Brüssel Ist Ostdeutschland im Europaparlament unterrepräsentiert?

30. Oktober 2020, 11:29 Uhr

Ostdeutschland hat weniger Europaabgeordnete als Wählerstimmen. Aus Sachsen-Anhalt kommt nur einer. Was bedeutet das für die Erreichbarkeit des EU-Parlaments und seine Akzeptanz in der Region? Welche Abgeordneten für welches Bundesland zuständig sind und wie die Parteien versuchen, Probleme bei der Wahl ihrer Kandidaten wieder aufzufangen.

Thomas Vorreyer
Bildrechte: MDR/Luca Deutschländer

Die SPD hat eine, die AfD einen, die FDP sogar gar keinen: Abgeordnete aus ostdeutschen Landesverbänden sind im Europäischen Parlament auf den ersten Blick Mangelware. 96 Abgeordnete sendet Deutschland nach Brüssel und Straßburg. Zehn bis elf davon müssten Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen stellen, ginge es allein nach den Einwohnerzahlen oder aber den abgegebenen Stimmen. Tatsächlich sind es acht. Besonders auffällig dabei: Aus Sachsen-Anhalt kommt ein einziger Abgeordneter.

Wie erreichbar ist das Parlament damit für die Menschen in den drei Bundesländern? Welche Bedeutung haben Belange von hier bei der Arbeit in Brüssel? Und was bedeutet die Situation für die Akzeptanz der EU und Europapolitik im Osten? MDR SACHSEN-ANHALT hat dazu mit mehreren Abgeordneten gesprochen.

MdEP Sven Schulze (CDU)

Sven Schulze aus Quedlinburg saß bis zum letzten Jahr gemeinsam mit dem Sachsen-Anhalt-SPD-ler Arne Lietz im Europäischen Parlament. Lietz verlor aber mit dem Absturz der SPD bei der letzten Europawahl sein Mandat.

Er merke schon, dass der Kollege jetzt fehlt, sagt Schulze. "Es gibt viel mehr Anfragen von Schulen, Ministerien, Kollegen aus dem Landtag." Jeder, der ein europarelevantes Anliegen habe, wende sich an ihn oder sein Büro.

Je weniger Abgeordnete mit den Bürgern über ihre Probleme sprechen können, desto schwieriger ist es, für eine positive Stimmung im Sinne von Europa zu werben.

Sven Schulze CDU

Schulze ist stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für Verkehr und Tourismus. Darüber erreichen ihn Anfragen aus ganz Deutschland und Europa. Aber: "Jedes Land, ob Sachsen-Anhalt oder Mecklenburg-Vorpommern, hat Themen, die hier in Brüssel besprochen werden. Und die brauchen hier eine Stimme."

Er nennt als Beispiel die gerade beschlossene Agrarreform. Da habe er die örtliche Erfahrung mit den EU-weit umstrittenen Großbetrieben eingebracht: "In Sachsen-Anhalt sind das sind keine Kapitalisten, die nur am Ende auf die Gewinn aus sind, sondern auch Betriebe, die in den Dörfern für Leben sorgen."

So viele Abgeordnete aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen haben die Parteien unter ihren MdEP CDU/CSU: 3/29
Grüne: 1/21
SPD: 1/16
AfD: 1/11
Die Linke: 2/5
FDP: 0/5
Andere: 0/9
Insgesamt: 8/96

So haben wir die Repräsentation der Bundesländer berechnet

Deutschland
61,4 Prozent Wahlbeteiligung im Durchschnitt
37.396.889 gültige Stimmen gesamt
96 Abgeordnete (MdEP) gesamt

Sachsen
63,6 Prozent Wahlbeteiligung
2.059.812 gültige Stimmen
5,3 MdEP rein proportional
5 MdEP in Realität

Sachsen-Anhalt
54,7 Prozent Wahlbeteiligung
975.514 gültige Stimmen
2,5 MdEP rein proportional
1 MdEP in Realität

Thüringen
61,5 Prozent Wahlbeteiligung
1.050.221 gültige Stimmen
2,7 MdEP rein proportional
2 MdEP in Realität

Quellen:
bundeswahlleiter.de,
europarl.europa.eu,
Eigene Berechnungen

Zwar profitiere er auch von den ganzen Kontakten, für die Akzeptanz der EU innerhalb des Landes sei seine Sonderrolle aber nicht gut, so Schulze: "Je weniger Abgeordnete mit den Bürgern über ihre Probleme sprechen können, desto schwieriger ist es, für eine positive Stimmung im Sinne von Europa zu werben."

MdEP Anna Cavazzini (Grüne)

Ganz allein ist Schulze dennoch nicht. Damit Deutschland politisch abgedeckt wird, haben die Abgeordneten der großen Parteien innerhalb ihrer Gruppen Zuständigkeiten für die einzelnen Bundesländer vergeben. Für die SPD ist jetzt Joachim Schuster aus Bremen auch für Sachsen-Anhalt tätig. Im November will er sich mit dem Landesvorstand über seine Arbeit abstimmen, sagt Schuster. Außerdem sucht er gerade noch ein Büro im Land.

Bei den Grünen übernehmen gleich drei Abgeordnete Sachsen-Anhalt: die Ko-Vorsitzende der Grünen EP-Fraktion, Ska Keller aus Brandenburg; Erik Marquardt aus Berlin und Anna Cavazzini aus Sachsen. Cavazzini stammt aus Hessen, hat aber in Chemnitz studiert. Mit Marquardt teilt die neu gewählte Vorsitzende des Ausschusses für Binnenmarkt und Verbraucherschutz ein Büro in Magdeburg.

Ich finde es auch symbolisch wichtig, physisch vor Ort zu sein – und nicht nur virtuell für Sachsen-Anhalt zuständig.

Anna Cavazzini Grüne

"Ich versuche, wirklich, jede freie Minute in meinem Wahlkreis unterwegs zu sein", sagt Cavazzini. "Als Europäisches Parlament haben wir fast doppelt so viele Sitzungswochen wie der Bundestag. Da bleiben oft nur der Freitag und das Wochenende, um Wahlkreisarbeit zu machen."

Gerade hat Cavazzini eine von ihr beauftragte Studie zu Einstellungen gegenüber der EU veröffentlicht. Ein Drittel der Menschen in Ostdeutschland sagt demnach, die Mitgliedschaft in der EU bringe mehr Nachteile als Vorteile. In Westdeutschland sehen das ein Viertel so. Nur eine knappe Mehrheit im Osten sieht die Vorteile überwiegen. Die Zahlen sind repräsentativ.

Diese Abgeordnete sind für Sachsen-Anhalt zuständig Anna Cavazzini (Bündnis 90/Die Grünen)
Ska Keller (Bündnis 90/Die Grünen)
Maximilian Krah (AfD)
Erik Marquardt (Bündnis 90/Die Grünen)
Martina Michels (Die Linke)
Jan-Christoph Oetjen (FDP)
Sven Schulze (CDU)
Joachim Schuster (SPD)

"Wir müssen Europa besser erklären", sagt Cavazzini. Für sie sei es auch nie eine Frage gewesen, kein Büro in Sachsen-Anhalt zu haben. "Ich finde es auch symbolisch wichtig, physisch vor Ort zu sein – und nicht nur virtuell für Sachsen-Anhalt zuständig."

MdEP Maximilian Krah (AfD)

Auftritte in Sachsen-Anhalt gab es bei Maximilian Krah zuletzt keine. "Wir haben da Nachholbedarf", sagt der AfD-Abgeordnete aus Dresden. Neben Sachsen ist Krah auch für das Nachbarbundesland zuständig. Obwohl der Kontakt in die Landespolitik gut sei, seien die Kollegen hier angesichts der Corona-Lage zuletzt zurückhaltender gewesen als die sächsische AfD, sagt er. Außerdem müsse er sein Netzwerk in Sachsen-Anhalt erst noch aufbauen, so Krah, der in Brüssel im Ausschuss für internationalen Handel sitzt.

Ein Büro in Magdeburg suche er derzeit noch. Der ursprüngliche Plan, in das Büro des Bundestagsabgeordneten Frank Pasemann mit einzuziehen, scheiterte daran, dass Pasemann vom Vermieter gekündigt wurde.

Der AfD-Europaabgeordnete Maximilian Krah bei einer Rede im Jahr 2019
Bildrechte: imago images / HärtelPRESS

Unsere Liste hatte eine Schlagseite nach Süd- und Westdeutschland. Leute im Osten sagen seltener: Ich trau mir das zu. Etwa, weil ihnen die internationale Erfahrung fehlt.

Maximilian Krah AfD

Krah will, dass die EU-Institutionen wieder weniger Macht haben. Rhetorisch schlägt er dabei in dieselbe Kerbe wie andere AfD-Politiker im Osten. Gerade nannte Krah die milliardenschwere Beteiligung Deutschlands am EU-Wiederaufbauprogramm in der Corona-Krise "die größte Ausplünderung unseres Landes seit den Kriegsreparationen der Sowjetischen Besatzungszone".

Doch trotz der Stärke der Ost-AfD bei Landtags- und Bundestagswahlen: Krah stand zwar auf Platz drei der Bundesliste seiner Partei. Er ist aber der einzige AfD-Abgeordnete aus einem ostdeutschen Landesverband. Um Thüringen kümmert sich deshalb eine von drei bayerischen Mandatsträgerinnen.

Diese Abgeordneten sind für Sachsen zuständig Anna Cavazzini (Bündnis 90/Die Grünen)
Cornelia Ernst (Die Linke)
Andreas Glück (FDP)
Peter Jahr (CDU)
Maximilian Krah (AfD)
Constanze Krehl (SPD)

"Unsere Liste hatte eine Schlagseite nach Süd- und Westdeutschland", sagt Krah. "Leute im Osten sagen seltener: Ich trau mir das zu. Etwa, weil ihnen die internationale Erfahrung fehlt." Eine Quotenregelung lehnt Krah ab: "Jeder Abgeordnete muss sich verantwortlich fühlen: ein Mann für Frauen und Männer, ein Sachse für Sachsen und den Rest Deutschlands."

Ex-Europawahlkandidat Robert-Martin Montag (FDP)

Dass Europaabgeordnete nicht unbedingt ein Büro in jedem Bundesland brauchen, für das sie zuständig sind, meint Robert-Martin Montag. Der Generalsekretär der Thüringer FDP war bei der Europawahl vor einem Jahr mit Platz sieben der bestplatzierte ostdeutsche Kandidat seiner Partei. Ursprünglich ein aussichtsreicher Platz, am Ende erhielt die FDP aber nur fünf Sitze.

Viel wichtiger als dass jemand die Tür irgendwo auf und zu macht, ist, dass er oder sie über Telefon, Video-Call, E-Mail erreichbar ist.

Mittlerweile sitzt Montag im Erfurter Landtag und in Brüssel kümmert sich die Hessin Nicola Beer um Thüringen. Beer ist zudem Vizepräsidentin des Parlaments und noch für drei weitere Bundesländer zuständig. "Viel wichtiger als dass jemand die Tür irgendwo auf und zu macht, ist, dass er oder sie über Telefon, Video-Call, E-Mail erreichbar ist", sagt Montag. Nicola Beer sei das. Die Landtagsfraktion profitiere sehr vom direkten Draht nach Brüssel.

Diese Abgeordnete sind für Thüringen zuständig Nicola Beer (FDP)
Reinhard Bütikofer (Bündnis 90/Die Grünen)
Viola von Cramon-Taubadel (Bündnis 90/Die Grünen)
Constanze Krehl (SPD)
Sylvia Limmer (AfD)
Martin Schirdewan (Die Linke)
Marion Walsmann (CDU, Erfurt)

So vermitteln zuständige Abgeordnete ihren Kollegen und Kolleginnen im Bundestag und den Landtagen Kontakte in die EU-Verwaltung und zu Fachpolitikern. Oder ihr Büro erklärt die Auswirkungen neuer Verordnungen für lokale Unternehmen. Die Akzeptanz der EU hänge auch davon ab, "ob man sich mit seinen Problemen in Brüssel vertreten sieht", sagt Montag. Die Erreichbarkeit sei da wichtiger als beispielsweise, die Wahllisten zu quotieren.

Analysen aus der Politikwissenschaft

"Die Menschen in Mitteldeutschland sind im Europäischen Parlament nicht generell unterrepräsentiert", sagt Prof. Dr. Astrid Lorenz, Politikwissenschaftlerin von der Uni Leipzig. Bei der Linken seien Abgeordnete aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sogar überrepräsentiert: Die Sächsin Cornelia Ernst ist eine von fünf Abgeordneten. Zählt man die Ostberlinerin Martina Michels hinzu, kommen vier der fünf aus ostdeutschen Landesverbänden.

Anders als bei der Bundestagswahl treten die meisten Parteien bei der Europawahl mit einer einzigen Liste für das gesamte Bundesgebiet statt mit Landeslisten an. Auf denen haben ostdeutsche Kandidierende zuletzt eher schlechte Chancen gehabt. "Das Wahlverhalten der Menschen und ihre geringere Neigung zu Parteimitgliedschaften schlägt sich in der Repräsentation nieder", sagt Lorenz. Allerdings: Von den drei mitteldeutschen Bundesländern lag 2019 nur Sachsen-Anhalt unter dem Bundesdurchschnitt bei der Wahlbeteiligung.

Das ist die Expertise von Prof. Dr. Lorenz und Dr. Höhne

Prof. Dr. Astrid Lorenz forscht unter anderem zu politischen Systemen Europas. 2018 hat sie den Band "Brauchen wir Europa? Sachsen in der EU" mit herausgegeben. Die gebürtige Rostockerin ist Dekanin der Fakultät für Sozialwissenschaften und Philosophie an der Universität Leipzig. Für ihre Habilitationsschrift erhielt Lorenz den Wissenschaftspreis der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft.

Dr. Benjamin Höhne ist stellvertretender Leiter des Instituts für Parlamentarismusforschung in Berlin. Gebürtig aus Lutherstadt Wittenberg, hat er seine Doktorarbeit über "Rekrutierung von Abgeordneten des Europäischen Parlaments" verfasst und wurde dafür mit dem Wissenschaftspreis des Deutschen Bundestages ausgezeichnet.

Einzig die Unionsparteien nutzen Landeslisten, bedingt durch die Sonderrolle der CSU in Bayern. Gäbe es aber eine gemeinsame Bundesliste, "wäre das auch in der CDU ein Riesenkampf für Ostdeutschland", sagt Sven Schulze.

Ähnlich sieht das Dr. Benjamin Höhne vom Berliner Institut für Parlamentarismusforschung. Er sagt: "Wenn die ostdeutschen Landesverbände weniger Gewicht in die Delegierten-Waagschale werfen, kann man den Parteien kaum den Vorwurf machen, dass die Repräsentation nicht die Zahlen der Bevölkerung spiegelt." Höhne hat zur Rekrutierung von Europaabgeordneten promoviert.

Im Westen seien die Parteien stärker in der Lage, Mitglieder zu gewinnen – und Mitglieder-stärkere Landesverbände würden dann bei Bundesparteitagen eben mehr Delegierte stellen. Auch sei ein Mandat in Brüssel in den vergangenen Jahren immer attraktiver geworden, gerade für jüngere Politikergenerationen, so Höhne: "Ein Europamandat reicht im Mandatsprestige noch nicht an ein Bundestagsmandat heran, aber es hat deutlich gegenüber Landtagsmandaten hinzugewonnen."

Wenn man kaum die Chance hat, einen Europaabgeordneten zu Gesicht zu bekommen, dann verstärkt das die oft gefühlte Distanz der Bürgerinnen und Bürgern zu den europäischen Institutionen und Entscheidungsträgern. Das ist für alle Parteien eine riesige Herausforderung.

Benjamin Höhne Politikwissenschaftler

Die gewählten Abgeordneten stünden allerdings vor einer "Herkulesaufgabe". Ihre Wahlkreise umfassen teilweise mehrere Bundesländer. Zum Vergleich: Bei der Landtagswahl gibt es in Sachsen-Anhalt etwa 43 Wahlkreise, bei der Bundestagswahl neun.

Ein Problem der Europäischen Union sei "die oft gefühlte Distanz der Bürgerinnen und Bürger zu den europäischen Institutionen und Entscheidungsträgern", so Höhne. "Wenn man kaum die Chance hat, einen Europaabgeordneten zu Gesicht zu bekommen, dann verstärkt das diese Distanz noch. Das ist für alle Parteien eine riesige Herausforderung. Dafür gibt es sicherlich keine einfachen Lösungen, sehr wohl aber die Verpflichtung mit neuen Kanälen und Formaten, auch digitalen, den Kontakt zur Bevölkerung zu suchen."

CDU-Mann Sven Schulze, der einzige Abgeordnete aus Sachsen-Anhalt, wünscht sich mehr Kollegen, die auch vor Ort wohnten. Dann wäre man präsenter. Er sagt aber auch: "Alle Kollegen, mit denen ich zusammenarbeite, arbeiten auf ihrem Gebiet extrem viel. Das sind keine Acht-Stunden-Tage. Egal, ob man das hier in Brüssel macht oder vor Ort in Sachsen-Anhalt, Sachsen oder Thüringen."

Thomas Vorreyer
Bildrechte: MDR/Luca Deutschländer

Über den Autor Thomas Vorreyer arbeitet seit Herbst 2020 für die Online-Redaktion von MDR SACHSEN-ANHALT. Seine Schwerpunkte sind Politik, Gesellschaft und investigative Recherchen. Er ist in der Börde und in Magdeburg aufgewachsen, begann anschließend ein Politikstudium in Berlin.

Zuletzt hat er als Redakteur und Reporter beim Online-Magazin VICE.com gearbeitet. In Sachsen-Anhalt ist er am liebsten an Elbe, Havel oder Bode unterwegs.

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 01. November 2020 | 12:00 Uhr

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