Tagung der Leopoldina: "Kindheit seit 1945" Wie Kindheit in DDR-Heimen fürs Leben prägte
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18. Oktober 2024, 12:47 Uhr
Bei der Herbsttagung der Wissenschafts-Akademie Leopoldina in Halle geht es ab Donnerstag um "Kindheit seit 1945". Forschende aus ganz Deutschland diskutieren, wie sich die Wahrnehmung von Kindheit seit '45 verändert hat – und wie Erziehung die Biografie prägt. Dabei auch Psychologin und Psychotherapeutin Heide Glaesmer von der Uniklinik Leipzig. Sie hat die Persönlichkeitsentwicklung von DDR-Heimkindern untersucht und wie Betroffene ihre Kindheit und das Kindheitstrauma aufarbeiten.
MDR KULTUR: Auf der Herbsttagung der Leopoldina sprechen Sie über Ihre Forschungen zu Heimkindern in der DDR. Was haben Sie herausgefunden?
Heide Glaesmer, Psychologin und Psychotherapeutin der Uniklinik Leipzig: Wir haben hier in Leipzig an der Uni über 270 Menschen befragt, die in Kinderheimen oder Jugendwerkhöfen in der DDR gelebt haben. Wir haben sehr verschiedene Dinge untersucht. Einer der Kernbefunde ist, dass sehr viele von diesen Kindern sehr negative Erfahrungen gemacht haben, in Form von Disziplinar- und Strafmaßnahmen. Zum Teil haben sie Gewalt erlebt, sowohl durch pädagogisches Personal als auch durch andere Kinder und Jugendliche.
Über Heide Glaesmer und ihre Forschung (zum Aufklappen)
- Seit 2014 ist sie stellvertretende Leiterin der Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie der Universität Leipzig.
- Sie war Mitglied des Forschunsverbundes "Testimony – Erfahrungen in DDR-Kinderheimen. Bewältigung und Aufarbeitung."
- 2023 gab sie zu dem Thema das Buch "Ehemalige Heimkinder der DDR" mit heraus.
- Heide Glaesmer habilitierte zum Thema "Traumatische Erfahrungen und posttraumatische Belastungsstörungen in der Altenbevölkerung – Zusammenhänge mit psychischen und körperlichen Erkrankungen sowie mit medizinischer Inanspruchnahme".
Der größere Teil der Studienteilnehmer hat auch heute noch ein geringes Einkommen und wirtschaftliche Probleme.
Wie wirken sich solche traumatischen Erfahrungen auf den späteren Lebensweg aus?
Man muss betonen, dass es in diesem Fall Menschen in der Kindheit getroffen hat. Traumatische Erfahrungen in diesem Lebensalter greifen tief in die Entwicklung ein. Es gibt eine ganze Reihe von psychischen Erkrankungen, die auf Traumatisierungen folgen können, allen voran die posttraumatische Belastungsstörung, aber eben auch Depressionen, Suchterkrankungen.
Traumatische Erfahrungen in diesem Lebensalter greifen tief in die Entwicklung ein.
Wir wissen außerdem, dass Traumatisierungen in der Kindheit auch negative Auswirkungen auf die körperliche Gesundheit haben. Und wichtig ist mir zu betonen, dass sie auch soziale Folgen haben aufgrund ungünstiger Bildungsbiografien. Der größere Teil der Studienteilnehmer hat auch heute noch ein geringes Einkommen und wirtschaftliche Probleme.
Die Kindheit ist eine verletzliche Phase, in der andererseits auch Selbstwirksamkeit und Resilienz angelegt werden können, auch unter besonders schwierigen Umständen. Wie zeigt sich das bei den Menschen, die Sie befragt haben?
Das ist extrem vielfältig. Über 35 Jahre nach Ende der DDR haben wir ja Menschen befragt, die ein Leben gelebt haben, auch trotz dieser Kindheitserfahrung. Und wir haben auch Menschen getroffen, die glücklich sind, die Familien haben, die arbeiten gegangen sind. Und selbst unter denen, die es schwer hatten, die vielleicht auch unter psychischen Folgen leiden, sind viele, die sich inzwischen auf den Weg der Aufarbeitung und Bewältigung gemacht haben und zum Beispiel als Zeitzeugen aktiv sind, ihre Geschichte erzählen und sich einsetzen dafür, dass so was nicht wieder passiert. In diesem Sinne ist da auch viel Resilienz.
"Kindheit nach 1945" ist das große Thema der Herbsttagung der Leopoldina. Was versprechen Sie sich von diesem Austausch?
Das Interessante ist, dass dort Kolleginnen und Kollegen aufeinandertreffen, die zu sehr unterschiedlichen Themen forschen, auch in Ost- und Westdeutschland. Und was wir in den letzten Jahren sehen, ist, dass sehr viel Aufarbeitung zu Misständen in ganz unterschiedlichen Institutionen und Kontexten passiert ist, sodass wir uns jetzt auf der Tagung darüber verständigen, wie man so etwas richtig machen kann, unter Beteiligung der Zeitzeugen, und wie die Kindheit, wie sich unser Verständnis von der Kindheit auch verändert hat und was das für die Forschung bedeutet, aber auch natürlich für die Gegenwart, also für Kinder, die heute aufwachsen.
Mehr zur Fachtagung der Leopoldina (zum Aufklappen)
Herbsttagung 2024 des Zentrums für Wissenschaftsforschung
"Wissenschafts- und Medizingeschichte der Kindheit nach 1945"
Wann:
Donnerstag, 17. Oktober, 9 bis 17:45 Uhr und Freitag, 18. Oktober, 9 bis 14 Uhr
Wo:
Lesesaal, Emil-Abderhalden-Straße 36, 06108 Halle (Saale) und online
Eintritt: frei, öffentlich zugänglich – Bitte um Voranmeldung bei Teilnahme vor Ort
Vorträge:
- Historikerin Prof. Dr. Marietta Meier (Zürich/Schweiz): zum Einsatz psychoaktiver Prüfsubstanzen bei Minderjährigen in der Zeit von 1950 bis 1980
- Geschichts- und Erziehungswissenschaftler Dr. Jens Elberfeld (Halle): über den Umgang mit verhaltensauffälligen Kindern zwischen Pathologisierung und Pädagogisierung in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1960 und 2000
- Psychologin und Psychotherapeutin Prof. Dr. Heide Glaesmer (Leipzig): über "Kinder in DDR-Heimen"
- Zwei Diskussionsrunden über Methoden und Problemen kindheitshistorischer Forschung und den empathischen Umgang mit betroffenen ehemaligen Heimkindern
Buch:
"Ehemalige Heimkinder der DDR. Traumatische Erfahrungen und deren Bewältigung über die Lebensspanne"
Herausgegeben von: Heide Glaesmer, Birgit Wagner, Silke Birgitta Gahleitner und Heiner Fangerau
erschienen im Klett-Cotta Verlag
1. Auflage 2023, 248 Seiten, 28 Euro
ISBN: 978-3-608-98095-0
Redaktionelle Bearbeitung: lm, ks, sg
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | MDR KULTUR am Nachmittag | 16. Oktober 2024 | 16:10 Uhr