Nahaufnahme zweier Personen, die einen Blumenstrauß halten. Im Hintergrund ein Kreuz mit der Aufschrift "Den Helden des 17. Juni 1953".
Vor 70 Jahren sind in der ganzen DDR Menschen auf die Straße gegangen, um bessere Lebensverhältnisse zu fordern. (Archivbild) Bildrechte: picture alliance/dpa | Christoph Soeder

70. Jahrestag So erinnert Halle an den Volksaufstand vom 17. Juni 1953

10. Juni 2023, 14:38 Uhr

Im Juni 1953 hatten Menschen überall in der DDR protestiert. Anlass war unter anderem eine Erhöhung der Arbeitsnorm. Viele Demonstranten stellten den SED-Staat aber auch grundsätzlich in Frage, sie forderten freie Wahlen und ein anderes Wirtschaftssystem. Die in der DDR stationierten sowjetischen Truppen schlugen den Aufstand nieder. In Halle gibt es um den Jahrestag herum es zahlreiche Gedenkveranstaltungen und Ausstellungen, die an den Aufstand erinnern.

Da werden jetzt einige Menschen sehr neidisch sein, ist sich Michael Viebig sicher, denn so nah darf demnächst niemand mehr an das Exponat heran. Der Chef der Gedenkstätte Roter Ochse in Halle öffnet vorsichtig einen alten Aluminiumkoffer. In dem mit rotem Samt ausgeschlagenen Inneren befindet sich eine alte Filmkamera. Damit hat Albert Ammer vor siebzig Jahren den Aufstand in Halle gefilmt.

Ein halber Tag Freiheit - Der Volksaufstand am 17. Juni 1953 in der DDR

Menschen protestieren in Jessen
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60.000 Menschen sind auf der Straße

Er ist damals als Kameramann mit Dreharbeiten für die DEFA beschäftigt, als der Volksaufstand am 17. Juni losgeht. "Seinem Berufsethos folgend ist er losgezogen, als er gesehen hat, was da los war in der Stadt", erzählt Gedenkstättenchef Viebig im Gespräch mit MDR SACHSEN-ANHALT. Seinen Ehrgeiz wird Ammer schnell zum Verhängnis. Er wird am 18. Juni verhaftet und später zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt.

Kamerakoffer
Michael Viebig von der Gedenkstätte Roter Ochse mit der Kamera, die die Ereignisse am 17. Juni 1953 dokumentiert hat. Bildrechte: MDR/Hannes Leonard

Damals sind allein in Halle rund 60.000 Menschen gegen die politisch und wirtschaftlich angespannte Lage auf die Straße gegangen. "Nach Berlin war die Demonstration in Halle die zweitgrößte in der DDR", ist sich Viebig sicher. Auch in Magdeburg und anderen Städten haben Demonstranten die Rücknahme von Normenerhöhungen und politische Veränderungen verlangt. Aus anfangs sozialem Protest wurden bald politische Forderungen. "Zum ersten Mal sind die Menschen damals auf die Straße gegangen, um ihre legitimen demokratischen Forderungen zu artikulieren."

Der Aufstand in Halle war der zweitgrößte nach Berlin.

Michael Viebig Gedenkstättenleiter Roter Ochse in Halle

In rund 700 Orten der DDR waren mehr als eine Million Menschen auf der Straße. Der Aufstand konnte letztlich nur mit sowjetischen Panzern niedergeschlagen werden. In Halle kommt bei dem Aufstand nach offiziellen Angaben acht Menschen ums Leben, die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein, vermutet Viebig.

Hallmarkt in Halle 4 min
Bildrechte: MDR FERNSEHEN

Ausstellung würdigt Ereignisse

"Am 18. Juni geht es dann schon morgens los, dass der Rote Ochse sich füllt mit Streikbeteiligten", erzählt Viebig. Nicht nur in Halle: Im Nachgang sind in der DDR zwischen 13.000 und 15.000 Menschen festgenommen worden, haben Forscher der Bundesbehörde für Stasi-Unterlagen ermittelt. Bis Mitte 1955 hätten DDR-Gerichte etwa 1.800 Urteile gefällt. Zudem verhängten nach Behörden-Angaben sowjetische Militärtribunale standrechtliche Erschießungen und Haftstrafen, die teilweise in sowjetischen Lagern verbüßt werden mussten.

Die Gedenkstätte Roter Ochse in Halle

Die Gedenkstätte erinnert an die Verfolgung von Regimegegnern sowohl während des Nationalsozialismus als auch in der DDR. Von 1943 bis 1945 wurden im Gefängnis Roter Ochse politische Gefangene hingerichtet.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Gebäude Schauplatz von Tribunalen der sowjetischen Militäradministration in Deutschland. Zu DDR-Zeiten teilten sich das Ministerium des Inneren und die Staatssicherheit den "Roten Ochsen" zur Unterbringung von weiblichen Strafgefangenen und von Untersuchungshäftlingen.

Über die Herkunft des Namens für den Gebäudekomplex gibt es verschiedene Überlieferungen. Sie reichen von der roten Farbe der Gebäude und der Ähnlichkeit mit der Statur eines Ochsen aus der Vogelperspektive betrachtet, bis hin zu Ochsenkarren, mit denen einst Häftlinge zur Hinrichtung gebracht worden sein sollen.

Kameramann Ammer ist mit seiner Kamera an diesem Tag mit dabei als die Demonstranten durch die Stadt ziehen. Bilder seiner Aufnahmen, die bislang teilweise unveröffentlicht sind, werden anlässlich des Jahrestages in der Gedenkstätte Roter Ochse in Halle zu sehen sein. Dazu natürlich auch die Kamera, mit der die Aufnahmen gemacht worden sind und andere persönliche Gegenstände. "Wir freuen uns, dass Ammers Sohn Alexander zur Ausstellungseröffnung am 17. Juni anwesend sein wird und Fragen beantwortet."

Im Nachgang sind noch zahlreiche Projekttage mit Schülern geplant, an denen auch Alexander Ammer teilnehmen wird.

Feiertag wäre angemessen

Doch nicht nur dort wird in Halle an den Volksaufstand erinnert. Mitarbeiter der Gedenkstätte Roter Ochse veranstalten Fahrradtouren zu Orten in Halle, an denen sich zentrale Ereignisse des 17. Juni abgespielt haben. "Wir hoffen so ein breiteres Publikum für die damaligen Ereignisse zu interessieren", sagt Viebig. Am Hallmarkt ist eine große Treppe mit einem Foto aus dem Film Kameramann Ammer beklebt. Es zeigt hoffnungsfrohe Demonstranten auf dem Markt. Mit der Aktion will der Verein Zeitgeschichten e. V. die dramatischen Ereignisse einem breiten Publikum in Erinnerung rufen. Auf dem Foto ist ein QR-Code angebracht, mit dem weitere Informationen über den Volksaufstand abgerufen werden können.

Treppe mit Bild des Volksaufstandes.
Am Hallmarkt in Halle erinnert ein großes Foto an den 70. Jahrestag des Volksaufstands von 1953 in der DDR. Bildrechte: Juliane Uhl

Trotz der vielen Aktionen anlässlich des Jahrestages werden die damaligen Ereignisse zu wenig gewürdigt, findet Gedenkstättenchef Viebig. "Es ist einer von vielen Gedenktagen, aber für die Öffentlichkeit offenbar nicht besonders wichtig." Dabei sei es doch von den Menschen extrem mutig gewesen, gegen so eine rigide Regierung aufzustehen und demokratische Rechte einzufordern, ist Viebig überzeugt. "Ein bundesweiter Feiertag wäre aus meiner Sicht eine angemessene Würdigung".

MDR (Hannes Leonard), dpa

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 05. Juni 2023 | 15:30 Uhr

6 Kommentare

W.Merseburger vor 45 Wochen

Zwei Dinge beschäftigen mich, wenn der 17. Juni in den Medien jedes
Jahr eine wichtige Rolle spielt.
Die spontane Erhebung ohne jegliche Organisation und Vorbereitung ist eine schöne geschichtliche Lüge.
Im Frühjahr 1553 war einer sehr schlechte Versorgung an Lebensmitteln in der DDR zu verzeichnen. Nach heutigen Vorstellungen haben die Menschen gehungert.
Die Menschen in der DDR waren weder mit der sowjetischen Besatzung noch mit der SED Politik einverstanden.
Die Regierung der BRD hat alles getan, um den Menschen etwas vom sog. goldenen Westen vorzugaukeln und hat tunlichst vermieden den Mensch im Osten zu erklären , dass auch im Westen kein Wein in Strömen floss und die gebratenen Tauben durch die Luft fliegen

steka vor 45 Wochen

Tja was hatte denn die DDR dem "Marshalplan"west etgegen zu setzen ? Demontage und Reparationen. Zusätzlich mußten erst Industriezweige neu aufgebaut werden, die große Industriezenten lagen nunmal im Westen oder nicht mehr verfügbaren Schlesien. Und Wiedervereinigung stand ja nicht zur Debatte "Lieber das halbe Deutschland ganz als das ganze deutschland halb" soll ein Bundeskanzler gesagt haben, den die CDU heute noch verehrt, nach dem auch ihre Bundeszenrale benannt ist. Habe noch alte "Freiheit"en aus der Zeit gefunden, wo tatsächlich über Wiedervereinigungwünsche geschrieben wurde.
Und was war nach dem Aufstand ? Da wurde im Westen ein Feiertag draus, da wurde zu Tränen gerührt über "die armen Schwestern und Brüder im Osten" und am nächten Tag hieß es wieder Alleinvertretungsanspruch und Embargo. Kann mit dem Gedenktag nichts anfangen.

hilflos vor 45 Wochen

Meine Mutter hatte eine Kollegin, welche bei Stalins Tod Trauerkleider trug,. Ihr Mann war ein "Macher" des Aufstandes... Wenige Tage später war sie in West-Berlin...und meine Mutter lernte später die Herrn Herrnstadt und Zaißer kennen.... und das in der Provinz

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