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Halle-Attentat – Reportage zum vierundzwanzigsten ProzesstagAnwalt: "Sie sind kein politischer Gefangener, Sie sind ein Mörder."

08. Dezember 2020, 18:58 Uhr

Am 24. Verhandlungstag endeten die Plädoyers der Nebenklage mit klaren Worten an den Angeklagten – auch einige Überlebende nutzten die letzte Gelegenheit zu sprechen. Und: Es gab eine Überraschung zum familiären Hintergrund des Angeklagten.

Max Privorozki (rechts), Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Halle, war heute zum ersten Mal seit seiner Zeugenaussage im Gerichtssaal. Er hat auf die Verantwortung der Familie des Angeklagten aufmerksam gemacht. Links im Bild der Nebenklageanwalt Miroslav Duvnjak. Bildrechte: dpa | Grafik: MDR/Max Schörm

Gegensätzlicher hätten beide nicht sein können: Der Angeklagte neben seinem Verteidiger, wie immer umringt von Beamten der Spezialeinheit der Justiz – und die junge Frau, die den Anschlag überlebt hat. Die ihm heute, über ein Jahr nach dem Anschlag von Halle, nach 24 Prozesstagen, in ihrem Schlussplädoyer gegenübergetreten ist. Sie trat an das etwas zu hohe Stehpult, an dem vor ihr bereits viele Vertreter und Vertreterinnen der Nebenklage und auch die Bundesanwaltschaft ihre Schlussplädoyers gehalten hatten. Sie, eine junge, selbstbewusste Jüdin – und er, ein Antisemit, der zwei Menschen getötet hat.

Talya F. war am 09. Oktober 2019 in der Synagoge, in die der Attentäter hatte eindringen wollen, um sie und andere jüdische Gläubige zu töten. Als sie heute spricht, ist ihre Stimme zunächst brüchig, wird aber mit jedem Satz fester, kräftiger, energischer. Eindringlich wandte sie sich an das Gericht, an den Angeklagten und an alle Beobachterinnen und Beobachter des Prozesses:

Ich hoffe und vertraue darauf, dass sie ihn lebenslang ins Gefängnis bringen. Aber er ist nur ein Symptom einer rechtsextremen White-Supremacy-Ideologie, die in die Worte der Politik und der Medien sickert. Nicht nur in Deutschland, sondern auf der ganzen Welt. Dieser Mann mag allein gehandelt haben, aber er hat nicht allein gedacht.

Talya F., Nebenklägerin

Die Betroffene nahm in ihrem Schlusswort noch einmal Bezug auf die Auftritte der BKA-Ermittlerinnen und -Ermittler im Prozess, die zahlreiche Ermittlungslücken, vor allem im Bereich des Internets, offenbart hatten. Sie sei wütend auf das Bundeskriminalamt, das behauptet habe, es sei nicht seine Aufgabe gewesen, den Kontext der Tat zu verstehen, die Verbindungen zwischen den Anschlägen von Halle und Christchurch herzustellen – und das somit zeige, dass es nicht versuche, Menschen vor solchen Anschlägen zu schützen.

Ein letztes Mal sprechen die Betroffenen

Die Nebenklägerin Christina Feist sagte, es sei spätestens dieser Prozess gewesen, der den Antisemitismus in Deutschland ans Licht gebracht habe. Sie habe als Überlebende zahlreiche Nachrichten auf Social-Media-Plattformen bekommen. Ihr sei geschrieben worden, es habe bei dem Anschlag doch gar keine jüdischen Opfer gegeben – gefolgt von schweren antisemitischen Beleidigungen. Im Prozess sei es an den Betroffenen gewesen, die antisemitischen, rassistischen und frauenfeindlichen Motive des Angeklagten anzusprechen.

Wer diese Realitäten verneint, verharmlost die Niederträchtigkeit des Attentats, und verhöhnt so die Betroffenen und Hinterbliebenen. Und so kann es nicht weitergehen.

Christina Feist, Nebenklägerin

Die antisemitische, rassistische und frauenfeindliche Motivation des Angeklagten wurde auch von der Überlebenden Naomi Henkel-Gümbel in ihrem Schlussstatement angesprochen: Sie habe an fast allen Verhandlungstagen teilgenommen und gesehen, wie sich Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Rassismus im Gerichtssaal, in Aussagen von Ermitterinnen und Ermittlern, Polizistinnen und Polizisten, Zeuginnen und Zeugen, abgespielt hätten:

Diese Momente waren schmerzhaft, qualvoll und kräftezehrend, hinterließen ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Sie haben Erinnerungen an den Tag des Anschlages geweckt.

Naomi Henkel-Gümbel, Nebenklägerin

Der Rechtsanwalt Jan Siebenhüner, der zwei der Polizisten vertritt, die den Angeklagten auf der Ludwig-Wucherer-Straße gestellt hatten, bezeichnete seine Mandanten als "stille Helden". Die Beamten hatten den Angeklagten in einem Schusswechsel verletzt. Siebenhüner widersprach der Kritik anderer Nebenklägerinnen und Nebenkläger am Polizeieinsatz. Er räumte jedoch ein, die Polizei habe "stellenweise grob und herzlos" gehandelt – in einer Ausnahmesituation. Überzogene Kritik an der Polizei befeuere die Spaltung der Gesellschaft, so Siebenhüner weiter.

Der Rechtsanwalt Tobias Böhmke sprach den Angeklagten und dessen Ideologie direkt an. Er sagte, wahrscheinlich halte sich der Attentäter selbst für einen politischen Gefangenen: "Sie sind kein politischer Gefangener. Sie sind ein Mörder." Böhmke vertritt den Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde, Max Privorozki, der heute zum ersten Mal seit seiner Zeugenaussage im Gerichtssaal war.

Eine Frage, die die jüdischen Betroffenen umtreibt: Bleiben oder Gehen? 

Es sind große Worte, mit denen die Überlebenden sich heute äußerten: Sie wollen über den Gerichtssaal hinaus gehört werden. Die Überlebende Anastasia P. sagte, sie und andere Nebenklägerinnen und Nebenkläger seien mehrfach gefragt worden, ob sie weiterhin in Deutschland bleiben wollten: "Beinahe als eine Erwartung oder Angst, dass sie es sich anders überlegen."

Ich will in diesem Land bleiben. Aber ich stelle Bedingungen. Sie lauten: Zuhören, Fehler bekennen, im Sinne der Demokratie zu handeln. Und in erster Linie: Keine Angst vor dem Mitfühlen zu zeigen.

Anastasia P., Nebenklägerin

Auch Max Privorozki trat an das Pult, an dem die Schlussvorträge gehalten werden – direkt vor dem Angeklagten. Er habe zu Beginn des Verfahrens die Frage gehabt, wie sich jemand von einem Kind zu einem Mörder entwickele, sagte er. Nun habe er eine Antwort gefunden: Er sieht die Verantwortung, die "Quelle des Hasses", bei der Familie. Die Eltern des Attentäters hatten allerdings am dritten Verhandlungstag von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht.

Der Gemeindevorsitzende erinnerte – wie auch alle anderen Überlebenden, die heute gesprochen haben – an die getöteten Jana L. und Kevin S. In der nächsten Woche, zum jüdischen Feiertag Chanukka, werde auch die Gemeinde in Halle der Getöten gedenken.

Wir glauben, dass die Seelen der Mordopfer uns bei diesem Fest vom Himmel leuchten werden. Der Angeklagte glaubt an Hass und Finsternis. So wird er auch in Zukunft im Dunkeln leben müssen.

Max Privorozki, Nebenkläger

Fast alle Plätze im Zuschauerraum des Gerichtssaals waren am 24. Verhandlungstag besetzt. Nach jedem Statement der Überlebenden erhoben sich zahlreiche Zuschauende von ihren Plätzen, um ihre Solidarität auszudrücken. Es sind Gesten wie diese, die für ein Gerichtsverfahren eigentlich sehr untypisch sind, die diesen Prozess aber prägen und von anderen Verfahren abheben.

Überraschender familiärer Hintergrund des Angeklagten

Der Angeklagte stand während der bisherigen Schlussplädoyers nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit. Sein Verhalten war während der Plädoyers der Nebenklage, die sich über drei Verhandlungstage hingezogen haben, immer von der gleichen Mimik und Gestik geprägt: Immer wieder lehnte er sich zurück, grinste und verdrehte seine Augen.

Dieses Verhalten änderte sich auch nicht, als der Rechtsanwalt David Benjamin Herrmann sprach – und sein Plädoyer mit einem überraschenden Detail zur Familiengeschichte des Angeklagten beendete: Sein Mandant hatte den Namenforscher Prof. Jürgen Udolph von der Universität Leipzig beauftragt, die Wurzeln des Familiennamens des Attentäters zu klären. Das Ergebnis: Die Familie des Attentäters stammt aus Elsaß-Lothringen, der Name leitet sich von einem dortigen Ortsnamen ab. Als früheste Träger des Familiennamens des Angeklagten sind Isaak B., Abraham B. und Jakob B. verzeichnet, die im 17. Jahrhundert gelebt haben. Nach namenkundlichen Anhaltspunkten spreche also einiges dafür, dass die frühesten Träger des Familiennamens des antisemitischen Attentäters Juden waren. Der Angeklagte selbst verlachte dies – wie bisher fast alle Plädoyers.

Ein Appell an die Medien

Nachdem nun die Plädoyers der Nebenklage gehalten worden sind, erhält noch einmal der Attentäter seine letzte Gelegenheit zu sprechen. Am morgigen 25. Verhandlungstag wird die Verteidigung ihr Schlussplädoyer halten und der Angeklagte seine abschließenden Worte sprechen dürfen. Sein Teilgeständnis zum Prozessauftakt war von seinem antisemitischen und rassistischen Gedankengut durchsetzt.

Es war die Überlebende Talya F., die darauf Bezug nahm und sich offen an die Medienvertreter im Saal – also auch an den Autor dieses Textes – wandte. Sie sagte, der Angeklagte nutze diesen Prozess als Plattform, um Hass zu verbreiten:

Machen Sie sich nicht zum Komplizen. Zitieren Sie ihn nicht, zeigen Sie nicht sein Gesicht.

Talya F., Nebenklägerin

Der Angeklagte hatte zu Beginn erklärt, dass es sein oberstes Ziel sei, andere zur Nachahmung seiner Tat zu bewegen. Vor diesem Hintergrund war die Möglichkeit, dass der Prozess vom Angeklagten als Bühne genutzt werden könnte, bereits zu Beginn des Verfahrens gegeben – und sie wird an dessen Ende voraussichtlich erneut gegeben sein.

Hintergrund des Gerichtsverfahrens

Seit Juli läuft vor dem Oberlandesgericht Naumburg der Prozess um den Anschlag auf die Synagoge von Halle. Aus Platzgründen wird der Prozess aber in den Räumen des Landgerichts in Magdeburg geführt. Dort steht der größte Gerichtssaal Sachsen-Anhalts zur Verfügung.

Der 28-jährige Stephan B. hatte gestanden, am 9. Oktober 2019 schwer bewaffnet versucht zu haben, die Synagoge von Halle zu stürmen und ein Massaker anzurichten. Darin feierten gerade 52 Menschen den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur. Der Attentäter scheiterte jedoch an der Tür, erschoss daraufhin eine Passantin, die zufällig an der Synagoge vorbei kam, und später einen jungen Mann in einem Döner-Imbiss.

Stephan B. ist wegen zweifachen Mordes, versuchten Mordes in 68 Fällen, versuchter räuberische Erpressung mit Todesfolge, gefährlicher Körperverletzung, fahrlässiger Körperverletzung und Volksverhetzung angeklagt.

Bildrechte: Philipp Bauer

Über den AutorRoland Jäger arbeitet seit 2015 für den Mitteldeutschen Rundfunk – zunächst als Volontär und seit 2017 als freier Mitarbeiter im Landesfunkhaus Magdeburg. Meist bearbeitet er politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Themen – häufig für die TV-Redaktionen MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE und Exakt – Die Story, auch für den Hörfunk und die Online-Redaktion.

Vor seiner Zeit bei MDR SACHSEN-ANHALT hat Roland Jäger bei den Radiosendern Rockland und radioSAW erste journalistische Erfahrungen gesammelt und Europäische Geschichte und Germanistik mit Schwerpunkt Medienlinguistik an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg studiert.

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Quelle: MDR/vö

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT | MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 08. Dezember 2020 | 18:00 Uhr

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