Eine Frau mit Brille steht in einer Lindenallee.
In Kitas mit offenem Konzept gibt es viele Freiheiten für Kinder. Professorin Johanna Mierendorff lehrt in Halle und weiß, was das für die Entwicklung der Kinder bedeutet. Bildrechte: MDR/Luise Kotulla

Einschätzung einer Professorin Sind "offene" Kitas gut fürs Kind?

16. Mai 2023, 05:00 Uhr

Schlafen, wann und wo man will – essen am Buffet: Die Kita Heide-Süd in Halle ist mit ihrem offenen Konzept ins Finale des Deutschen Kita-Preises gekommen. Doch ist dieses Konzept auch gut für die Kinder? Die Sozialpädagogin Johanna Mierendorff gibt im Interview Antworten – und verrät, woran Eltern ihren Kindern anmerken, wenn die Kita nicht gut für sie ist.

MDR SACHSEN-ANHALT: Frau Mierendorff, wenn ein Kind entscheiden darf, wann und was es in der Kita isst – kommt jedes Kind damit zurecht?

Prof. Dr. Johanna Mierendorff: Das ist schon ein sehr offenes Konzept. Es ist die Auseinandersetzung damit, dass Kinder unterschiedliche Menschen sind, unterschiedliche Bedürfnisse haben, unterschiedliche Biorhythmen haben. Und dass Kinder nach ihren biologischen, biophysischen, psychischen Bedürfnissen und konkreten Bedarfen essen können. Als wir früher auf Klassenfahrt waren, das ist lange her, durften wir den ganzen Tag über nicht trinken. Das wäre sozusagen das andere Ende: Alles komplett zu regulieren an den Abläufen einer Institution.

Kita-Kinder beim gemeinsamen Frühstück
Normalerweise spüren Kinder, wenn sie hungrig sind. Bildrechte: imago images/Shotshop

Wenn ein Kind nicht in seiner Wahrnehmung gestört ist, merkt es, dass es Hunger hat – wenn es also ein gesundes Gefühl für den eigenen Körper hat. Man kann aber nicht davon ausgehen, dass das alle Kinder haben. Und da ist die Aufgabe der Erzieherinnen und Erzieher: Kinder heranzuführen, dass sie sich um sich selbst sorgen. Es darf kein Kind untergehen, das sich beispielsweise nicht artikulieren kann, seine Bedürfnisse nicht wahrnehmen kann oder sich nicht durchsetzen kann. Das muss beobachtet und beachtet werden.

Es ist die Aufgabe der Erzieherinnen und Erzieher, Kinder heranzuführen, dass sie sich um sich selbst sorgen.

Prof. Dr. Johanna Mierendorff Institut für Pädagogik der Uni Halle

Die Vorteile einer ausgedehnten Essenszeit liegen darin, dass das Kind bedürfnisorientiert von Anfang an lernt, die Bedarfe des eigenen Körpers zu spüren und dann eben zu realisieren. Das ist eine, würde ich sagen, erste Sozialisation in der Idee einer demokratischen Erziehung. Ich würde nur nicht sagen, dass im Gegenteil in einer Einrichtung, in der beispielsweise Tageslauf-Strukturen bestehen, es dort nicht die Möglichkeit gibt. Es ist eben ein anderer Weg des Lernens.

Ein grünes Schild mit der Aufschrift "Institut für Pädagogik".
Bildrechte: MDR/Luise Kotulla

Prof. Dr. Johanna Mierendorff Johanna Mierendorff hat an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg die Professur für Sozialpädagogik mit dem Schwerpunkt Pädagogik der frühen Kindheit inne. Sie studierte Erziehungswissenschaften an der TU Berlin mit dem Abschluss Diplompädagogin, promovierte an der Universität Bremen und habilitierte im Fach Sozialpädagogik an der Universität Hildesheim.

In Halle arbeitete sie von 2000 bis 2007 als wissenschaftliche Assistentin und ist hier seit 2009 als Professorin tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind der Wandel der Kindheit und der Kindertagesbetreuung sowie soziale Ungleichheit in der Kindheit. Die Professorin hat zwei erwachsene Kinder.

Ist die freie Tagesgestaltung in der Kita eine gute Variante für Kinder?

Ein solches Konzept darf nicht missverstanden werden mit 'Jeder kann machen, was er will', also im negativen Sinne. Tatsächlich ist es etwas anderes, an den Bedürfnissen der Kinder orientiert den Alltag zu unterstützen. Der Grundsatz ist dort: Es gibt keine Angebote, die vorstrukturiert sind, sondern es werden aus den Interessen der Kinder heraus Projekte entwickelt. Das ist inzwischen absolut üblich.

Das Bildungsprogramm für Kitas in Sachsen-Anhalt ist ein bedürfnisorientiertes, es heißt "Bildung elementar". Es ist aber kein rechtsverbindliches Dokument, sondern dient der Orientierung und ich kann empirisch nicht sagen, wie viele Kitas danach arbeiten. Aber ich würde sagen, dass ein großer Teil ein offenes Konzept hat, den ganzen Tag über oder für eine bestimmte Zeit.

Kleiner Junge steht freuig an einem farbigen Zaun.
In der Kita lernen Kinder fürs Leben. (Symbolbild) Bildrechte: IMAGO/imagebroker

Es gibt auch weltweit nationale Bildungsprogramme, die mit solchen Ideen der offenen Tagesgestaltung arbeiten und Kinder von Anfang an daran heranführen, den eigenen Tag zu gestalten. Damit will ich nicht sagen, dass das immer das Beste ist. Meines Erachtens muss es eine achtsame Gestaltung der Bedingungen geben, einen achtsamen Umgang mit dem, was sich in Kindergruppen vollzieht.

Ein Kindergarten existiert natürlich nie außerhalb einer Gesellschaft. Er ist nicht nur dazu da, damit die Eltern nicht betreuen müssen, wenn beide erwerbstätig sind – sondern er ist auch eine Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen in einer Gesellschaft, mit Arbeitsbedingungen, mit Familienbedingungen. Von Anfang an wachsen Kinder dort in eine Organisation von Zeit, von Arbeit, von Lebenszeit hinein. Wenn wir uns anschauen, wie wir gerade in freien Berufen oder im Homeoffice arbeiten, ist das genau die Voraussetzung – dass wir Bedürfnisse wahrnehmen können. Viele Berufe erfordern diese Fähigkeit, Stopp zu sagen, wenn es nicht mehr geht, eine Grenze zu setzen in Bezug auf Schlafen, Essen und Trinken. Die offene Tagesgestaltung ist eine Variante, die unseren Realitäten insgesamt entspricht.

Ein Kind steht an einem Motorrad in einem Kita-Raum. 1 min
Bildrechte: DKJS/J. Erlenmeyer & N. Götz
1 min

MDR FERNSEHEN Sa 13.05.2023 13:33Uhr 01:06 min

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Ist es gut, wenn das Kind schlafen kann, wo und wann es das Bedürfnis dazu hat?

Ich glaube, das ist eine gute Variante. Für Kindertageseinrichtungen ist es eine Notwendigkeit, dass sie Räume haben, in denen Rückzug ermöglicht wird. Man sieht, dass einige Kinder ein sehr großes Schlafbedürfnis haben und auch sehr viel länger schlafen als die normal angesetzte Zeit. Es ist gut, wenn sie den Raum haben, ausschlafen zu können. Es gibt auch Kinder, die ein sehr geringes Schlafbedürfnis haben oder nachts besser schlafen, die in der Kita ruhen können, aber nicht schlafen müssen. Es ist wichtig, dass Kinder die Möglichkeit haben, die Einhegung oder die Offenheit zu finden, die sie brauchen.

Wichtig ist auch: Wenn bemerkt wird, dass ein Kind müde ist, und man sieht es ganz schnell, wenn ein Kind müde wird, dass beim Einschlafen geholfen wird und dabei, überhaupt dieses Bedürfnis zu entdecken.

Es ist keine Anarchie in diesen Einrichtungen, sondern es ist eine Auseinandersetzung damit, wo ein Kind im Tageslauf gerade steht – um dann zu unterstützen, dass ein guter Weg genommen wird.

Wie viel Struktur braucht ein Kindergartenkind in einer Einrichtung?

Kinder brauchen Struktur, sie brauchen die sowohl im Tagesablauf, im Tagesrhythmus, im Wochenrhythmus in der Beziehung zu Person, in den Regeln zwischen Kindern. Das heißt aber nicht, dass alles vorgegeben oder reguliert sein muss, sondern dass es Zuverlässigkeiten gibt, auf die Kinder sich verlassen können.

Kommt jedes Kind mit einem sehr freien Konzept zurecht?

Es gibt Kinder, die darin verloren gehen können und darauf muss geachtet werden. Kinder, die sich gar nicht konzentrieren können, benötigen vielleicht ein geschlosseneres Arrangement. Oder Kinder, die ihre Bedürfnisse nicht spüren. Oder Kinder, die Angst haben, von einem Raum in den anderen zu gehen. Es kann unterschiedliche Situationen, unterschiedliche kindliche Charakteristiken geben, die das nicht möglich machen.

Es gibt Kinder, die darin verloren gehen können und darauf muss geachtet werden. Kinder, die sich gar nicht konzentrieren können, benötigen vielleicht ein geschlosseneres Arrangement.

Prof. Dr. Johanna Mierendorff Institut für Pädagogik der Uni Halle

Eltern haben ein ziemlich gutes Gefühl dafür, ob ihr Kind untergeht oder nicht. Und Erzieherinnen müssten das auch sehen. Und dann muss man überlegen, ob man versucht, das Kind anders einzubinden oder ob es nicht die richtige Kita für dieses Kind ist.

Ein Mädchen hält sich unglücklich die Hände vor das Gesicht.
Nicht jedes Kind kommt mit jedem Kita-Konzept zurecht. Bildrechte: IMAGO/imagebroker

Woran merken Eltern, dass die Kita nicht passt?

Sie sehen, wenn ihr Kind unglücklich ist. Sie sehen: Kinder weinen, Kinder werden still, Kinder werden aggressiv. Kinder wollen überhaupt nicht mehr in die Einrichtung. Das sind die normalen Äußerungen, die auch ein sehr kleines Kind bereits hat.

Es kann immer unterschiedliche Gründe haben – es kann auch im Familiären liegen, dass ein Kind sich morgens nicht trennen möchte. Man muss eben sehr intensiv schauen und beobachten. Was können die Ursachen dafür sein? Welches Angebot tut diesem Kind nicht gut? Und dafür gibt es in allen Einrichtungen Elterngespräche, auch die Gespräche zwischen Fachkräften.

Macht ein offenes Konzept die Kinder selbstständiger?

Eine offene Kita macht die Kinder nicht automatisch selbstständiger. Sie bietet den Raum der Entwicklung zur Selbständigkeit. Die Kita ist ja nur ein Teil der Lebensbedingungen von Kindern.

Es ist übrigens viel schwieriger, in so einer offenen Einrichtung die Regeln gemeinsam zu finden. Das ist ein großer und schwerer Prozess. Und das ist etwas, was Kinder erfahren können: Dass dieses notwendig und auch möglich ist. Es ist ein wichtiger Punkt von demokratischer Erziehung, indem man merkt, dass man in ein Regelsystem eingebunden ist. Es sind ja keine regelfreien Kitas. Ganz im Gegenteil. Offenheit ist nur möglich, wenn ein Grund-Set an Regeln existiert. Kinder müssen von Anfang an lernen: Man ist weder ein autonomer Mensch, noch ist man ein komplett in Ketten gelegter Mensch. Sondern es geht um Folgendes: Wie kann ich als Mensch Fähigkeiten entfalten und auch die eigenen Interessen kennenlernen?

Manche Eltern und Großeltern lehnen zu viele Freiheiten in der Kita ab. Sind das berechtigte Zweifel?

Es ist einfach eine andere Vorstellung, davon, welches Gerüst Kindern gebaut werden muss, in dem sie groß werden können. Und wenn die eigene Erfahrung oder die eigene Vorstellung von einem sehr gestalteten Gerüst besteht, dann ist es für diese Familien keine geeignete Einrichtung.

Kinder mit Erzieherinnen in einem Kita-Zimmer. An der Tür der Hinweis an die Eltern, draussen zu bleiben.
Eltern wissen meist sehr genau, was sie für ihr Kind wollen. Deshalb ist nicht jede Kita die richtige. Bildrechte: IMAGO/Sven Simon

Es ist, glaube ich, nicht nur eine Frage von 'Wenn sie es besser kennen würden, würden alle Eltern dieses Konzept wählen'. Es geht darum, ob Kinder konkret in ihrem Tun angeleitet werden sollten oder ob die Bedingungen dafür geschaffen werden sollten, dass Kinder eigenständig ihre Tagesläufe gestalten.

Die Wissenschaft sagt nicht, dass das Eine oder das Andere gut ist. Wenn man die großen Evaluationsstudien anschaut, steht und fällt es mit der konkreten Organisation, mit dem ganz konkreten Prozess, der sich in Einrichtungen vollzieht. Es geht um die Zusammenarbeit von Eltern und Erziehern, um die Zufriedenheit von Erziehern und Erzieherinnen in diesen Bereichen. Es geht um die räumlichen und zeitlichen Möglichkeiten, bestimmte Konzepte realisieren zu können. Es gibt schließlich auch Waldkindergärten, die lediglich Schlafmöglichkeiten im Wald und Unterstand-Möglichkeiten haben. Auch das ist eine Möglichkeit, wenn Eltern, Kinder und Erzieherinnen und Erzieher davon überzeugt sind, dass das funktioniert. Das heißt, eine offene Einrichtung kann gut sein oder schlecht, und eine Kita mit festen Gruppen kann auch gut oder schlecht sein. Es geht immer um die konkrete Umsetzung dessen, was man als geeignetes Konzept sieht. Das steht und fällt mit dem Engagement und mit der Überzeugung davon, dass das, was man macht, gut ist.

Die Fragen stellte Luise Kotulla.

MDR (Luise Kotulla)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 16. Mai 2023 | 08:30 Uhr

1 Kommentar

steka vor 45 Wochen

naja, ich bin da etwas skeptisch. In dem Alter sind die Kinder noch in der "Prägephase", also feste Tagesabläufe und Regeln müssen sein. Irgendwann verläßt das Kind die Kita und kommt in die Schule, da kann es auch nicht mitten im Unterricht das Frühstück auspacken. "Als wir früher auf Klassenfahrt waren, das ist lange her, durften wir den ganzen Tag über nicht trinken". An welcher schule soll denn das gewesen sein? Wir mußten immer eine Trinkflasche dabei haben. Vielleicht war das in Westberlin anders. Naja viel allgemeines ba bla bla. Ist Frau Professorin Johanna Mierendorff nur Theoretikerin oder hat sie auch praktische Erfahrung mit eigenen Kindern ?

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