Wissenschaft und Journalismus Interview: Warum man Fakten und Meinung trennen sollte
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Thema Impfen: Ein Artikel von MDR SACHSEN-ANHALT wird kritisiert, nicht angemessen mit wissenschaftlichen Fakten umzugehen. Wir haben mit einem Professor für Wissenschaftskommunikation darüber gesprochen. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, ab wann redet man von "false balance", zu deutsch "falsche Gleichgewichtung".
MDR SACHSEN-ANHALT hat mit einem Artikel zum Thema Impfen eine Diskussion darüber ausgelöst, ob man in dieser Art mit wissenschaftlichen Forschungsergebnissen umgehen kann. Hauptkritik: Fakten und Meinungen werden gleichgesetzt und zur Diskussion gestellt. Sven Engesser ist Professor für Wissenschafts- und Technikkommunikation an der Technischen Universität Dresden. In einer Studie hat er sich mit dem Thema "false balance" im Zusammenhang mit der Berichterstattung über den Klimawandel beschäftigt. Wir haben mit ihm über das Problem von Fakt und Meinung gesprochen.
MDR SACHSEN-ANHALT: Wie entsteht das "false balance", das falsche Gleichgewicht?
Sven Engesser: "False balance" heißt "falsche Gleichgewichtung". Dabei geht es darum, dass Journalisten versuchen, die Wahrheit abzubilden. Dazu bedient man sich verschiedener Hilfskonstruktionen, wie der Gleichgewichtung von Meinungen, also Pro- und Contra-Argumente gleichberechtigt darstellen, um die Realität gut abzubilden. Das funktioniert in der politischen Berichterstattung in den USA gut, da es dort oft zwischen Republikanern und Demokraten zwei Meinungen gibt.
Schwierig wird das jedoch bei der Wissenschaftsberichterstattung, denn da geht es um Fakten. Man hat die wissenschaftlich etablierte Faktenlage und der Journalismus sucht noch jemanden, der dagegen ist. Dadurch entsteht der Eindruck, beide Positionen seien gleichwertig. Gängigstes Beispiel ist der Klimawandel: Etwa 97 Prozent der Wissenschaftler und der Fachzeitschriftenaufsätze vertreten die Auffassung, dass der Klimawandel so stattfindet, wie das der Weltklimarat sagt. Aber trotzdem kommen immer wieder Klimaskeptiker zu Wort. Und dadurch entsteht der Eindruck, die Verteilung wäre 50 zu 50, obwohl sie in Wirklichkeit 97 zu 3 ist.
Was muss man beachten, wenn man journalistisch über wissenschaftliche Ergebnisse spricht?
Die Wissenschaft verzichtet weitgehend auf subjektive Meinung. Also wenn man eine Studie veröffentlicht, ist es meistens nicht von Belang, was man persönlich dazu denkt. Den Journalismus interessiert das aber durchaus und auch, welche gesellschaftlichen Meinungen es dazu gibt – und das ist auch wichtig für die Demokratie. Das muss der Journalismus auch tun, aber er muss Fakten und Meinung trennen. Er muss das vor allem bei Themen tun, bei denen die Faktenlage immer wieder diskutiert wird, die Faktenlage unbekannt ist oder nicht akzeptiert wird.
Das Ziel des Artikels war nicht, den Sinn des Impfens zu diskutieren, sondern dem nachzugehen, warum Menschen den Sinn von Impfen in Zweifel ziehen.
Das Problem ist die Vermischung von Fakten und Meinung. Wenn man am Anfang des Artikels oder in einem Info-Kasten die Fakten präsentiert hätte, dann wäre das nicht problematisch. Da sieht jeder: Das ist die Faktenlage und dann kann man auch über die Meinung diskutieren und einen Impfkritiker zu Wort kommen lassen – einige Leute haben ja diese Auffassungen. Man braucht jedoch die klare Trennung von Fakten und Meinung und eine aktive Einordnung und Bewertung der Meinung durch die Journalisten. Die Frage in der Hinführung zum Artikel: "Impfen oder nicht? Daran scheiden sich die Geister" impliziert, es gibt zwei Meinungen und die werden, wenn man nichts Näheres darüber weiß, erst einmal als gleichberechtigt wahrgenommen.
Über den Autor
Martin Paul ist seit 2014 Online-Redakteur bei MDR SACHSEN-ANHALT. Zuvor arbeitete er als Redakteur und in der digitalen Produktentwicklung bei der Mitteldeutschen Zeitung und absolvierte dort ein online-journalistisches Volontariat.
Er studierte Kulturwissenschaften in Leipzig und Multimedia & Autorschaft an der Universität in Halle.
Quelle: MDR/mp