Jugendkriminalität in Halle Arrest und Zuführung: Neuer Runderlass zu Schulschwänzern zeigt Wirkung

16. Januar 2025, 10:06 Uhr

In Halle erreichte die Welle der Jugendkriminalität im Oktober 2023 einen Höhepunkt – und mündete in einen Krisengipfel und Neun-Punkte-Plan. Vom Land gab es Kritik an Stadt und Schulbehörden. So hätten einige Schulen jugendliche Schulschwänzer weder gründlich erfasst, noch hätten Ordnungsamt und Polizei sie ausreichend konsequent wieder in die Schule gebracht, hieß es aus Teilnehmerkreisen. Das hat sich geändert: Ein Runderlass, der vor einem Jahr in Kraft trat, zeigt offenbar Wirkung.

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von Marc Weyrich, MDR SACHSEN-ANHALT

• In Halle gibt es einen Neun-Punkte-Plan gegen Jugendkriminalität. Dazu gehört die strengere Dokumentation von Schulschwänzern.
• Zahlen der Stadt Halle zeigen, dass das offenbar erfolgreich ist: Es gab mehr Meldungen und Schulzuführungen.
• Die Verwaltung führt die Verbesserung auf einen verringerten Krankenstand und den Einsatz eines speziellen Mitarbeiters zurück.

Mehr als ein Jahr ist es her, dass unter dem Eindruck der Jugendgewalt in Halle eilig ein Neun-Punkte-Plan verabschiedet wurde. Der sechste Punkt lautete: "Der Erlass des Landes zur Meldung von Schulpflichtverletzungen wird kurzfristig angepasst, damit entsprechende Meldungen früher erfolgen und an die jeweiligen Ordnungsämter kommuniziert werden." Der Hintergrund steht zwischen den Zeilen – all das fand nicht im notwendigen Maße statt.

Wer bei uns vor Gericht stand, hat in der Regel auch geschwänzt.

Karsten Kolbig Richter und Sprecher des Amtsgerichts Halle

Ein gewaltiges Problem, denn Verantwortliche in Stadt, Landesschulamt und Justiz sehen einen signifikanten Zusammenhang zwischen dem Schwänzen – in Fachkreisen "Schulabsentismus" genannt – und dem Weg in die Kriminalität. Es gebe empirische Hinweise, dass unregelmäßiger Schulbesuch auch mit "von der Norm abweichendem Verhalten" einhergehen kann, schreibt der Sprecher der Stadt Halle, Drago Bock, MDR SACHSEN-ANHALT auf Anfrage. Deutlicher wird Karsten Kolbig, Richter und Sprecher des Amtsgerichts Halle, das mit Jugendstrafsachen betraut ist: "Wer bei uns vor Gericht stand, hat in der Regel auch geschwänzt."

Strengere Regeln für Schulschwänzer in Sachsen-Anhalt

Anfang Februar 2024 wurde ein neuer, deutlich strengerer Runderlass zu Schulpflichtverletzungen in Kraft gesetzt. Fehlt ein Schüler unentschuldigt und zeigen Eltern keine Reaktion, müssen Schulen innerhalb von zehn Unterrichtstagen Meldung bei den zuständigen Behörden machen. Einzelne Schulen setzen auch einen deutlich kürzeren Zeitraum an. Das Landesschulamt wiederum kontrolliert, dass die Schulen hier ihren Meldepflichten nachgehen.

"In der Vergangenheit gab es vereinzelt Feststellungen, dass Schulen Schulpflichtverletzungen nicht konsequent und schnell genug nachgegangen sind", zeigt sich der Sprecher des Landesschulamtes, Tobias Kühne, selbstkritisch. Mit dem neuen Runderlass werde dies seltener geschehen.

Laut Tobias Kühne, dem Pressesprecher des Landesschulamts, hat es in der Vergangenheit vereinzelt Feststellungen gegeben, dass Schulen Schulpflichtverletzungen nicht konsequent und schnell genug nachgegangen sind. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Bilanz 2024: Mehr Schulzuführungen, 57 mal Arrest in Halle

Zahlen der vergangenen drei Jahre, die die Stadt Halle MDR SACHSEN-ANHALT auf Anfrage lieferte, belegen das Versprechen Kühnes. Wurden in den Jahren 2022 und 2023 jeweils 220 schulabstinente Schulpflichtige dem Ordnungsamt in Halle gemeldet, waren es 2024 bis zum Ende des dritten Quartals schon 245. Wer nicht freiwillig zur Schule geht, wird vom Ordnungsamt oder der Polizei zur Schule gebracht. Diesen speziellen Service erlebten im vergangenen Jahr bis Ende September 48 Schulpflichtige – in den Jahren davor waren es 21 (2022) und 14 (2023) – wobei hier jeweils das ganze Jahr betrachtet wurde. Die Tendenz scheint zu stimmen, die Bußgelder sind empfindlich. Eltern von Schulschwänzern müssen mit bis zu 250 Euro Geldbuße rechnen.

Hilft alles nichts, enden Schulschwänzer auch mal hinter schwedischen Gardinen. "Im Jahr 2024 wurde in 57 Fällen Jugendarrest wegen Schulabsentismus in der Jugendarrestanstalt (JAA) Halle vollstreckt", teilt Danilo Weiser mit, Pressesprecher beim Justizministerium des Landes Sachsen-Anhalt. Manche Jugendliche merkten in diesem Arrest zum ersten Mal, wie es ist, wenn sich jemand kümmere, ergänzt Weiser. Wenn der Arrest übers Wochenende vollstreckt wird, wenn eigentlich ganz legal Freizeit im Kalender von Schülerinnen und Schülern steht, entfalte der Arrest doch enorme pädagogische Wirkung.

Von TikTok bekannter Dieb war fünf Jahre nicht in der Schule

Dass beim Thema Schulabsentismus beherztes Durchgreifen nötig ist, zeigt der Fall des mittlerweile 16-jährigen Abdul H., der es durch sein Prahlen über der Raub einer Gucci-Handtasche bei TikTok zu einer traurigen Berühmtheit brachte. Er gilt als eine der Schlüsselfiguren der Jugendgewalt in Halle und hat nach inzwischen bestätigten MDR-Informationen fünf Jahre lang keine Schule besucht.

"Die Schule in Halle-Neustadt hat über Jahre korrekt und gemäß der geltenden Erlasslage auf das Fernbleiben reagiert", schreibt Landesschulamtssprecher Tobias Kühne auf Anfrage von MDR SACHSEN-ANHALT. Die schulische Dokumentation sei vollständig und nachvollziehbar. "Trotz aller Bemühungen der Schule gemeinsam mit verschiedenen Partnern wie Ordnungsamt, Jugendamt und Polizei konnte das Problem des Fehlens leider nicht nachhaltig gelöst werden."

Jugendkriminalität in Halle: Suche nach einem Schuldigen

Das Kopfschütteln über den Fall ist überall groß. "Behördenversagen" tuscheln manche, ohne es offiziell sagen zu wollen, weil die eine Behörde der anderen ungern in die Suppe spuckt und auch nicht ganz klar ist, wer denn nun verantwortlich ist. Fakt ist: Im Fall von Abdul H. konnte die Schule nicht mehr tun, als sie tat. Nach der Schule ist die Kommune in der Pflicht, in dem Fall die Stadt Halle, bestätigt das Landesschulamt.

Nach MDR-Informationen wurde der junge Syrer zeitweise polizeilich gesucht, was bereits eine Stufe über dem kommunalen Ordnungsamt ist – aber nicht gefunden. Ein Minderjähriger, dessen Eltern nicht wissen, wo er steckt? Das ist auch ein Fall fürs Jugendamt, das nach MDR-Informationen auch aktiv war. Die Stadt Halle beantwortet Detail-Anfragen zum konkreten Fall Abdul H. nicht, verweist auf dessen Minderjährigkeit und der damit einhergehenden besonderen Schutzwürdigkeit. Er ist wegen einer ganzen Litanei an Straftaten für rund acht Jahre in Haft und wird dort auch beschult.

Ein Mitarbeiter für Schulschwänzer – viele Projekte

Beim Krisengipfel im Oktober 2023 soll die zuständige Beigeordnete der Stadt über ihre Personalsituation geklagt haben, erzählen Teilnehmer. Grund dabei auch ein hoher Krankenstand. Derzeit gebe es den nicht, antwortet die Stadt. Ein Grund, dass es nun besser läuft? Bei der Stadt Halle ist nach eigenen Angaben in der städtischen Ordnungsbehörde seit 2022 ein Mitarbeiter für die Bearbeitung von Fällen der Schulabstinenz verantwortlich. Ob das in Halle dazu anfallende Arbeitspensum von einer Person bewältigt werden kann, sei für das Landesschulamt nicht einschätzbar, heißt es von dort.

In Halle gibt es nach städtischer Auskunft 75 Vollzeitstellen für Schulsozialarbeit an insgesamt 48 Schulen. Vier freie Träger der Jugendhilfe kümmern sich in neun geförderten Projekten um die Reintegration von Schulverweigern. Wie bei den meisten Dingen ist "mehr" wünschenswert – für eine Stadt in der Konsolidierung schwer zu finanzieren.

Deutlich wird aber: Besonders um die Gruppe der schulpflichtigen Migranten müssen sich alle Beteiligten besonders kümmern. Ihr Anteil am Schulschwänzertum "kann durchaus als überdurchschnittlich beschrieben werden", so Tobias Kühne vom Landesschulamt. Ursache seien etwa geringe Deutschkenntnisse und schwierige sozialökonomische Verhältnisse, die das Fernbleiben von der Schule begünstigten.

MDR (Marc Weyrich, Sebastian Gall)