Zensus 2022Kampf um Einwohner: Gemeinden wehren sich gegen Zensus-Ergebnisse
Für viele Städte und Gemeinden bedeuten die Ergebnisse des Zensus weniger Geld vom Land. Ob Halle, Weißenfels oder Burg: Mehrere Kommunen wollen die neuen Einwohnerzahlen nicht einfach so hinnehmen. Über allem steht die Frage: Wer zählt hier eigentlich richtig?
Der 25. Juni 2024 war kein guter Tag für einige Kommunen in Sachsen-Anhalt. Seit der Veröffentlichung der Ergebnisse aus dem Zensus steht fest: Ihre bisher ermittelte Einwohnerzahl ist zu hoch. Insgesamt leben laut Zensus in Deutschland rund 1,4 Millionen Menschen weniger als bislang angenommen. In Sachsen-Anhalt liegt die Diskrepanz zwischen den alten und den neuen Zahlen bei rund 40.000 Menschen oder 1,8 Prozent.
Das Problem der Kommunen: Beim Streit um die "richtige" Einwohnerzahl geht es um viel Geld. Damit sich die Städte und Gemeinden um Schulen, Feuerwehr oder Müllabfuhr kümmern können, verteilt das Land Geld an sie – abhängig von ihrer Bevölkerung.
Zum Aufklappen: Was ist der Zensus?
Mit dem Zensus wird ermittelt, wie viele Menschen in Deutschland leben und wie sie wohnen und arbeiten. Dazu wurden zum Stichtag 15.05.2022 alle Einwohnerinnen und Einwohner Deutschlands gezählt. Als Grundlage dienen dafür Meldedaten aus den Registern der öffentlichen Verwaltung, beispielsweise den Einwohnermeldeämtern. Diese Angaben sind aber allein nicht genau genug, da manche Personen nicht an ihrem Wohnort gemeldet sind, andere wiederum noch im Register stehen, aber umgezogen oder bereits tot sind. Deshalb muss auch ein Teil der Bevölkerung persönlich befragt werden.
Der Zensus wird in der Regel alle zehn Jahre erhoben – zuletzt 2011. Der Bevölkerungsstand der Gemeinden basierte bisher auf der Fortschreibung dieser Zahlen, die mehr als zehn Jahre alt sind. Der Zensus und andere Methoden können sich der tatsächlichen Bevölkerungszahl immer nur bestmöglich annähern.
Der Zensus stellt nun etwa für Halle fest: Die Stadt soll rund 15.000 Einwohner (6,1 Prozent) zu viel gezählt haben. Laut der Stadt würden durch die Neuberechnung im Jahr 2025 voraussichtlich rund 10,9 Millionen Euro fehlen. Für das kleinere Halberstadt bedeutet das "Verschwinden" von 7,7 Prozent seiner Einwohner durch den Zensus nach eigenen Angaben einen Verlust von knapp zwei Millionen Euro im Jahr.
Im Raum steht deshalb die Frage: Wer kann besser Einwohner zählen? Die Kommunen oder der Zensus?
Die Suche nach Karteileichen und Fehlbeständen
Das Problem an der Einwohnerzahl einer Stadt wie Halle: Viele Angaben in den Melderegistern dürften veraltet gewesen sein, nicht nur in Halle, sondern auch anderswo in Deutschland. Seit der letzten Volkszählung im Jahr 2011 hatten sich viele sogenannte "Karteileichen" und "Fehlbestände" angesammelt: Als Karteileichen gelten Personen, die zwar noch im Register geführt sind, aber längst umgezogen oder verstorben sind. Als Fehlbestand bezeichnet man all jene, die unter einer Anschrift leben, dort aber nicht gemeldet sind.
Um diese Fehler zu finden, wird beim Zensus eine bestimmte Zahl von Personen befragt. Rund 2.300 Interviewer haben in Sachsen-Anhalt etwa zehn Prozent der Bevölkerung befragt. Dazu wurden nach einem statistischen Zufallsverfahren Adressen "gezogen", die die Interviewer aufsuchen sollten. Die Ergebnisse der Befragung werden statistisch hochgerechnet. Basierend auf den Hochrechnungen werden den Melderegistern der Kommunen Einwohner hinzugefügt – oder als ermittelte "Karteileichen" abgezogen.
Viele Studierende waren womöglich Karteileichen
Als die Interviews für den Zensus 2022 stattfanden, steckte Deutschland noch mitten in der Corona-Pandemie – was laut einer Sprecherin des Statistischen Landesamts Sachsen-Anhalt zu "Bevölkerungsbewegungen in lokal unterschiedlichem Ausmaß" führte. Viele universitäre Lehrveranstaltungen fanden beispielsweise online statt. Studierende waren womöglich zwar in Halle gemeldet, saßen jedoch in ihrem Heimatdorf vor dem Laptop – sogenannte Karteileichen, wenn ein Interviewer sie nicht antreffen konnte.
Weil in den Wohnheimen eine Vollerhebung stattfand, die Zensus-Beauftragten also (im Gegensatz zu normalen Wohnhäusern) jede einzelne Unterkunft untersuchten, könnten viele Studierende, die eigentlich in Halle wohnen, durch das Raster gefallen sein. Allein in der Altersgruppe der 19- bis 24-Jährigen liegt die Differenz zwischen den Zahlen aus dem halleschen Melderegister (20.696) und den Zensus-Ergebnissen (19.074) bei mehr als 1.600 Einwohnerinnen und Einwohnern.
Ein weiterer wichtiger Punkt: Bislang ging man in Sachsen-Anhalt von rund 150.000 Menschen mit ausländischer Staatsbürgerschaft aus. Dem Zensus zufolge sind es jedoch nur rund 124.000. Von den 40.000 verschwundenen Einwohnerinnen und Einwohnern Sachsen-Anhalts sind also zwei Drittel ausländischer Herkunft. Eine mögliche These: Viele von ihnen könnten in ihr Heimatland zurückgezogen sein, ohne sich bei den Behörden abzumelden.
Befragung an der Wohnungstür ist entscheidend
Ein hoher Ausländeranteil und eine große Universität: beides trifft auch auf Magdeburg zu. Doch die Stadt hat nicht nur keine Einwohner verloren: Laut Zensus hat sie sogar mehr Einwohner, als das eigene Melderegister bisher ausgewiesen hat.
Tim Hoppe leitet das Statistikamt der Stadt Magdeburg. Er ist überzeugt: Die gute Vorbereitung der Stadt auf den Zensus habe geholfen. Beim Zensus 2011 habe die Stadt noch einen schmerzhaften Einwohnerverlust hinnehmen müssen, doch daraus habe man gelernt: "Der entscheidende Punkt ist: Macht man die Erhebung nicht ordentlich, dann kriegt man das im Anschluss über die Hochrechnung doppelt und dreifach zurück", sagt Hoppe.
In Magdeburg habe man deshalb verschiedene Strategien entwickelt, um die Qualität der Befragung zu verbessern, sagt der Leiter des Statistikamts. Demnach hat die Stadt unter anderem die Adressen aus der Stichprobe auf Fehler kontrolliert, die Interviewer entsprechend geschult und fortlaufend verglichen, wo sich das eigene Register und die Angaben aus der Erhebung unterscheiden. Bei Zweifeln sei ein erfahrener Interviewer noch einmal losgeschickt worden, sagt Hoppe.
Befragung ist "maßgeblich" für die Zensus-Ergebnisse
Sind es also unvollständige Angaben bei der Befragung, die in Städten wie Halle oder Halberstadt zu großen Unterschieden zwischen Zensus und Eigenzählung führen? Die Vermutung liegt nahe.
Im Hintergrundgespräch mit dem MDR sagt auch ein Statistikprofessor, dass Kommunen, die den Zensus-Prozess eng begleitet hätten, in der Regel ein besseres Ergebnis erwarten können. Schon beim vorigen Zensus im Jahr 2011 hätten entstandene Fehler bei den Befragungen die hochgerechneten Einwohnerzahlen bei größeren Gemeinden verzerrt.
Und auch der Präsident des Statistischen Landesamts, Michael Reichelt, erklärt gegenüber der Mitteldeutschen Zeitung, dass die durch den Zensus festgestellte Bevölkerungszahl "maßgeblich" durch die Zählung der Personen bestimmt werde.
Ergebnisse sind im Nachhinein schwer zu prüfen
Falsche Karteileichen jetzt zu finden – das ist im Nachhinein schwierig. Für die Kommunen wären dafür die Erhebungsbögen hilfreich – aus Datenschutzgründen darf das Statistische Landesamt diese aber nicht an die Kommunen zurückgeben.
Einige vom Bevölkerungsverlust betroffene Gemeinden wollen sich damit nicht zufriedengeben. Stattdessen wollen sie zeigen, warum ihre Register die Realität besser abbilden als die Zensus-Ergebnisse. Die Stadt Halle hat etwa mit einer aufwändigen Briefaktion ihre Einwohner einfach noch einmal selbst gezählt.
Zum Aufklappen: So hat Halle seine Einwohner gezählt
Die Stadt Halle hat nach eigenen Angaben im Sommer mehr als 243.000 Briefe verschickt, um die Zahl ihrer Einwohner zu überprüfen. Die Briefe gingen an alle im Melderegister erfassten Einwohner. Zuvor war das Register auf Plausibilität überprüft worden. Rund 5.900 Briefe kamen als unzustellbar zurück. Wer keinen Brief erhalten hatte, sollte sich bei der Stadt melden. Laut Stadtsprecher Drago Bock haben sich 400 Menschen gemeldet. Insgesamt hat die Stadt Halle demnach rund 12.500 Einwohner mehr als der Zensus ermittelt.
Das Statistische Landesamt begrüßt die Aktion als "Schritt zur Verbesserung der Qualität des Melderegisters". Die Methode sei jedoch nicht geeignet, um die durch den Zensus ermittelte Einwohnerzahl zu überprüfen, heißt es in einer Pressemitteilung. Demnach kann ein Brief auch zugestellt werden, wenn eine Person gar nicht mehr an einer Adresse wohnt. Außerdem sei das Ergebnis nicht mehr mit dem Stand vom Mai 2022 vergleichbar.
Forscher in Merseburg will Zensus-Ergebnisse nachvollziehen
Die Städte Weißenfels und Merseburg organisieren den Widerspruch gegen den Zensus in Sachsen-Anhalt. Dafür müssen sie zuerst die Gründe für die Abweichung besser verstehen. Ihr Mann dafür heißt Richard Lemke. Er ist Professor für empirische Sozialforschung an der Hochschule Merseburg. Mit Hilfe der Daten des Statistischen Landesamts will er untersuchen, ob der Zensus in bestimmten Bereichen Einwohner über- oder untererfasst haben könnte.
Im Gespräch betont der Forscher vor allem eines: Er wolle auf keinen Fall den Zensus an sich anzweifeln. Es gehe darum, die Methode besser zu verstehen und eventuell eine "systematische Sollbruchstelle" bei einzelnen Kommunen zu finden. "In meiner wissenschaftlichen Rolle will ich wissen: Habe ich für die Werte plausible Antworten oder habe ich keine Erklärung dazu", sagt Lemke.
Kommunen wollen zusammenarbeiten
Die Stadt Weißenfels ist laut eigener Aussage für die wissenschaftliche Auswertung auch im Gespräch mit Halle, Oschersleben, Querfurt, Bitterfeld-Wolfen, Bernburg, Köthen, Wittenberg, Halberstadt, Dessau-Roßlau und Stendal. Parallel läuft die Anhörung durch das Statistische Landesamt, in dem Kommunen Stellung zu den Ergebnissen des Zensus nehmen können. Die Stadt Burg erarbeitet etwa gerade eine Stellungnahme und will die Stichprobenerhebung in Frage stellen.
Sollte das Statistische Landesamt trotz der Einwände die neue Einwohnerzahl bestätigen, dann bleibt den Gemeinden als letzte Möglichkeit, gegen die Ergebnisse zu klagen. Die Erfahrungen aus dem Zensus 2011 zeigen, dass dieser Weg wahrscheinlich wenig erfolgversprechend ist. Verschiedene Verwaltungsgerichte bis hin zum Bundesverfassungsgericht haben Klagen von Kommunen gegen die Zensus-Methode immer wieder abgewiesen.
Deshalb versuchen betroffene Gemeinden, einen anderen Weg zu gehen. Ihr Ziel: Der kommunale Finanzausgleich soll sich nicht an der Zensus-Rechnung orientieren – sondern an den eigenen Melderegistern. Denn das sei genauer als eine Hochrechnung. Das Vorbild ist Rheinland-Pfalz: das einzige Bundesland in Deutschland, in dem das Geld anhand der Melderegister der Gemeinden verteilt wird.
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MDR (Leonhard Eckwert, David Wünschel) | Zuerst veröffentlicht am 28. Juni 2024
Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 07. November 2024 | 09:30 Uhr
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