
Datenschützer gegen Digitalministerin Kommentar: Wenn zwei sich streiten, freuen sich die Dritten
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30. Juni 2024, 13:30 Uhr
2023 haben Studierende 200 Euro Energiepreispauschale bekommen. Den Online-Antrag dafür hat Sachsen-Anhalts Digitalministerium entwickelt. Jetzt hat der Landesdatenschützer das Ministerium verwarnt: Es habe Daten zu Unrecht verlangt und die Studierenden zur "BundID" gezwungen. Die Digitalministerin hält die Verwarnung für überzogen. MDR SACHSEN-ANHALT-Autor Marcel Roth meint, beide hätten Recht. Das Problem sei ein anderes: Es fehlt eine anerkannte und einfache Online-ID in Deutschland. Ein Kommentar.
Ich möchte Ihnen den Streit zwischen dem Landesdatenschutzbeauftragten und der Digitalministerin aus einer anderen Perspektive erklären. Dazu müssen Sie ziemlich gute Nerven haben und mir versprechen, sich nicht allzu sehr zu ärgern. Denn ich muss etwas ausholen.
Wer in eine Verkehrskontrolle kommt, Alkohol kaufen oder in einer Bankfiliale ein Konto eröffnen will, muss seinen Personalausweis zücken. In der echten, analogen Welt geht das schnell und unkompliziert. In der digitalen – und mittlerweile auch ziemlich echten Welt – existiert ein ganzer Zoo an Möglichkeiten, sich zu identifizieren. Haben Sie Lust auf einen Rundgang durch diesen behördlichen Zoo der elektronischen Identitäten? Bitte sehr:
- Es gibt ELSTER-Zertifikat, das für die Steuererklärung entwickelt wurde.
- Es gibt den Personalausweis, mit dem man vor einer Webcam wedeln kann, wenn man online ein Bankkonto eröffnen will.
- Es gibt die Online-Funktion des Personalausweises, um die Rentenauskunft einzusehen, den Kulturpass oder ein Führungszeugnis zu beantragen, ein Fahrzeug zuzulassen oder abzumelden.
Noch mehr Digital-Identitäten
- Es gibt die Gesundheitskarte der Krankenkassen für die elektronische Patientenakte.
- Es gibt die "BundID" des Bundesinnenministeriums. Mit der Online-Funktion des Personalausweises legt man dabei ein Nutzerkonto an. So kann man mit der "BundID" weitere "Verwaltungsdienstleistungen" beantragen.
- Unternehmerinnen haben ein "digitales Unternehmenskonto", Anwälte ein "elektronisches Anwaltspostfach" und Ärztinnen oder Psychotherapeuten einen "elektronischen Heilberufsausweis".
- Und Bayern können sich eine "BayernID" zulegen.
Ja mei! Ich weiß, das war der langweiligste Zoo-Rundgang seit der Erfindung der Arche Noah.
Digitale Identitäten funktionieren und sind nützlich. Meistens. Je nachdem, wo Sie wohnen.
Das Schöne ist: Sie können sich mit Ihrem Ausweis sogar beim Einwohnermeldeamt ummelden. Vorausgesetzt, Sie wohnen in Hamburg. Und vorausgesetzt, Sie ziehen nur innerhalb Hamburgs um. Sie können sogar das deutschlandweite Bafög-Online-Portal des Bundesverwaltungsamtes nutzen. Aber leider nur, wenn Sie Ihr Bafög-Darlehen zurückzahlen wollen. Wenn Sie Bafög beantragen wollen, geht das deutschlandweit leider nicht einheitlich. Der Grund: Man konnte sich unter anderem nicht einigen, ob das Feld, in der Sie Ihre Straße und Hausnummer eintragen, "Adresse" oder "Anschrift" heißen soll.
Die Einmalzahlung an Studierende
Sachsen-Anhalts Digitalministerium hat die Plattform "einmalzahlung200.de" entwickelt. Der wenig seriös wirkende Name wurde 2023 bereits kritisiert. Ab 15. März 2023 konnten Studierenden ihre 200 Euro auf der Plattform beantragen. So haben in Sachsen-Anhalt fast 60.000 Studierenden und Fachschüler 11,8 Millionen Euro erhalten. Deutschlandweit wurden 567 Millionen Euro an 2,8 Millionen Menschen ausgezahlt.
Zunächst konnten Studierende ausschließlich die "BundID" zur Identifizierung nutzen. Ab Ende Juni 2023 kam zusätzlich zur "BundID" das ELSTER-Zertifikat hinzu. Eine PIN-Lösung war auch möglich. Einen Offline-Antrag gab es nicht. Wenig überraschend ist die Zahl der Nutzer der "BundID" deshalb gestiegen: von 270.000 im Februar 2023 auf 3,2 Millionen im August 2023. Mindestens 1.700 Nutzer haben ihre "BundID" wieder löschen lassen – über die von der IT-Sicherheitsaktivisten Lilith Wittmann betriebenen Seite "widerruf200.de". Wittmann hatte 2023 auch gezeigt, wie sich die 200 Euro ohne "BundID" bekommen ließen.
Ein IT-Beratungsunternehmen hat für das Projekt offiziell fast sechs Millionen Euro erhalten. Es wird gemunkelt, dass es deutlich mehr war. Ministerien halten Kosten für vergleichsweise niedrig und glauben, dass sich die Technologie auch für weitere Zahlungen eignet. Infrage käme etwa ein bislang nicht beschlossenes Klimageld.
All diese digitalen Identitäten funktionieren. Außer sie funktionieren nicht. Weil irgendetwas holpert, eine Software ein Update braucht, ein Server ausfällt oder Hacker Verwaltungen lahmlegen. Soll ja vorkommen. Oder weil eine IT-Sicherheitsaktivistin Lücken in der "BundID" findet und deshalb Dienste abgeschaltet werden. Oder weil wir Nutzer mit den Namen durcheinanderkommen: Zum Personalausweis gehört die "AusweisApp", die bis vergangenen November vier Jahre lang "AusweisApp2" hieß. Und demnächst heißt die "BundID" wohl "DeutschlandID".
Viele Identitätsmöglichkeiten, noch mehr Verwaltungsdienstleistungen
Was Ihnen der Ausflug in den Zoo zeigen sollte: Es gibt zu viele Möglichkeiten, um sich in Deutschland online gegenüber Behörden, Verwaltungen oder Unternehmen auszuweisen und zu identifizieren. Und es gibt viel zu viele Möglichkeiten, was Behörden alles digital organisieren.
- Sie wollen sich für den nationalen Brennstoffemissionshandel registrieren? Das geht mit der Online-Funktion Ihres Personalausweises beim Umweltbundesamt.
- Wenn Sie eine Waffe haben und wissen wollen, was über Sie im Nationalen Waffenregister steht – das können Sie auch online erledigen.
- Sie glauben, Sie haben gegen das Seefischereigesetz verstoßen? Auskunft erhalten Sie online bei der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung.
Nichts gegen diese Auskunftsmöglichkeiten. Aber sie sind Beiwerk und entscheiden nicht über die digitale Zukunft Deutschlands. Das machen eher massenhafte Anwendungen. Besser ausgedrückt: massentaugliche Anwendungen, unkompliziert und nutzerfreundlich.
Aber die deutsche Bürokratie ist historisch alles andere als nutzerfreundlich. Wer etwas von einer Behörde will, ist Antragsteller. Und das Amt muss erst feststellen, ob er auch Berechtigter ist. Wie genau ein Amt so etwas tut, ist von Amt zu Amt, von Kommune zu Kommune, von Landkreis zu Landkreis, von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. In einer digitalen Welt ist das niemandem mehr zu erklären.
Einmalzahlung200: gute Lösung trotz Identitäten-Zoo
Insofern war es aus Nutzersicht eine Wohltat, wie die 200 Euro an Studierende ausgezahlt wurden. Wer sich eine "BundID" zugelegt hat, musste seine Kontonummer eintragen. Entschieden wurde innerhalb von Minuten. Das Geld war innerhalb von ein, zwei Tagen auf dem Konto.
Der Landesdatenschützer kritisiert, dass der Antrag nur online zu erledigen war. Seine größte Kritik: Alles ging nur mit der "BundID". Aber das war tatsächlich nur in den ersten dreieinhalb Monate so. Danach konnten sich Studierende auch mit dem ELSTER-Zertifikat identifizieren. Und da haben wir eben den Salat aus dem Identitäten-Zoo: Es gibt in dieser Republik keine einheitliche, von allen anerkannte, einfach zu bedienende Online-Identifikation. Es gibt erst recht keine, die Sie und ich wirklich regelmäßig nutzen.
Committet euch für eine einfache, einheitliche Online-ID!
Ein kurzer Blick ins viel gelobte Estland: Dort muss jeder Mensch ab 15 Jahren eine Identitätskarte haben. Auch sie hat eine Online-Funktion und ist deutlich häufiger im Einsatz, denn sie gilt auch als Gesundheitskarte. All das geht in Deutschland nicht. Ist der Föderalismus mal wieder schuld? Nein, es sind die handelnden Personen im Föderalismus! Die haben zu oft nur ihr eigenes Bundesland im Blick und fühlen sich wohl nicht dem großen Ganzen verpflichtet. Neudeutsch: Es fehlt Commitment. Und das schon seit Jahrzehnten.
Das Digitalministerium musste 2023 also mit dem Identitäten-Zoo arbeiten, den es gab. Der Datenschützer musste verwarnen, denn Anträge an Behörden müssen in Deutschland auch analog erledigt werden können. Und vermutlich war dem Digitalministerium 2023 auch klar, dass die Lösung nicht ganz korrekt ist. Wie hätte sie handeln sollen? Wie hätte der Datenschützer handeln sollen?
Ich habe darauf keine Antwort. Aber ich sehe im Streit zwischen Datenschützer und Digitalministerin die lachenden Dritten: jene, die dem Datenschutz mal wieder vorwerfen, Digital-Vorhaben zu verhindern. Ich sehe jene Bundesländer und Landespolitiker, die für weniger öffentlichkeitswirksame Digitalvorhaben zuständig sind und weiter vor sich hin wurschteln, weil niemand genau hinschaut. Und ich sehe Beratungsunternehmen und IT-Dienstleister, die mit ihren digitalen Ideen von einer Verwaltung zur nächsten tingeln, mit KI-Ideen um sich werfen und fleißig Rechnungen schreiben.
MDR (Marcel Roth)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 30. Juni 2024 | 12:00 Uhr
pwsksk vor 32 Wochen
Vollkommen richtig.
Es gibt solch eine ID auf dem Ausweis und eine Steuer-ID.
Beides beim Finanzamt hinterlegt. Und "wenn es drauf ankommt", kann dieses Amt und die Meldestelle und die Bank IMMER! darauf zugreifen.
In diesem Land aber im Sinne des Bürgers nicht möglich. Andersrum aber immer.
Wilhelm vor 32 Wochen
Die digitale Situation in der öffentlichen Verwaltung haben Sie gut zusammen gefasst, Herr Roth. In den großen Unternehmen mit mehreren Töchtern und Söhnen dürfte es jedenfalls nicht anders aussehen. Alles unter einem Dach mit jeweils anderen SW-Lösungen. Das freut insbesondere diejenigen, die gerne am Gestrigen hängen. Wie sieht es bei den 10/11 Rundfunkanstalten aus? Vermutlich ähnlich, oder? Die öffentlichen Verwaltungen arbeiten außerdem immer noch nach der Kameralistik. Ist so schön einfach, ist zu hören. Doppik und Leistungsrechnung ist zu kompliziert, meinen die meisten. Die Mönche um Pacioli waren damals bereits gedanklich weiter als die öffentliche Verwaltung in D.
Freies Moria vor 32 Wochen
Der Bund hat im Jahr 2000 mit ELSTER bereits die Grundlagen für eine digitale Bewirtschaftung staatlicher Angelegenheiten einen deutschlandweiten Feldversuch gestartet.
Zu Corona hat man die zentrale Erfassung aller Steuerbürger nicht genutzt um Corona-Hilfen effektiv zu kontrollieren - das war 20 Jahre später.
Wenn man in 20 Jahren weder die Dinge nutzt, die zur Verfügung stehen, noch intensiv darüber nachdenkt, wie man die Realität in der digitalen Welt praxisgerecht abbildet, dann hilft auch kein Digital-Geschwätz um irgendetwas besser zu machen.
Der Beweis ist oben im Artikel und ein zweiter Beweis liegt im Abschuss der digital-affinen Partei "Die Piraten". Die Protagonisten der Zerstörung der Piraten sitzen heute mehrheitlich bei den Grünen, oft auf komfortablen Sesseln. Die Grünen wiederum auf der Regierungsbank.
Und in den 1990ern wollten die Grünen ISDN nicht zulassen, weil digitales gefährlich wahr. Ich überlasse es dem Leser die Zusammenhänge selbst herzustellen...