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Arbeiten im Homeoffice hat mehr als nur Kleidungsgewohnheiten der Arbeitnehmer verändert. (Symbolbild) Bildrechte: imago images/Westend61

Veränderungen der ArbeitHomeoffice als Stresstest für die Unternehmenskultur

18. Juni 2022, 17:17 Uhr

Work-Life-Balance ist ein modern klingender Begriff, der gerne angeführt wird, wenn sich Unternehmen oder Behörden als besonders mitarbeiterfreundlich zeigen wollen. Die Möglichkeit von Homeoffice gilt dann oft schon als Beleg für ein wertschätzendes Unternehmensklima. Doch wie sieht die Praxis nach Aufhebung aller Coronabeschränkungen aus – dieser Frage ist MDR SACHSEN-ANHALT nachgegangen.

  • Viele Vorgesetzte sind misstrauisch, wenn ihre Mitarbeitenden im Homeoffice arbeiten.
  • Für eine moderne Arbeitswelt ist deshalb eine neue Führungskultur notwendig.
  • Ein Homeoffice-Zwang wird sich kaum durchsetzen lassen. Zu unterschiedlich sind die Anforderungen in verschiedenen Jobs.

Angeblich stagnierte in Corona-Zeiten der Verkauf von Businesskleidung, weil die Angestellten im Homeoffice statt im schicken Schwarzen nun in Jogginghose ihrer Tätigkeit nachgingen. Und anders als im Büro kann man vor dem heimischen Computer auch mal unfrisiert hocken, solange keine Videokonferenz ansteht.

Homeoffice: Was vor der Pandemie allenfalls als exotische Sonderform des Arbeitens galt, wurde plötzlich per Verfügung zum neuen Arbeitsalltag für Millionen von Beschäftigten.

Misstrauen bei den Vorgesetzten

Ältere erinnern sich vielleicht noch, dass es früher Werkssirenen gab, um mit lautem Tuten den Beginn und das Ende der Schicht zu verkünden. Die Sirene wurden später durch Stempelkarten ersetzt. Denn der durchschnittliche Arbeitsvertrag orientiert sich an der Zeit, die man täglich für den Arbeitgeber aufbringt.

Das gilt im Prinzip auch für das Homeoffice, allerdings lässt sich da die Arbeitszeit für Arbeitgeber schwerer kontrollieren als per Stempelkarte. Doch es gibt Möglichkeiten, erklärt Ronja Bölsch-Peterka. Sie ist Gesundheitswissenschaftlerin und hat, unterstützt von Sachsen-Anhalts Krankenkasse AOK, eine Studie zu den bisherigen Erfahrungen mit dem Homeoffice vorgestellt.

Unter anderem hat sie Callcenter beraten, die einen Teil der Telefonberatung in das Homeoffice verlagern wollten. Das größte Problem war dabei das Misstrauen der Vorgesetzten. "Die sagten dann: Ich sehe ja gar nicht, dass derjenige wirklich telefoniert", sagt Bölsch-Peterka. "Aber im Endeffekt gibt es genug Kontrollmechanismen. Und da müssen dann auch die Zahlen stimmen. Das kann natürlich einen enormen Druck erzeugen."

Neue Führungskultur für neue Arbeitswelt nötig

Es gibt immer noch Unternehmen und Behörden in Sachsen-Anhalt, in denen Vorgesetzte über den Flur brüllen, wenn sie der Meinung sind, ihre Autorität werde in Frage gestellt. Folgenlos bleibt das nicht, die Untergebenen gehen ins innere Exil oder sie gehen zum Arzt. Seit Jahren steigt in Sachsen-Anhalt die Zahl der psychischen Krankschreibungen an, wie aktuelle Zahlen der DAK-Krankenkasse belegen. Homeoffice könnte eine Alternative sein, einem belastenden Arbeitsumfeld zu entgehen. Aber auch das setzt eine neue Führungsqualität voraus.

Das sieht man in Sachsen-Anhalts Arbeitgeberverband ähnlich. Jan Pasemann ist Sprecher der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände Sachsen-Anhalt und er beobachtet in den Unternehmen einen Veränderungsprozess: "Homeoffice hat definitiv etwas mit Vertrauen und mit Unternehmenskultur zu tun. Das muss erlernt werden. Ich bin aber der festen Überzeugung, dass sich auch die Führungskräfte dem im Laufe der Zeit gewachsen fühlen werden. Das umzusetzen, ist aber die Aufgabe der Unternehmen."

Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) sieht im Homeoffice überwiegend Chancen für die Arbeitswelt. In einer Studie hat der DGB die Ergebnisse einer Befragung unter Beschäftigten zusammengefasst. Die wichtigsten Gründe für Arbeit im Homeoffice sind für Beschäftigte demnach:

  • bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf
  • Wegfall von Fahrtzeiten zur Arbeitsstätte
  • größere Spielräume bei der Arbeits(zeit)gestaltung
  • größere Zufriedenheit im Job

Kein Zwang zu Homeoffice

Ronja Bölsch-Peterka unterstützt Firmen bei der Neuorganisation der Arbeit. In jedem Fall muss nämlich die Belegschaft in den Prozess eingebunden werden – und das ohne konkrete Zielvorgaben. Denn Homeoffice sollte grundsätzlich nicht angeordnet, sondern nur ermöglicht werden, so die Wissenschaftlerin Bölsch-Peterka: "Es gibt halt Menschentypen, die kommen damit besser klar. Und es gibt Menschentypen, die kommen damit gar nicht klar. Und deshalb macht eine Homeoffice-Pflicht keinen Sinn. Mit Zwang tut man weder den Menschen noch der Firma einen Gefallen."

Hinzu kommt, dass die Voraussetzungen für das Homeoffice sehr unterschiedlich sind. Wer beengt in einer Mietwohnung sich den Arbeitsplatz mit anderen Familienmitgliedern teilt, sitzt zu Hause wahrscheinlich schlechter als im Büro. Und manchem fällt es schwer, Abstand zum Job zu finden, wenn die Arbeit im Wohnzimmer erledigt wird.

Ronja Bölsch-Peterka rät in solchen Fällen, zum Feierabend die Wohnung zu verlassen: "Deshalb empfehle ich eine Art Ritual, auch wenn Sie zu Hause im Homeoffice sind, um den Tag abzuschließen: Einfach mal um den Block laufen. So, als hätte man einen Arbeitsweg. Das hilft in dem Moment, einfach dem Kopf zu sagen: Okay, jetzt ist Feierabend."

Und wo bleibt der Bürotratsch?

Das ist keine rhetorische Frage. Denn viele Ideen in Unternehmen wurden nicht am Konferenztisch entwickelt, sondern am Kaffeeautomaten oder in der Raucherecke. Zwar gibt es in einigen Firmen virtuelle Treffen zur Mittagspause vor dem Bildschirm, andere nutzen Messengerdienste wie Whatsapp.

Doch ein reales Beisammensein ersetzt das virtuelle Meeting nicht. Deshalb empfiehlt Ronja Bölsch-Peterka den Unternehmen auch nur maximal drei Tage Homeoffice pro Woche zu ermöglichen, um die Arbeit im Team besser zu strukturieren. Dass Homeoffice den Hang zu Vereinzelung stärken könnte, ist eine Befürchtung, die nicht vollständig von der Hand zu weisen ist.

Spaltung der Arbeitswelt entgegenwirken

Der Unterschied zwischen Kopf- und Handarbeit bleibt aber trotz aller Digitalisierung bestehen. Das Bedienen von Maschinen oder Anlagen oder die Arbeit auf dem Bau erfordern wohl auch in Zukunft Anwesenheit vor Ort. In anderen Berufsfeldern, wie etwa der Pflege oder auch in der Kinderbetreuung, hat der bürokratische Aufwand allerdings so stark zugenommen, dass zumindest ein Teil der täglichen Verwaltungspraxis auch zu Hause erledigt werden könnte. Doch selbst hochmoderne Produktionsanlagen wie das neue Intel-Werk in Magdeburg werden wohl nicht vom heimischen Computer im Wohnzimmer gesteuert werden. Und so werden auch in Zukunft Menschen von zu Hause arbeiten, während andere täglich zur Schicht ausrücken.

Für Bölsch-Peterka muss das kein Widerspruch sein: "Es geht dabei vor allem um Respekt, egal, womit jemand sein Geld verdient. Und das ist eine Herausforderung an die ganze Gesellschaft. Auch da muss es einen Bewusstseinswandel geben." In vielen Internetdebatten über Mindestlohn oder Armut ist es ja inzwischen üblich, den Betroffenen zu raten, bei der Berufswahl etwas genauer hinzuschauen. Diese Hochnäsigkeit ist genau die Haltung, welche die Spaltung der Lebens- und Arbeitswelt beflügelt.

Grenze zwischen Arbeit und Freizeit verwischt im Homeoffice

Sachsen-Anhalts Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände sehen derzeit allerdings ein weiteres Problem: Homeoffice kann zwar zu größerer Arbeitszufriedenheit führen, was nicht selten auch eine Leistungssteigerung zur Folge hat. Man könnte also von einer Win-win-Situation ausgehen.

Allerdings gibt es auch Schattenseiten, so Martin Mandel. Er ist Sprecher des DGB Sachsen-Anhalt und verweist vor allem auf Probleme der Arbeitszeit: "Überlange Arbeitszeiten sind keine Seltenheit. Der gravierendste Befund ist jedoch, dass die sogenannte Entgrenzung von Arbeit und Freizeit stark ausgeprägt ist. Das zeigt sich durch ständige Erreichbarkeit oder dem Hang, auch über die reguläre Arbeitszeit hinaus Mails und Anrufe zu checken." Das habe zur Folge, dass so manchen zum Feierabend nicht so einfach abschalten könne.

Politische Forderung: Flexibilisierung der Arbeitszeit

Es gibt auch politische Forderungen. Die derzeitigen Regelungen des Arbeitsrechts verhindern nämlich flexible Lösungen, denn sie orientieren sich noch immer an dem klassischen Acht-Stunden-Tag. So erklärt es der Sprecher der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände, Jan Pasemann: "Man sollte dazu übergehen, dass man denjenigen, die mobil arbeiten, die Möglichkeit gibt, morgens zu starten, um dann zu unterbrechen, wegen der Kinder zum Beispiel, dann nachmittags weiterzumachen und möglicherweise dann auch abends noch mal. Natürlich müssen Ruhezeiten eingehalten werden, das wissen wir alle. Aber dieser starre Acht-Stunden-Arbeitstag mit der 40 Stunden Arbeitswoche, darüber muss man jetzt unbedingt diskutieren, weil ich glaube, dass auch das ein Stück Zukunftsfähigkeit und Standortvorteil für Sachsen-Anhalt ist."

Angesichts der weit verbreiteten Klage über den Fachkräftemangel wäre dies möglicherwiese auch eine Chance, Personal zu binden, das lieber in Leipzig oder Berlin wohnt, aber seine Brötchen in Sachsen-Anhalt verdient.

Bildrechte: Uli Wittstock/Matthias Piekacz

Über den AutorGeboren ist Uli Wittstock 1962 in Lutherstadt Wittenberg, aufgewachsen in Magdeburg. Nach dem Abitur hat er einen dreijährigen Ausflug ins Herz des Proletariats unternommen: Arbeit als Stahlschmelzer im VEB Schwermaschinenbaukombinat Ernst Thälmann. Anschließend studierte er evangelische Theologie. Nach der Wende hat er sich dem Journalismus zugewendet und ist seit 1992 beim MDR. Er schreibt regelmäßig Kolumnen und kommentiert die politische Entwicklung in Sachsen-Anhalt.

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MDR (Uli Wittstock, Oliver Leiste)

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 19. Juni 2022 | 12:00 Uhr

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