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Halle-Attentat – Reportage zum fünfundzwanzigsten ProzesstagLetzte Worte vor dem Urteil

10. Dezember 2020, 09:51 Uhr

Die Verteidigung hat im Prozess gegen den Halle-Attentäter ihr Plädoyer gehalten – und auf verminderte Schuldfähigkeit plädiert. Auch der Angeklagte selbst hat sich vor dem Urteilsspruch ein letztes Mal geäußert. Zuschauerinnen und Zuschauer protestierten stumm gegen dessen letzte Worte.

In einem Strafverfahren hat der Angeklagte das Recht, als letzter vor der Urteilsverkündung zu sprechen. Bildrechte: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Ronny Hartmann, Max Schörm

Als der Angeklagte an das Stehpult tritt, an dem die Plädoyers gehalten werden, stehen einige Zuschauende auf und verlassen den Gerichtssaal. Es ist stummer Protest, dem kurz darauf lautstarker Protest von den Nebenklägerinnen und Nebenklägern folgt. Denn in seinen letzten Worten im Verfahren vergleicht der Angeklagte den Prozess nicht nur mit den Nürnberger Prozessen, sondern leugnet den Holocaust und beleidigt die Überlebenden, die ihm gegenüber sitzen.

Die Erklärung ist nach rund vier Minuten vorüber, aber sie weckt Erinnerungen an den Beginn des Prozesses, als der Angeklagte zwei Tage lang ein Teilgeständnis abgelegt hatte, und offen Antisemitismus und Rassismus zu verbreiten versuchte. Damals hatte er auch erklärt, jederzeit wieder Menschen jüdischen oder muslimischen Glaubens und schwarze Menschen zu töten – und damit selbst einerseits versucht Nachahmer zu bewegen, es ihm gleichzutun – und andererseits eine Begründung für eine mögliche anschließende Sicherungsverwahrung geliefert.

Darauf nimmt auch der Verteidiger des Angeklagten, Hans-Dieter Weber, in seinem Schlussplädoyer Bezug.

Hintergrund: Recht des letzten WortesNach §258 der Strafprozessordnung hat der Angeklagte in einem Strafverfahren das Recht, als letzter vor der Urteilsverkündung zu sprechen – auch, wenn ein Verteidiger bereits für ihn gesprochen hat. In seinen letzten Worten hat der Angeklagte noch einmal die Chance, etwas zu seiner Verteidigung einzubringen. Die Staatsanwaltschaft kann die letzten Worte allerdings erwidern.

Schlussplädoyer der Verteidigung

Der Pflichtverteidiger des Angeklagten, Hans-Dieter Weber, plädiert für eine verminderte Schuldfähigkeit seines Mandanten. Dieser sei seit frühester Kindheit sozial isoliert und sei unfähig im Umgang mit anderen Menschen. Das Gericht solle sich fragen, ob es ähnlich gelagerte Fälle ohne einen krankhaften Bezug kenne. Das psychologische Gutachten, das dem Angeklagten eine schwere seelische Abartigkeit – aber zugleich die volle Steuerungsfähigkeit seiner Handlungen – attestiert hatte, impliziere nach seiner Wertung eine verminderte Schuldfähigkeit.

Außerdem stellt der Verteidiger den Vorwurf des versuchten Mordes an den Synagogen-Besucherinnen und -Besuchern in Frage: Nach seiner Interpretation sei der Attentäter vom Mordversuch zurückgetreten, als er die Tür zum dahinterliegenden Synagogengelände nicht hatte öffnen können. Würde das Gericht dieser Interpretation folgen, würde das Tatgeschehen an der Synagoge nicht als versuchter Mord eingestuft werden – sondern eher als Sachbeschädigung. 

Hinsichtlich der Morde an Jana L. und Kevin S., auch hinsichtlich der Volksverhetzung und Holocaustleugnung, der Mordversuche an vielen Passanten, gibt die Verteidigung keine weitere Kommentierung ab – die Straftatbestände seien erfüllt.

Auf der Fluchtfahrt hatte der Angeklagte den Somalier Aftax Ibrahim angefahren. Die Verteidigung sieht darin keine versuchte Tötung – und schließt sich damit der Sicht der Bundesanwaltschaft an. Das gleiche gilt für die Schüsse auf den Mitarbeiter des Kiez-Döners Ismet Tekin, der sich in einem Schusswechsel zwischen Polizei und dem Attentäter wiederfand. Ismet Tekin und dessen Anwalt Onur Özata wollen seinen Fall ebenfalls als Mordversuch gewürdigt sehen.

In Wiedersdorf hatte der Angeklagte auf zwei weitere Menschen geschossen und diese schwer verletzt. Der Verteidiger erklärt zu Jens Z., dem der Attentäter in den Nacken geschossen hatte: "Es wäre ihm möglich gewesen nochmals auf das Opfer zu schießen, das hat er nicht getan".

Mit Bezug auf die ebenfalls schwerverletzte Dagmar M. erklärt die Verteidigung, es sei zu berücksichtigen, dass der Angeklagte zu diesem Zeitpunkt selbst eine Schussverletzung hatte und so hatte feststellen können, dass eine solche Wunde nicht unbedingt lebensbedrohlich sei. Als er wenige Augenblicke später in einer Kfz-Werkstatt gesagt habe, er habe bereits Menschen erschossen, habe er sich nicht auf die Verletzten auf dem Nachbargrundstück, sondern auf Jana L. und Kevin S. bezogen.

Schlussendlich fordert auch die Verteidigung das Gericht auf, ein gerechtes Urteil zu sprechen und eine Verschiebung des Strafrahmens zu bedenken. Sie spricht sich zwar gegen eine anschließende Sicherungsverwahrung aus – beantragt aber dennoch kein geringeres Strafmaß.

Bundesanwaltschaft: Lebenslange Haft gefordert

An den vergangenen Prozesstagen hatte bereits die Gegenseite ihre Plädoyers gehalten. Die Bundesanwaltschaft forderte die Höchststrafe für den Rechtsextremisten: Lebenslange Haft und die anschließende Sicherungsverwahrung. Oberstaatsanwalt Kai Lohse bezeichnete den Anschlag als "widerwärtigsten antisemitischen Akt seit dem Zweiten Weltkrieg".

Anschließend hatten drei Tage lang die Betroffenen bzw. deren Vertreterinnen und Vertreter gesprochen. Einige Überlebende hatten sich in Teils emotionalen Appellen an das Gericht, die Medienvertreterinnen und Vertreter, aber auch an den Angeklagten selbst gewandt – und stärkere Zivilcourage gegen Antisemitismus und für Demokratie gefordert.

Urteilsverkündung am 21. Dezember

Das Urteil gegen den Halle-Attentäter wird voraussichtlich am 26. Prozesstag, dem 21. Dezember, gesprochen werden. Damit wird Sachsen-Anhalts größter Strafprozess – ein Prozess, der weltweit Beachtung gefunden hat, und der in seiner gesellschaftlichen Bedeutung herausragend ist – nach sechs Monaten zu Ende gehen.

Hintergrund des Gerichtsverfahrens

Seit Juli läuft vor dem Oberlandesgericht Naumburg der Prozess um den Anschlag auf die Synagoge von Halle. Aus Platzgründen wird der Prozess aber in den Räumen des Landgerichts in Magdeburg geführt. Dort steht der größte Gerichtssaal Sachsen-Anhalts zur Verfügung.

Der 28-jährige Stephan B. hatte gestanden, am 9. Oktober 2019 schwer bewaffnet versucht zu haben, die Synagoge von Halle zu stürmen und ein Massaker anzurichten. Darin feierten gerade 52 Menschen den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur. Der Attentäter scheiterte jedoch an der Tür, erschoss daraufhin eine Passantin, die zufällig an der Synagoge vorbei kam, und später einen jungen Mann in einem Döner-Imbiss.

Stephan B. ist wegen zweifachen Mordes, versuchten Mordes in 68 Fällen, versuchter räuberische Erpressung mit Todesfolge, gefährlicher Körperverletzung, fahrlässiger Körperverletzung und Volksverhetzung angeklagt.

Bildrechte: Philipp Bauer

Über den AutorRoland Jäger arbeitet seit 2015 für den Mitteldeutschen Rundfunk – zunächst als Volontär und seit 2017 als freier Mitarbeiter im Landesfunkhaus Magdeburg. Meist bearbeitet er politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Themen – häufig für die TV-Redaktionen MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE und Exakt – Die Story, auch für den Hörfunk und die Online-Redaktion.

Vor seiner Zeit bei MDR SACHSEN-ANHALT hat Roland Jäger bei den Radiosendern Rockland und radioSAW erste journalistische Erfahrungen gesammelt und Europäische Geschichte und Germanistik mit Schwerpunkt Medienlinguistik an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg studiert.

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Quelle: MDR/vö

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 09. Dezember 2020 | 20:00 Uhr

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