerber. Meldestellen in Sachsen-Anhalt sollen flächendeckend mit Pass-Prüfgeräten ausgestattet werden. Die Partei will verpflichtende medizinische Untersuchungen zur Alterseinschätzung von Geflüchteten einführen. Alle durch das Land finanzierten Maßnahmen für Integration sollen gestrichen werden. Außerdem soll die Zahl der Abschiebehaftplätze signifikant erhöht werden. Als Gefährder eingestufte Asylbewerber sollen nach dem Willen der Partei abgeschoben und bis dahin in Sicherungshaft genommen werden.

DIE LINKE

Die Linke will sich für einen Paradigmenwechsel in der Asyl- und Flüchtlingspolitik einsetzen. Auf Abschiebehaft soll verzichtet werden, im Winter und in Kriegsländer soll nicht mehr abgeschoben werden. Für aus Seenot Gerettete soll es ein Landesaufnahmeprogramm geben. Eine dezentrale Unterbringung in Wohnungen als Regelaufnahme hält die Linke für den besten Weg zur Integration. Asylsuchende sollen nach dem Willen der Partei ihren Wohnsitz innerhalb Sachsen-Anhalts frei wählen können. Geflüchtete sollen eine elektronische Gesundheitskarte erhalten. Im Ausland erworbene Berufsqualifikationen sollen schneller als bisher anerkannt werden. Die Einbürgerung soll erleichtert werden. Zusätzlich zu Magdeburg soll eine zweite Clearingstelle für unbegleitete minderjährige Geflüchtete im Süden des Landes eingerichtet werden.

SPD

Sachsen-Anhalt brauche mehr Zuwanderung, um wirtschaftlich leistungsfähig und kulturell attraktiv zu bleiben, lautet das Selbstverständnis der SPD. Deswegen will sie migrationsbezogene Zuständigkeiten in einem Ressort bündeln und ein zentrales "Welcome-Center" etablieren, das Fachkräfte sowie Unternehmen unterstützen soll. Der Aufenthalt in Erstaufnahmeeinrichtungen soll verkürzt werden. Kinder von Zuwanderern sollen möglichst schnell Zugang zu Kitas und Sprachförderangeboten erhalten und spätestens drei Monate nach Ankunft in die Schule gehen. Die SPD will ein Landesaufnahmeprogramm auflegen, um Geflüchtete aus den Lagern in Griechenland aufzunehmen. Sie plädiert zudem dafür, zum Rechtsanspruch auf Familiennachzug zurückzukehren. Alle dauerhaft in Sachsen-Anhalt lebenden Menschen sollen das kommunale Wahlrecht erhalten.

GRÜNE

Sachsen-Anhalt ist nach Einschätzung der Grünen auf Zuwanderung von Menschen aus dem Ausland angewiesen. Die Partei möchte deshalb Zuwanderung erleichtern, insbesondere für Menschen aus anderen EU-Ländern und für Fachkräfte nach dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz aus Nicht-EU-Staaten. Die Grünen verteidigen nach eigener Aussage darüber hinaus das Recht auf Asyl. Sie wollen ein Landesaufnahmeprogramm initiieren, das die Aufnahme von Geflüchteten "über den bundesweiten Verteilerschlüssel hinaus" ermöglicht. Abschiebungen sollen nur in unausweichlichen Fällen vollzogen werden. Abschiebungen in Kriegsgebiete lehnt die Partei ab. Familien mit Minderjährigen sollen nicht getrennt werden. Abschiebehaft soll es nicht geben. Asylsuchende sollen nach dem Willen der Grünen dezentral in den Städten und Landkreisen untergebracht werden und nicht in zentralen Unterkünften.

FDP

Die FDP spricht sich grundsätzlich für Zuwanderung aus. Die Partei will lokale Konzepte für eine Willkommenskultur erarbeiten und umsetzen, die für Menschen aus anderen Regionen Deutschlands sowie Menschen aus anderen Nationen gelten sollen. Ein Bestandteil davon sollen Sprachkurse sein. Andererseits spricht sich die FDP für "konsequente Rückführungen" von Menschen aus, wenn ein Gericht entschieden hat, dass sie sich zu Unrecht in Deutschland aufhalten.

Ehrenamtliche Übersetzung für Migranten

Tarek Ali leitet das Projekt "Paten und Lotsen", das es seit September 2016 gibt. Das Projekt war eine Idee der Freiwilligenagentur Halle. Mittlerweile ist "Paten und Lotsen" Teil des Projekts "Willkommen in Halle – Engagiert für Integration" und ist im Welcome-Treff in der Geiststraße 58 angesiedelt. Seit Beginn der Corona-Pandemie ist es im laut Ali sonst stets vollen Welcome-Treff still. Angebote wie gemeinsames Kochen, Deutschkurse oder Hilfe beim Ausfüllen von Dokumenten sind ins Internet verlagert worden – soweit möglich. Doch die Paten und Lotsen könnten bei Vor-Ort-Terminen weiterhin direkten Kontakt zu Zugewanderten halten, sagt Ali.

Während vereidigte Dolmetscher Geld kosten, übersetzen die etwa 60 Ehrenamtlichen ohne Aufwandsentschädigung. Sie erhielten nur einen Zuschuss zu Fahrtkosten, sagt Ali. Insgesamt übersetzen die Paten und Lotsen in mehr als 15 Sprachen. Besonders nachgefragt seien Arabisch, Kurdisch und Persisch. Die Ehrenamtlichen müssen mindestens Deutschkenntnisse auf B2-Niveau haben, also fließend sprechen können. Pro Woche gebe es bis zu 50 Termine, zu denen Geflüchtete oder Migranten begleitet würden, schätzt Ali. Die Zahlen seien seit Beginn des Projekts etwa konstant. Einige der Begleiteten würden selbst Deutsch schon auf gutem Niveau sprechen. Aber manche fühlen sich trotzdem noch nicht so sicher und wollen daher zu wichtigen Terminen begleitet werden.

Übersetzen beim Jobcenter, Anwalt, Krankenhaus

Seit Projektbeginn seien mehrere tausend Zugewanderte im Alltag unterstützt worden. Die Einsätze sind vielfältig: Die Freiwilligen begleiten sie laut Ali zum Beispiel zum Jugendamt, zum Jobcenter, zu Rechtsanwälten und ins Krankenhaus. Sie sind sogar bei Geburten dabei. "Meiner Meinung nach ist das ein unverzichtbares Projekt", sagt Ali. Denn es gehe nicht nur ums Übersetzen.

Es geht um Integration. Sie fragen auch viel: 'Wo kann ich das finden, wo kann ich das machen?' Da werden sie von den Paten und Lotsen auch Hilfe bekommen.

Tarek Ali, Projektkoordinator "Paten und Lotsen"

Alle ehrenamtlichen Übersetzerinnen und Übersetzer seien selbst nach Deutschland Zugewanderte, sagt Ali. "Ich denke, das ist der Vorteil. Denn jemand ist hier nach Deutschland gekommen und hat diese Erfahrung, hat diese Termine und diese Bürokratie erlebt." Wenn andere Migranten Unterstützung brauchen, könnten sie daher präzise weiterhelfen. Die meisten Ehrenamtlichen lebten schon seit zehn oder 15 Jahren in Halle. Andere wiederum seien erst 2015 hergekommen, hätten aber sehr schnell Deutsch gelernt.

Fachbegriffe und Feingefühl

Zu diesen Schnelllernern gehört auch Salah Alissa. Der Anwalt sagt, für ihn seien Übersetzungstermine bei Ärzten wegen der Fachbegriffe besonders schwierig. "Ich habe schon Deutsch bis C1 gelernt, aber das ist noch nicht genug dafür", sagt er. Er müsse noch weiter lernen. Einsätze bei Anwälten oder auch bei Behörden seien für ihn einfacher. Ihm gefällt an dem Ehrenamt, dass er jeden Tag neue Menschen kennenlerne, ihnen helfen könne und dabei selbst neue Erfahrungen sammle.

Gerade bei Arztterminen muss Alissa auch manchmal negative Botschaften übersetzen. Wie geht er damit um? "Der Begleiter spielt eine Rolle", sagt er. Denn derjenige könne die Nachricht zum Beispiel ein bisschen angenehmer ausdrücken, nicht so direkt. Alissa sagt, als Anwalt habe er Erfahrung darin, mit Menschen so zu kommunizieren.

Anfragen per Whatsapp

Bei den Projektkoordinatoren Tarek Ali und Ann Borgwardt laufen die Anfragen für Übersetzungseinsätze ein. Denn wenn Zugewanderte zu einem Termin begleitet werden möchten, rufen an oder melden sie sich per Whatsapp. Am besten sollten sie etwa fünf Tage vor dem Termin anfragen, sagt Ali. Das sei für die Koordination nötig. Denn es werde ein Ehrenamtlicher gesucht, der Zeit hat, die geforderte Sprache spricht und sich auf den Termin vorbereiten kann. Salah Alissa sagt, dass er etwa einen Termin pro Tag habe. Manche dauerten eine Stunde, andere fünf Stunden – abhängig vom Einsatz.

Die Freiwilligen werden durch Seminare bei ihren Einsätzen unterstützt – etwa zum Thema Asylrecht oder Umgang mit Konflikten. Um die Ehrenamtlichen vor Überlastung zu schützen, müssen sie nach 18 Uhr oder am Wochenende nicht zu Terminen gehen oder auf Anfragen antworten. Außerdem sind sie aufgefordert, sich bei bestimmten Problemen direkt an Tarek Ali zu wenden: beispielsweise, wenn bei einem Krankenhaustermin eine Entscheidung über eine Operation getroffen werden soll. Denn die Freiwilligen seien eben keine vereidigten Dolmetscher und sie dürften nicht beraten.

Gesucht: Übersetzerinnen für Arabisch, Persisch, Französisch

Das Projekt bietet auch Stellen für einen einjährigen Bundesfreiwilligendienst an. Diese Freiwilligen erhielten Geld für Fahrtkosten und auch ein Taschengeld, sagt Ali. Derzeit werden Übersetzerinnen für Arabisch, Persisch und Französisch gesucht.

Die Übersetzenden haben durch ihr Engagement den Vorteil, dass sie bei den Terminen ihre Deutschkenntnisse weiter verbessern können, so Ali. Außerdem würden sie durch die vielfältigen Einsatzorte noch besser verstehen, wie Deutschland "funktioniert". Vom Projekt würden die Ehrenamtlichen zudem dabei unterstützt, einen Job zu finden oder ein Studium zu beginnen.

Salah Alissa erklärt, warum er sich als Übersetzer engagiert: "Ich denke, das Ehrenamt in Deutschland ist allgemein eine schöne Idee", sagt er. Es könne eine Lücke in vielen Bereichen ausfüllen. In Syrien werde man eher über Bekannte unterstützt, nicht über Vereine. Denn Vereine dürften dort gar nicht gegründet werden.

Ich denke, das ist sehr schön hier in Deutschland: die Vereine und das Ehrenamt in allen Bereichen. Das hilft vielen Leuten – nicht nur Migranten.

Salah Alissa, ehrenamtlicher Übersetzer

Bildrechte: MDR/Jörn Rettig

Über die AutorinMaria Hendrischke arbeitet seit Mai 2017 für MDR SACHSEN-ANHALT – in Halle und in Magdeburg. Ihre Schwerpunkte sind Nachrichten aus dem Süden Sachsen-Anhalts, Politik sowie Erklärstücke und Datenprojekte. Ihre erste Station in Sachsen-Anhalt war Magdeburg, wo sie ihren Journalistik-Bachelor machte. Darauf folgten Auslandssemester in Auckland und Lissabon sowie ein Masterstudium der Kommunikationsforschung mit Schwerpunkt Politik in Erfurt und Austin, Texas. Nach einem Volontariat in einer Online-Redaktion in Berlin ging es schließlich zurück nach Sachsen-Anhalt, dieses Mal aber in die Landeshauptstadt der Herzen – nach Halle. Ihr Lieblingsort in Sachsen-Anhalt sind die Klausberge an der Saale. Aber der Harz ist auch ein Traum, findet sie.

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MDR/Maria Hendrischke