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Streit in den heiligen Hallen: Zwischen Oberbürgermeister, Stadtverwaltung und Stadtrat ist in Halle die Stimmung nicht immer die beste, Bildrechte: imago/Steffen Schellhorn

Streit in der KommunalpolitikDeswegen gibt es in Halle so oft Konflikte zwischen Stadtrat und Stadtverwaltung

17. Februar 2021, 12:05 Uhr

Stadtrat und Stadtverwaltung sind in vielen Kommunen nicht die besten Freunde. In Halle scheint die Situation jedoch besonders kompliziert zu sein. Aktuell gibt es Streit beim Thema Kinderarmut. Wie Stadtrat und Verwaltung selbst die Lage wahrnehmen und warum es ständig Konflikte gibt.

Es ist kompliziert – so könnte man die Beziehung zwischen Halles Stadtrat auf der einen Seite und Stadtverwaltung und Oberbürgermeister auf der anderen Seite am besten beschreiben. Regelmäßig legt der Oberbürgermeister Bernd Wiegand Widerspruch gegen Beschlüsse des Stadtrates ein, der Stadtrat fühlt sich oft nicht ernst genommen. Eines der Themen, um das es aktuell Streit gibt, ist Kinderarmut.

Ein Drittel der Kinder in Armut

Die ist in Halle ein echtes Problem. Ein Drittel der Kinder der Stadt lebt in Armut, in Stadtteilen wie der Silberhöhe und Halle-Neustadt sind es sogar bis zu drei Viertel der Kinder. Es ist ein Thema, bei dem Stadtrat und Stadtverwaltung an einem Strang ziehen müssten, und zwar mit aller Kraft. Aber so richtig geht es nicht voran.

Im Jahr 2010 hat der Stadtrat von Halle die Stadtverwaltung beauftragt, alle drei Jahre einen Bericht zur Lage der in Armut lebenden Kinder in der Stadt vorzulegen. 2009 hatte die Stadtverwaltung schon einen solchen Kinderarmutsbericht angefertigt, 2012 erschien ein weiterer. Das ist jetzt acht Jahre her. Seitdem ist kein weiterer Kinderarmutsbericht erschienen. Was ist passiert?

Welche Aufgaben Stadtrat und Stadtverwaltung eigentlich haben

Wenn der Stadtrat in Halle beschließt, dass die Stadtverwaltung einen Kinderarmutsbericht schreiben soll, dann müssen die Stadtverwaltung und ihr Chef, der Oberbürgermeister, das auch tun. Eigentlich. Außer, sie hat gute Gründe, das nicht zu tun. Im Fall des Kinderarmutsberichtes argumentiert die Stadtverwaltung so: "Es wurden und werden regelmäßig Berichte zur Situation von Kinder vorgelegt, die jedoch nicht den Titel 'Kinderarmutsbericht' tragen, da dies stigmatisierend und einseitig wäre." Die Priorität der Sozialberichterstattung liege stattdessen vor allem auf den Bildungsberichten. Da Bildung als Schlüssel zur Bekämpfung und Vermeidung von Armut gelte, sei die inhaltliche Verbindung zwischen Bildungs- und Kinderarmutsberichten sehr eng.

Dass zwischen Kinderarmut und Bildung ein direkter Zusammenhang besteht, sagen so auch Expertinnen und Experten. Wenn man genauer hinschaut, stellt man allerdings fest: Es gibt durchaus klare Unterschiede zwischen den Kinderarmuts- und den Bildungsberichten der Stadt Halle. Einige der Faktoren, die in den beiden Kinderarmutsberichten analysiert werden, spielen in den Bildungsberichten kaum eine Rolle. Ernährung wird im Bildungsbericht nicht erwähnt, auch Wohnen und Gesundheit nur am Rande. Deckungsgleich sind beide Berichte also nicht.

Auch andere Stadtratsbeschlüsse hat die Verwaltung noch nicht umgesetzt

Der Stadtratsbeschluss zum Kinderarmutsbericht ist nicht der einzige, der von der Stadtverwaltung in Halle nicht so umgesetzt wurde wie geplant. Auf den Kinderarmutsbericht 2012 folgte 2015 ein Maßnahmenplan der Stadtverwaltung mit verschiedenen Handlungsempfehlungen. Da diese Handlungsempfehlungen 2017 noch nicht vollständig umgesetzt waren, beauftragte der Stadtrat die Stadtverwaltung, ab 2018 dafür drei Vollzeitstellen in der Verwaltung zu schaffen. Seit 2018 sind diese Positionen auch im Stellenplan der Stadtverwaltung. Doch jetzt, zwei Jahre später, sind sie immer noch nicht besetzt. "Zuerst musste noch erarbeitet werden, was der genaue inhaltliche Fokus der Stellen sein sollte", meint dazu das Bildungs- und Sozialdezernat der Stadt Halle.

Inés Brock von der Grünen-Stadtratsfraktion in Halle hat den Antrag verfasst, auf den die drei Stellen zurückgehen. Mit ihrer Fraktion bereitet sie gerade eine Anfrage an die Stadtverwaltung vor, um sich nach der Besetzung der Stellen zu erkundigen. Wenn die Stadtverwaltung Beschlüsse des Stadtrates nicht umsetzt, kann es dafür viele Gründe geben – unter anderem fehlende finanzielle oder zeitliche Kapazitäten.

Der Stadtrat muss immer wieder nachhaken

Trotzdem ist Inés Brock nicht die einzige im Stadtrat, die sich darüber ärgert, dass der Stadtrat immer wieder nachfragen muss, ob Beschlüsse auch umgesetzt werden. "Das hilft nicht immer dabei, dass das Engagement im Stadtrat Spaß macht", sagt Eric Eigendorf von der SPD-Fraktion humorvoll. Manchmal habe er den Eindruck, Oberbürgermeister und Stadtverwaltung überlegten nicht, wie sie Beschlüsse des Stadtrates ermöglichen könnten – sondern, welche Gründe es geben könnte, die Beschlüsse nicht umzusetzen. Yana Mark von der FDP-Fraktion im Stadtrat sagt sogar: "Manchmal habe ich das Gefühl, dass Verwaltungsmitarbeiter gern Interna äußern würden, die thematisch zur Diskussion im Stadtrat passen, aber sich nicht trauen. Das ist problematisch, weil wir als Stadtrat natürlich alle Informationen brauchen, um gute Entscheidungen zu treffen."

Andreas Scholtyssek von der CDU-Stadtratsfraktion sagt: "So, wie das bei uns läuft, habe ich das noch aus keiner anderen Stadt gehört – dass man so miteinander umgeht." Seitdem Oberbürgermeister Bernd Wiegand im Amt sei, habe er rund 50 Mal Widersprüche eingelegt. Bei seiner Vorgängerin habe es das kaum gegeben. Scholtyssek wünscht sich, dass Wiegand in solchen Fällen anders agieren würde: "Er könnte ja auch sagen: Auf diese Weise geht es leider nicht, aber ich nehme mich dem Thema an."

Wiegands Perspektive zu den Widersprüchen

Oberbürgermeister Bernd Wiegand hat eine andere Perspektive auf das Instrument des Widerspruchs. Auf der Website der Stadt Halle schreibt er: "Bedauerlicherweise wurde von diesem Verfahren bis zu Beginn meiner Amtszeit nur wenig oder gar nicht Gebrauch gemacht. Nur so ist es zu erklären, dass die Stadt hoch verschuldet war, keinen bestätigten Haushalt hatte, nur geringe Fördermittel erhielt, Altlasten aufarbeiten muss und die Vereine keine Planungssicherheit hatten." Online ist auch einsehbar, dass Wiegand schon zwischen 2012 und 2015 mehr als 20 Mal Widerspruch gegen Stadtratsbeschlüsse eingelegt hat. In den Jahren vor seiner Amtszeit hatte es meist nicht mehr als zwei Widersprüche pro Jahr gegeben, 2010 sogar gar keinen.

Bei aller Kritik an Oberbürgermeister und Stadtverwaltung betonen alle Stadtratsfraktionen aber auch: Die Kritik trifft nicht auf alle Stellen in der Verwaltung zu. Schwierig, da sind sich die meisten einig, ist vor allem, den Haushalt festzulegen. Dabei, so nehmen manche Stadträtinnen und Stadträte es wahr, nutze die Verwaltung ihren Wissensvorsprung den ehrenamtlichen Stadtratsmitgliedern gegenüber regelmäßig aus, anstatt ihr Wissen zu teilen und auf Augenhöhe gemeinsame Entscheidungen zu treffen.

Die Zusammenarbeit ist kooperativ. Gerade die Corona-Zeit hat gezeigt, dass Stadträte und Verwaltung gut zusammenarbeiten.

Bernd Wiegand | Oberbürgermeister von Halle

Bei manchen Themenkomplexen funktioniere die Zusammenarbeit aber ausgesprochen gut. Als ein positives Beispiel nennt Eric Eigendorf von der SPD die Maßnahmen im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie: "Das ist hervorragend gelaufen: Wir waren immer up to date und wurden auch nach unserer Meinung gefragt. So ein vertrauensvolles Miteinander würden wir uns auch in anderen Bereichen wünschen." Das bestätigt auch Oberbürgermeister Bernd Wiegand selbst. Zumindest in Bezug auf die Corona-Zeit sind Stadtrat und Stadtverwaltung sich also einig. Aber offensichtlich nicht in allen anderen Aspekten.

Kommunale Konflikte kein Demokratieproblem

Dass es auch in anderen Bundesländern derartige Probleme gibt, bestätigt Jan Holtkamp von der Fernuni Hagen. Der Politikwissenschaftler ist Experte zum Thema Kommunalpolitik und sagt: "Dass die Stadtverwaltungen Beschlüsse des Stadtrates nicht oder nur sehr zögerlich umsetzen, ist ein klassisches Problem." "Besonders schlimm", sagt er, sei das, wenn der Oberbürgermeister keine Mehrheit im Rat hinter sich habe. Die Konkurrenz zwischen den verschiedenen Parteien, die sich profilieren wollen, könne dann dazu führen, dass der Konflikt sich verschärfe.

Was tun, wenn die Zusammenarbeit von Stadtrat und -verwaltung schwierig ist?

Der Politikwissenschaftler Lars Holtkamp meint: Wenn ein Stadtrat das Gefühl hat, sich nicht darauf verlassen zu können, dass die Stadtverwaltung Stadtratsbeschlüsse durchsetzt, sollte es ein sogenanntes Ratsmanagementsystem geben. Um das einzuführen, müssten die Stadtratsfraktionen sich einigen, zu Beginn jeder Sitzung über den Stand der Dinge zu den verschiedenen Themen zu berichten. Die einzelnen Themen und Beschlüsse könnten nach dem Ampelprinzip eingeordnet werden: Grün, wenn der Beschluss zügig umgesetzt wird, gelb, wenn die Umsetzung nur teilweise oder langsam erfolgt und rot, wenn die Umsetzung noch nicht erfolgt ist.

Auf diese Weise, erklärt Holtkamp, wäre jedes einzelne Thema automatisch auf der Tagesordnung und somit der Stand der Dinge dokumentiert. Weil das System für Stadträtinnen und Stadträte aber auch viel Arbeit bedeuten würde, schreckten diese oft davor zurück, es einzuführen.

Ein Demokratieproblem, sagt Holtkamp, ist das deswegen aber nicht unbedingt. Denn nicht nur der Stadtrat, sondern auch der Oberbürgermeister sind gewählt und damit demokratisch legitimiert. Der Konflikt zwischen beiden sei an sich sogar ein Teil von kommunaler Demokratie.

Rund 50 Widersprüche in acht Jahren – ist das viel? "Oh", sagt Holtkamp auf diese Frage erstmal nur. Für einen kurzen Moment hat es ihm die Sprache verschlagen. 50 Widersprüche in acht Jahren, das sei sogar sehr viel. "Der Widerspruch ist ja mehr oder weniger das einzige Mittel, das der Bürgermeister gegen den Rat hat", erklärt Holtkamp, "wenn er das so oft anwendet, zeigt das schon eine gewisse feindliche Einstellung gegenüber dem Stadtrat."

Bildrechte: MDR/Martin Paul

Über die AutorinNeugierig ist Alisa Sonntag schon immer gewesen – mit Leidenschaft auch beruflich. Aktuell beendet sie ihre Master in Multimedia und Autorschaft in Halle. Dabei schreibt sie außer für den MDR SACHSEN-ANHALT unter anderem auch für die Journalismus-Startups Buzzard, Veto-Mag und Krautreporter.

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Quelle: MDR/aso

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