Halle-Neustadt Deutschlands größte Neubaustadt wird 60 Jahre alt
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17. Juli 2024, 13:03 Uhr
In Halle haben die Feierlichkeiten zum 60-jährigen Jubiläum von Halle-Neustadt begonnen. Wie die Stadt mitteilte, kamen mehr als 300 Besucherinnen und Besucher zu einem Fest im Herzen des Stadtteils am 15. Juli. Gebaut wurde "Ha-Neu" für die Arbeiterinnen und Arbeiter in den Chemiewerken Buna und Leuna. Es entstand eine Stadt mit komfortablen Wohnungen und umfangreicher Infrastruktur. Ihren schlechten Ruf haben solche Plattenbausiedlungen aus Sicht eines halleschen Soziologen zu Unrecht.
- Halle-Neustadt wurde als Chemiearbeiterstadt in kurzer Zeit errichtet.
- Nach der Wiedervereinigung zogen viele Menschen weg.
- Wissenschaftler sehen in Stadtteilen wie Halle-Neustadt ein besonderes Zukunftspotenzial.
Vor 60 Jahren wurde der Grundstein für die eigenständige "Chemiearbeiterstadt Halle-West" gelegt, das spätere Halle-Neustadt. Eine Stadt, die auf dem Reißbrett entstand. Begonnen hatte alles mit dem Beschluss des Zentralkomitees der SED aus dem Jahr 1958 zur Ansiedlung von Chemiearbeitern in der Nähe der chemischen Werke in Buna und Leuna. Mit dem Bau beauftragt wurde der Architekt Richard Paulick. Es entstand eines der größten Neubaugebiete der DDR.
Halle-Neustadt: Eine Reißbrettstadt
Halle-Neustadt war als Schlafstadt gedacht. Rund 90.000 Menschen sollten hier leben und täglich in die Chemiewerke pendeln. Neben der S-Bahn als günstige Verkehrsanbindung wurde den Leuten eine umfangreiche Infrastruktur geboten: Kindergärten und Schulen, Einkaufsmöglichkeiten, Turnhallen, Bibliotheken, Spielplätze, Jugendklubs und Restaurants – und sogar ein Kino. Dabei ließ sich Richard Paulick, der am Bauhaus tätig gewesen war, immer wieder von diesem inspirieren.
Die Abwertung des Plattenbaus war ein westdeutscher Import.
Wende-Folge: Stadtteil blutet aus
Bis zur Wiedervereinigung blieb Halle-Neustadt eine Großbaustelle. Die letzten Wohnviertel wurden erst 1989 fertiggestellt. Nur kurze Zeit später begann das große Ausziehen. Die Stadt verlor zwei Drittel ihrer Einwohner. Sie zogen in westdeutsche Bundesländer, in die Innenstadt oder bauten eigene Häuser. Zurück blieben vor allem ältere Menschen. Und ein Schuldenberg, den die neu gegründeten Wohnungsgenossenschaften per Gesetz geerbt hatten.
"Die Abwertung des Plattenbaus war ein westdeutscher Import", sagt der aus Bayern stammende Soziologe Reinhold Sackmann und spricht von einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Zunächst seien die DDR-Großwohnsiedlungen aus westdeutscher Sicht zu Armenvierteln degradiert worden. Diese symbolische Abwertung habe Menschen vertrieben und schließlich dieses Szenarium real werden lassen. Zum Vergleich zieht Sackmann Länder mit ähnlichen Plattenbausiedlungen wie Tschechien oder Polen heran. In diesen Ländern hätten die Großwohnsiedlungen durchaus die alte Bewohnerstruktur halten können und würden noch heute wertgeschätzt.
"Ha-Neu" soll schöner werden
Die Bundesrepublik stellte zu Beginn der 1990er-Jahre Fördermittel zur Sanierung der Plattenbauten zu Verfügung. Wohnungen wurden umgebaut, gedämmt, mit Fenstern, neuen Heizungen und Fahrstühlen ausgestattet. Die Häuser bekamen frische und farbenfrohe Anstriche. Ganze Wohnblocks wurden abgerissen oder etagenweise zurückgebaut, Schulen, Turnhallen, Spielplätze und Freiflächen ebenso in Stand gesetzt und renoviert. Einkaufscenter und Supermärkte eröffneten neu. Halle-Neustadt bekam sogar ein Hotel. All das geschah, um den Leerstand zu senken.
Die Innenwahrnehmung und die Außenwahrnehmung könnten nicht unterschiedlicher sein.
"Die Innenwahrnehmung und die Außenwahrnehmung könnten nicht unterschiedlicher sein", meint Sabine Strobler, die 2018 nach Halle-Neustadt gezogen ist. Die Absolventin der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle kommt aus Bamberg und fühlt sich wohl in ihrer Wahlheimat. Die Menschen seien freundlich, der Stadtteil sei grün und ruhig, alles sehr nah. Sie selbst habe Halle-Neustadt durch ihre Masterarbeit "Westend" kennengelernt. Zunächst hat sie dafür mit einer alten Architekturkamera Hochhäuser fotografiert, erzählt Strobler, später wollten immer mehr Bewohner von ihr ins Bild gesetzt werden.
Halle-Neustadt als Musterviertel für urbanes Leben in Deutschland
Halle-Neustadt hat den größten Ausländeranteil in ganz Sachsen-Anhalt. Trotz der vielen Menschen aus verschiedenen Kulturen auf eher engem Raum ist es hier verhältnismäßig friedlich. Ein Grund dafür könnte sein, dass die Bildungseinrichtungen, die Richard Paulick vor 60 Jahren zum Mittelpunkt jedes einzelnen Wohnkomplexes gemacht hatte, heute Anlaufstellen für alle Bürgerinnen und Bürger sind. Das bedeutet kurze Wege bei Behördengängen und Hilfe zur Integration. Ein gutes Beispiel ist auch der FC Halle-Neustadt: Von rund 300 Mitgliedern haben circa 60 Prozent einen Migrationshintergrund. In Ha-Neu gilt wie überall: Sport verbindet.
Weitere Informationen zum Jubliäum
Feierlichkeiten zum 60-jährigen Jubiläum von Halle-Neustadt
15. Juli 2024
- Eröffnung der Ausstellung "Halle-Neustadt ist was Besonderes!" im Neustadt Centrum. Die Schau zeigt in zwei Teilen die Geschichte von Denkmälern und Kunst im öffentlichen Raum in Halle-Neustadt.
7. und 8. September 2024
- Neustädter Stadtteilfest: Höhepunkt der Feierlichkeiten im Jubiläumsjahr
- zweitägiges Fest mit Bühnenprogramm von Schulen und Vereinen
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 15. Juli 2024 | 08:40 Uhr