Literatur Sachbuch "Evolution der Gewalt" erklärt, wie der Mensch den Krieg erfand
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13. November 2024, 03:00 Uhr
Der Mensch ist im Grunde genommen friedliebend, diese überraschende These untermauert das neue Sachbuch "Evolution der Gewalt". Es zeigt, dass die Menschheitsgeschichte über hunderttausende Jahre friedlich verlief – in Zeiten von Krieg in Gaza und der Ukraine schwer vorstellbar. Harald Meller, einer der Buchautoren und Landesarchäologe von Sachsen-Anhalt, gibt sich hoffnungsvoll und erklärt, warum die Menschheit Kriege auch wieder verlernen kann.
- Im Buch "Evolution der Gewalt" wird deutlich: Der Mensch ist von Natur aus ein friedliches Wesen.
- Erst vor 12.000 Jahren traten mit der Sesshaftigkeit Konflikte zwischen Menschengruppen auf, später mit der Gründung der Nationalstaaten erfand man Kriege.
- Die positive Botschaft des Sachbuches: Krieg ist eine kulturelle Erfindung, die wir auch wieder abschaffen können.
Kriege – so hat man den Eindruck – muss es schon immer gegeben haben. Die aktuellen Nachrichten oder der kurze Blick ins Geschichtsbuch scheinen das zu bestätigen. Doch stimmt das überhaupt? Ist der Mensch wirklich von Natur aus aggressiv und kriegerisch?
Evolutionsbiologen wie Carel von Schaik und Archäologen wie Harald Meller haben in den letzten Jahrzehnten dazu intensiv geforscht und sind zu interessanten Ergebnissen gekommen, die sie gemeinsam mit dem Historiker und Literaturwissenschaftler Kai Michel im Sachbuch "Evolution der Gewalt" zusammenführen.
Der Mensch ist ein friedliches Wesen
Demnach haben Verhaltensforscher herausgefunden, dass Schimpansen tatsächlich Kriege führen. Mitunter tun sie sich in Gruppen zusammen und überfallen und töten ihre Artgenossen. Demgegenüber ist der Mensch wesentlich friedfertiger. "Der Mensch ist ein friedlicher, freundlicher Affe", erklärt Harald Meller, Landesarchäologe von Sachsen-Anhalt im Gespräch mit MDR KULTUR.
Der Mensch ist der friedlichste aller Affen.
Wir seien nicht in der Lage, so ohne Weiteres andere Menschen zu töten. Was daran ersichtlich sei, dass das Töten bei der Ausbildung von Soldaten anhand von Pappfiguren erst trainiert werden müsse, begründet Meller seine These. Und es brauche Anführer, die ihnen einreden, dass das Töten zum Überleben der eigenen Gruppe notwendig sei.
Als Nomaden glücklich durch die Eiszeit
Die Autoren beschreiben in ihrem Buch: In den Hunderttausenden von Jahren der Altsteinzeit zogen die Menschen als friedliche Jäger und Sammler durch die Graslandschaften. In unseren Breiten herrschten die meisten Zeit eisige Temperaturen und in den weiten Tundren tummelten sich große Herden von Mammuts, Büffeln und Rentieren.
Was den Menschen, insbesondere den Homo Sapiens, bei diesen unwirtlichen Lebensbedingungen zugutekam, ist sein ausgeprägtes Sozialverhalten. Man arbeitete zusammen und half sich in jeder Lebenslage. Nur so konnte der Mensch überleben.
Menschen seien hoch adaptiv, erklärt Meller. "Sie sind ja noch keine Ackerbauern, sie haben ja noch keine Städte, sie haben ja noch keine Landesgrenzen, sie können einfach hingehen, wohin sie wollen."
Zu dieser Zeit gebe es auch noch vergleichsweise wenige Individuen. Die kleinen Gruppen von 30 bis 50 Menschen seien "happy", wenn sie eine andere Gruppe träfen. "Denn die stehen ja nicht in Konkurrenz zueinander, denn Nahrung gibt es im Überfluss", so Meller.
Die Menschen sind happy, wenn sie eine andere Gruppe treffen.
Sesshaftigkeit bringt Konflikte
Im Buch ist zu lesen, wie die friedlichen Zeiten mit dem Ende der letzten Eiszeit vorbei gehen. Als das Klima wärmer wird, schmelzen die Gletscher, es entstehen große Fluss- und Moorlandschaften und bald gibt es riesige Wälder, in denen nun wesentlich kleinere Wildtiere leben als in den Tundren der Eiszeit.
Die Bedingungen zum Jagen und Fischen sind teilweise so einladend, dass es sich lohnt, nicht mehr ständig herumzuziehen, sondern sich an den nahrungsreichen Plätzen dauerhaft einzurichten. Schon vor der Erfindung von Ackerbau und Viehzucht geht damit das Gerangel um die besten, ressourcenreichsten Orte los.
Erst jetzt in der Mittel- und Jungsteinzeit kommt es zu gewaltsamen Konflikten, beschreibt Meller: "Die einen fragen sich, wieso monopolisiert eine andere Gruppe jetzt Land, wieso soll das denen plötzlich gehören?" Anderen wiederum bestünden auf ihrem Land, "weil sie sehr viel Arbeit hineingesteckt haben und es zur Sicherung ihrer Existenz benötigen."
Mit den Nationalstaaten kommt der Krieg
Meller, Michel und van Schaik schreiben, wie mit den ersten Staatsgründungen in Mesopotamien und Ägypten der Krieg entstand – so wie wir ihn bis heute kennen: Mit hochgerüsteten Armeen und einem Anführer, der sein Volk einschwört.
So war es, als der Pharao Ramses II. in der Schlacht von Kadesch 1274 v. Chr. mit seinen Streitwagen gegen die Hethiter vorrückte. Und so ist es bis heute, wenn Wladimir Putin seinen Krieg mit einer vermeintlich äußeren Bedrohung verteidigt.
Die Natur des Menschen durchblicken
Die "Evolution der Gewalt" ist ein spannendes und gut zu lesendes Buch, in dem man sehr viel über die jüngsten Erkenntnisse der Ethnografen und Archäologen erfährt. Forschungsergebnisse, an denen Carel von Schaik als Evolutionsbiologe und Harald Meller als Archäologe ihren Anteil haben. Und tatsächlich ist das Buch immer dann am interessantesten, wenn die beiden über ihr persönliches Arbeitsfeld berichten.
So kann Meller aus erster Hand über eine spektakuläre Ausgrabung in Eulau, im Süden von Sachsen-Anhalt erzählen. Unter seiner Ägide stießen Archäologen im Jahre 2005 auf die Überreste eines jungsteinzeitlichen Massakers.
Vor etwa 4.500 Jahren überfiel die Siedlung eine feindliche Gruppe und tötete über ein Dutzend Menschen. Der Grund: Rache für den Raub ihrer Frauen. "Frauenraub war ein wichtiges Motiv für Gewalt in der Vorzeit. Wir kennen das auch aus der römischen Mythologie, von der Geschichte vom Raub der Sabinerinnen", erklärt Meller.
Lässt sich Krieg abschaffen?
"Doch der Krieg ist uns nicht eingeschrieben", das sei, so Meller, den Autoren des Buches ganz wichtig zu betonen. "Krieg ist nicht genetisch determiniert. Krieg muss nicht sein. Krieg ist eine kulturelle Erfindung, wie zum Beispiel auch die Sklaverei eine kulturelle Erfindung war", zieht Meller den Vergleich und kommt zu einem weitreichenden Fazit: "Der Krieg ist ein ebenso großer Skandal wie die Sklaverei. Und auch den Krieg können wir als kulturelles Artefakt abschaffen."
Den Krieg können wir als kulturelles Artefakt abschaffen.
So hat das Buch – anders als bei diesem Titel vielleicht vermutet, eine durchaus positive Botschaft: Wir können, wenn wir wollen, den Krieg für immer verbannen. Diesen Satz nimmt man in diesen Zeiten gerne als Ausgangspunkt eines sehr, sehr langen Weges entgegen. Eines Weges, von dem wir noch vor einigen Jahren meinten, schon sehr viel weiter voran gekommen zu sein.
Mehr Informationen zum Buch
"Die Evolution der Gewalt. Warum wir Frieden wollen, aber Kriege führen. Eine Menschheitsgeschichte
von Harald Meller, Kai Michel, Carel van Schaik
erschienen bei DTV
368 Seiten, 28 Euro
ISBN : 978-3-423-28438-7
Redaktionelle Bearbeitung: hro
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 13. November 2024 | 08:10 Uhr