Sachsen-Anhalt

Plattenbauten in Halle-Neustadt 4 min
Vor 60 Jahren wurde der Grundstein für Halle-Neustadt gelegt. Anne Sailer über die Besonderheiten dieser größten deutschen Plattenbau-Siedlung. Bildrechte: Anne Sailer
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Vor 60 Jahren wurde der Grundstein für die eigenständige "Chemiearbeiterstadt Halle-West" gelegt. Halle-Neustadt war über Jahrzehnte unbeliebt. Nun wird es ein moderner Stadtteil. Mehr von Anne Sailer.

MDR KULTUR - Das Radio Mo 15.07.2024 07:10Uhr 04:03 min

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Halle-Neustadt Deutschlands größte Neubaustadt wird 60 Jahre alt

17. Juli 2024, 13:03 Uhr

In Halle haben die Feierlichkeiten zum 60-jährigen Jubiläum von Halle-Neustadt begonnen. Wie die Stadt mitteilte, kamen mehr als 300 Besucherinnen und Besucher zu einem Fest im Herzen des Stadtteils am 15. Juli. Gebaut wurde "Ha-Neu" für die Arbeiterinnen und Arbeiter in den Chemiewerken Buna und Leuna. Es entstand eine Stadt mit komfortablen Wohnungen und umfangreicher Infrastruktur. Ihren schlechten Ruf haben solche Plattenbausiedlungen aus Sicht eines halleschen Soziologen zu Unrecht.

Vor 60 Jahren wurde der Grundstein für die eigenständige "Chemiearbeiterstadt Halle-West" gelegt, das spätere Halle-Neustadt. Eine Stadt, die auf dem Reißbrett entstand. Begonnen hatte alles mit dem Beschluss des Zentralkomitees der SED aus dem Jahr 1958 zur Ansiedlung von Chemiearbeitern in der Nähe der chemischen Werke in Buna und Leuna. Mit dem Bau beauftragt wurde der Architekt Richard Paulick. Es entstand eines der größten Neubaugebiete der DDR.

Mehrere Männer stehen mit einem Buch in der Hand in der Sonne. Sie tragen Hemd und Kravatte, aber auch typische Bauarbeiter- und Zimmermannskleidung
Horst Sindermann, von 1963 bis 1971 Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung Halle, mit Bauarbeitern bei der Grundsteinlegung für den damals noch "Halle-West" genannten Stadtteil. Bildrechte: Stadtarchiv Halle

Halle-Neustadt: Eine Reißbrettstadt

Halle-Neustadt war als Schlafstadt gedacht. Rund 90.000 Menschen sollten hier leben und täglich in die Chemiewerke pendeln. Neben der S-Bahn als günstige Verkehrsanbindung wurde den Leuten eine umfangreiche Infrastruktur geboten: Kindergärten und Schulen, Einkaufsmöglichkeiten, Turnhallen, Bibliotheken, Spielplätze, Jugendklubs und Restaurants – und sogar ein Kino. Dabei ließ sich Richard Paulick, der am Bauhaus tätig gewesen war, immer wieder von diesem inspirieren.

Auf einem Schwarz-Weiß-Foto ist eine alte Gaststätte von innen zu sehen. Im Fordergrund stehen Pflanzen, an weiß gedeckten Tischen stehen Stühle im Stile des Bauhauses, die Wände sind mit Wandmosaiken verziert und gestaltet
Das Gastronom wurde Ende 1967 auf fast 4.000 Quadratmetern fertiggestellt – ein Gaststättenkomplex aus Beton, Aluminium und Stahl, vom Bauhaus inspiriert. Bildrechte: Stadtarchiv Halle

Die Abwertung des Plattenbaus war ein westdeutscher Import.

Reinhold Sackmann, Soziologe an der Uni Halle

Wende-Folge: Stadtteil blutet aus

Bis zur Wiedervereinigung blieb Halle-Neustadt eine Großbaustelle. Die letzten Wohnviertel wurden erst 1989 fertiggestellt. Nur kurze Zeit später begann das große Ausziehen. Die Stadt verlor zwei Drittel ihrer Einwohner. Sie zogen in westdeutsche Bundesländer, in die Innenstadt oder bauten eigene Häuser. Zurück blieben vor allem ältere Menschen. Und ein Schuldenberg, den die neu gegründeten Wohnungsgenossenschaften per Gesetz geerbt hatten.

Autos stehen am Straßenrand einer sonst unbefahrenen Straße. Hochhäuser ragen links und rechts davon in die Höhe.
Halle-Neustadt kurz nach der Wiedervereinigung: Zu dieser Zeit verließen immer mehr Einwohner den Stadtteil. Bildrechte: Stadtarchiv Halle

"Die Abwertung des Plattenbaus war ein westdeutscher Import", sagt der aus Bayern stammende Soziologe Reinhold Sackmann und spricht von einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Zunächst seien die DDR-Großwohnsiedlungen aus westdeutscher Sicht zu Armenvierteln degradiert worden. Diese symbolische Abwertung habe Menschen vertrieben und schließlich dieses Szenarium real werden lassen. Zum Vergleich zieht Sackmann Länder mit ähnlichen Plattenbausiedlungen wie Tschechien oder Polen heran. In diesen Ländern hätten die Großwohnsiedlungen durchaus die alte Bewohnerstruktur halten können und würden noch heute wertgeschätzt.

Ein Mann steht vor einem Baum und lächelt in die Kamera.
Der Soziologe Reinhold Sackmann von der Uni Halle sieht viel Potenzial für einen modernes Stadtviertel. Bildrechte: Anne Sailer

"Ha-Neu" soll schöner werden

Die Bundesrepublik stellte zu Beginn der 1990er-Jahre Fördermittel zur Sanierung der Plattenbauten zu Verfügung. Wohnungen wurden umgebaut, gedämmt, mit Fenstern, neuen Heizungen und Fahrstühlen ausgestattet. Die Häuser bekamen frische und farbenfrohe Anstriche. Ganze Wohnblocks wurden abgerissen oder etagenweise zurückgebaut, Schulen, Turnhallen, Spielplätze und Freiflächen ebenso in Stand gesetzt und renoviert. Einkaufscenter und Supermärkte eröffneten neu. Halle-Neustadt bekam sogar ein Hotel. All das geschah, um den Leerstand zu senken.

Ein Plattenbau in Halle-Neustadt steht unter einem blauen Himmel und hinter einer grünen Wiese. Zwei große Wandbilder zieren den Bau.
Das linke Wandbild "Die vom Menschen beherrschten Kräfte von Natur und Technik" wurde 2005 saniert. Das rechte "Einheit der Arbeiterklasse und Gründung der DDR" ist seit 2022 fertig. 11.136 Fliesen wurden hierfür nummeriert, saniert und wieder eingesetzt. Bildrechte: Anne Sailer

Die Innenwahrnehmung und die Außenwahrnehmung könnten nicht unterschiedlicher sein.

Sabine Strobler, ehemalige Burg-Studentin und seit 2018 Halle-Neustädterin

"Die Innenwahrnehmung und die Außenwahrnehmung könnten nicht unterschiedlicher sein", meint Sabine Strobler, die 2018 nach Halle-Neustadt gezogen ist. Die Absolventin der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle kommt aus Bamberg und fühlt sich wohl in ihrer Wahlheimat. Die Menschen seien freundlich, der Stadtteil sei grün und ruhig, alles sehr nah. Sie selbst habe Halle-Neustadt durch ihre Masterarbeit "Westend" kennengelernt. Zunächst hat sie dafür mit einer alten Architekturkamera Hochhäuser fotografiert, erzählt Strobler, später wollten immer mehr Bewohner von ihr ins Bild gesetzt werden.

Ein älterer Mann spricht mit einer ausladenenden Geste und schaut dabei in die Kamera.
Porträt eines Halle-Neustädters der ehemaligen Burg-Giebichenstein-Studentin Sabine Strobler. Bildrechte: Sabine Strobler

Halle-Neustadt als Musterviertel für urbanes Leben in Deutschland

Halle-Neustadt hat den größten Ausländeranteil in ganz Sachsen-Anhalt. Trotz der vielen Menschen aus verschiedenen Kulturen auf eher engem Raum ist es hier verhältnismäßig friedlich. Ein Grund dafür könnte sein, dass die Bildungseinrichtungen, die Richard Paulick vor 60 Jahren zum Mittelpunkt jedes einzelnen Wohnkomplexes gemacht hatte, heute Anlaufstellen für alle Bürgerinnen und Bürger sind. Das bedeutet kurze Wege bei Behördengängen und Hilfe zur Integration. Ein gutes Beispiel ist auch der FC Halle-Neustadt: Von rund 300 Mitgliedern haben circa 60 Prozent einen Migrationshintergrund. In Ha-Neu gilt wie überall: Sport verbindet.

60 Jahre Halle-Neustadt
Der Delta-Kindergarten in Halle-Neustadt mit seinem markanten Wellendach steht mittlerweile unter Denkmalschutz – wie auch einige andere Gebäude des Stadtteils. Bildrechte: Stadtarchiv Halle

Weitere Informationen zum Jubliäum

Feierlichkeiten zum 60-jährigen Jubiläum von Halle-Neustadt

15. Juli 2024

  • Eröffnung der Ausstellung "Halle-Neustadt ist was Besonderes!" im Neustadt Centrum. Die Schau zeigt in zwei Teilen die Geschichte von Denkmälern und Kunst im öffentlichen Raum in Halle-Neustadt.


7. und 8. September 2024

  • Neustädter Stadtteilfest: Höhepunkt der Feierlichkeiten im Jubiläumsjahr
  • zweitägiges Fest mit Bühnenprogramm von Schulen und Vereinen

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 15. Juli 2024 | 08:40 Uhr

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