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Ehrenamtliches EngagementDas Medinetz Halle und sein Engagement für unversicherte Menschen

06. August 2021, 12:00 Uhr

Für die meisten Menschen ist es selbstverständlich, bei Krankheitssymptomen eine Ärztin oder einen Arzt aufzusuchen. Was viele nicht wissen: Nicht alle Menschen, die in Deutschland leben, besitzen eine Krankenversicherung. In Sachsen-Anhalt geht man davon aus, dass mehr als 2.000 Menschen unversichert leben. MDR SACHSEN-ANHALT hat den Verein "Medinetz Halle" besucht, der sich ehrenamtlich für diese Menschen einsetzt.

von Ann-Kathrin Canjé, MDR SACHSEN-ANHALT

Ein kleines Ladenlokal, zentrumsnah in Halle. Was von außen unscheinbar wirkt, organisiert von innen große Hilfe. Seit Herbst 2019 agiert in diesen Räumen das Medinetz Halle. 2013 hat es sich nach bundesweitem Vorbild auf Initiative einiger Medizinstudierender gegründet. Der Verein ist Anlaufstelle für Menschen, die krank sind und nicht wissen, wo sie sonst hinkönnen. Im Halleschen Ladenlokal, in dem zukünftig auch ein Eltern-Kind-Café Platz finden soll, gibt es einen Untersuchungsbereich mit medizinischen Geräten und einem Beratungsbereich, wo Zeit und Raum ist für Erstgespräche und Diagnosen.

Ehrenamt wird hier groß geschrieben

Der Untersuchungsbereich im Ladenlokal des Medinetz Halle. Bildrechte: MDR/Ann-Kathrin Canjé

Katja Liebing und Jonatan Lange sind beide ehrenamtlich im Verein tätig und leisten wöchentlich rund zehn Arbeitsstunden. Die gelernte Ergotherapeutin Liebing ist seit 2015 dabei: "Ich habe während des Studiums geschaut, was ich nebenher noch machen könnte, weil ich auch noch etwas Praktisches machen und mich engagieren wollte. Dadurch, dass ich eine medizinische Ausbildung habe, dachte ich, das passt ganz gut." Auch wenn sie anfangs dachte, dass sie vor allem als Ergotherapeutin zum Einsatz kommt, hat Katja Liebing schnell gemerkt, dass der Verein sich nicht nur für die Gesundheit von unversicherten Menschen einsetzt, sondern besonders auf die Problematik der fehlenden Krankenversicherung aufmerksam machen will.

Hauptzweck des Medinetz Halle ist es, Menschen, die keine Krankenversicherung haben oder nur einen eingeschränkten Zugang zu medizinischer Versorgung, an kooperierende medizinische Praxen zu vermitteln. Diese haben sich bereit erklärt, die Behandlungen kostengünstiger oder sogar kostenlos zu übernehmen.

Auch Jonatan Lange, der gerade zum Kinderarzt ausgebildet wird, ist hier oft mittwochs zur Sprechstundenzeit vor Ort. Dann ist auch immer ein Sozialarbeiter in der Merseburger Straße, der Menschen unterstützen kann, die eventuell sogar einen Anspruch auf Krankenversicherung haben, aber nicht wissen, wie sie diese beantragen können. Dieser ist auch Ansprechpartner für viele Romnja und Roma, die im Stadtteil leben.

Ohne Unterstützung geht nichts

Das Medinetz in Halle wird unterschiedlich frequentiert aufgesucht. Lange erzählt: "Es gibt sogar Tage, da kommt keine Person und sonst so ungefähr zwei bis vier Personen. Manche wünschen nur Unterstützung durch das Mediennetz. Das heißt, sie brauchen Hilfe bei der Vermittlung von einem Arzt oder einer Ärztin. Manchmal ist es so, dass die ärztliche Person, die hier vor Ort in der Sprechstunde ist, auch schon helfen kann." Dann werden Rezepte aufgeschrieben und schon damit geholfen. Dank Kooperations-Apotheken gibt es auch hier Unterstützung in Form von Medikamenten-Spenden.

Katja Liebing ist seit 2015 bei Medinetz Halle aktiv. Bildrechte: MDR/Ann-Kathrin Canjé

Und die braucht das Medinetz. Zwar gibt es viele Förderungen und Unterstützung, aber aktuell kommt der Verein an seine Grenzen. "Wir haben zurzeit zum Beispiel sehr viele schwangere Patientinnen, so sechs bis sieben. Da haben wir aktuell so eine Regelung mit dem Elisabeth-Krankenhaus in Halle, dass wir etwas Geld beisteuern und das Krankenhaus dann die Differenz übernimmt. Das schauen wir gerade, wie wir das finanziert kriegen", erzählt Liebing.

Die Probleme der Patientinnen und Patienten sind unterschiedlich

Aber nicht nur Schwangere suchen hier Hilfe, die Schicksale, die den rund 15 Ehrenamtlichen vom Medinetz hier in den Sprechstunden begegnen, sind vielfältig. Von Leuten, die keinen geregelten Aufenthalt in Deutschland haben, bis zu Menschen, die im Rahmen der EU-Freizügigkeit in Deutschland sind:

Die sind ja auch häufig in prekären Beschäftigungsverhältnissen, wo keine Krankenversicherung über den Arbeitgeber läuft, sondern das auf die Arbeitnehmerseite ausgelagert wird.

Katja Liebing, Mitglied beim Medinetz Halle

Auch Studierende aus dem Ausland haben sie beraten sowie eine Bandbreite an Leuten mit deutscher Staatsbürgerschaft. Solche, die sich etwa nach der Wende selbstständig gemacht hätten, privatversichert waren und dann im Rentenalter die Beiträge nicht mehr zahlen könnten: "Es gibt viele Menschen, die selbstständig sind und wenn es nicht gut läuft – das ist wirklich meistens ein sehr hoher Beitrag in der privaten Krankenversicherung – den halt zuerst weglassen und sagen: Na gut, ich bin nicht krank."

Aus Liebings Erfahrung ist es dann oft so, dass Beiträge irgendwann nicht mehr gestemmt werden könnten und viele dann auch auf den Notfalltarif, den sie eigentlich beanspruchen könnten, verzichten. Gerade, wenn im höheren Alter Präventionsuntersuchungen wegfielen, würden oft Krankheiten übersehen, die man schnell in den Griff bekommen hätte. Auch durch die Corona-Pandemie schätzt der Verein, dass immer mehr Menschen ohne Krankenversicherung da stehen könnten.   

Oft suchen die Menschen erst zu spät Hilfe

Die Gründe, unversichert zu sein, sind vielfältig. Schätzungen des Statistischen Bundesamt zu Folge, sind es über 2.000 Menschen in Sachsen-Anhalt, die keine Krankenversicherung haben. Da viele Menschen aber gar nicht erst in die Statistiken aufgenommen werden, rechnet das Medinetz mit einer deutlich höheren Zahl.

Ein weiteres Problem: Meistens kommen die Menschen mit einem Leiden, wenn es schon fast zu spät ist. So erzählt der Mediziner Jonatan Lange von einem Fall, den er über eine Kollegin mitbekommen hat: Das Medinetz bietet ein Telefon an, wo Ehrenamtlichen neben der Sprechstunde für Fragen erreichbar sind.

Jonatan Lange absolviert gerade seinen Facharzt zum Kinderarzt und betreut regelmäßig die offene Sprechstunde am Mittwoch. Bildrechte: MDR/Ann-Kathrin Canjé

Dort habe kürzlich eine Mutter angerufen, deren Sohn sehr krank war. Lange schildert: "Er hatte wohl schon seit ein, zwei Jahren keine Krankenversicherung mehr. Zumindest wurde ihm erzählt, dass er keine Möglichkeiten hat, sich ärztlich vorzustellen. Deswegen dachte er, er habe kein Anrecht darauf, sich medizinisch versorgen zu lassen. Der hatte schon Luftnot, Fieber, richtig starke Beschwerden und die Person, die das Mediennetz-Handy betreut hat, hat geraten, sich am besten in der Notfallambulanz vorzustellen." Einen Tag später habe das Team erfahren, dass der junge Mann auf der Intensivstation liege.

Später habe sich dann herausgestellt, dass er doch einen Anspruch auf Krankenversicherung gehabt hätte. Nur, weil die Familie das nicht wusste, habe er dann so lang gewartet, bis aus seinem Problem ein intensivmedizinisches wurde. Laut Lange ist es kein Einzelfall, dass Menschen medizinische Probleme haben und keine Möglichkeit sehen, Hilfe zu bekommen und die Probleme dann nur größer würden.

Dadurch entstehen natürlich auch deutliche Mehrkosten. Am Anfang ist es relativ unkompliziert und es reicht vielleicht eine medikamentöse Behandlung.

Jonatan Lange, Medinetz Halle

Versorung in ländlichen Gebieten für Unversicherte wohl noch schlechter

In Halle und Magdeburg können die Menschen momentan das Medinetz aufsuchen. Doch was machen Menschen, die eher in ländlichen Regionen leben, weit weg von den Ballungsräumen? Der Verein wisse es nicht, aber befürchte, dass die Menschen dort gar keine Anlaufstelle hätten. Das, sagt Liebing, merke sie etwa daran, dass immer mehr Leute aus Bernburg, Köthen oder sogar aus dem Harz kämen.

Lösungsansatz: Anonymer Behandlungsschein

"Die haben es natürlich einfach noch einmal deutlich schwerer. Also es ist ja generell in den ländlichen Strukturen die medizinische Versorgung schlechter und dadurch, dass es dann auch noch weniger Menschen gibt, die eben die Kapazitäten haben, da jetzt noch einen Verein aufzuziehen." Ein Lösungsvorschlag, der auch auf ländlicher Ebene helfen könnte, ist der eines anonymen Behandlungsscheins. Die Überlegung orientiert sich an einem Thüringer Modell, das dort schon seit 2017 praktiziert wird.

Die Idee dahinter: Kooperationspraxen werden zu zentralen Ausgabestellen. Menschen, die ärztliche Hilfe brauchen, könnten sich dort dann vorstellen und erfahren eine Anonymisierung, so, dass der tatsächliche Name nicht auftaucht. Katja Liebing erklärt: "Was dann aber festgehalten wird, sind medizinisch notwendige Daten wie das Alter, Geschlecht oder eben die Diagnosen. Mit diesem Schein kann man dann ähnlich wie mit einer Versichertenkarte in eine Arztpraxis gehen."

"Unversichert Kampagne" als Offener Brief an die Politik

Mit diesem Ansatz wäre es dann auch möglich, die Ausstellung auch auf dem Land zu garantieren. Damit die Ideen der Medinetze auch Gehör finden und bestenfalls umgesetzt werden, hat sich das Medinetz Halle gemeinsam mit dem Medinetz Magdeburg im Mai dieses Jahres vor den Landtagswahlen in einem offenen Brief an die Politik gewendet. In der "Unversichert Kampagne" fordern sie, niedrigschwelligen und barrierefreien Zugang zu medizinischer Versorgung für alle Menschen in Sachsen-Anhalt zu schaffen. Den Offenen Brief unterstützen auch Organisationen wie die Kassenärztliche Vereinigung und die Ärztekammer Sachsen-Anhalt.

Der anonyme Krankenschein in Sachsen-Anhalt wäre für das Medinetz Halle nur ein erster Schritt. Katja Liebing erklärt dazu: "Eigentlich haben die meisten Medinetze als Ziel, sich selbst abzuschaffen. Weil diese ehrenamtliche Versorgung so nicht optimal ist. Eigentlich sollten alle Menschen in Deutschland einen Zugang zu medizinischer Versorgung haben."

Lösungsvorschläge bietet der Verein allemal. Wie die kommende Regierung in Sachsen-Anhalt sie umsetzt, bleibt abzuwarten. Katja Liebing und Jonatan Lange werden auf jeden Fall weiter tatkräftig die Menschen unterstützen, die weiterhin unversichert bleiben.  

Im zweiten Teil des Schwerpunkts wird MDR SACHSEN-ANHALT am Sonnabend eine Ärztin zu Wort kommen lassen, die sich ehrenamtlich beim Verein Medinitz engagiert.

Mehr zum Thema: Medizinische Behandlung für Bedürftige

MDR/Ann-Kathrin Canjé

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT | 06. August 2021 | 12:00 Uhr

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