Verbände schlagen AlarmWarum in Kitas Sozialarbeiter dringend gebraucht werden
Bislang sind Sozialarbeiter oft an Schulen im Einsatz. Neu ist, dass sie immer häufiger auch in Kitas gebraucht werden. Hilfe benötigen dabei meist nicht nur benachteiligte Kinder, sondern fast immer eher die Eltern. Doch Sachsen-Anhalt ist auf den wachsenden Bedarf an Sozialarbeitern gar nicht vorbereitet.
Auf dieser Seite:
Chancengleichheit: Keine Selbstverständlicheit
"Wer wohnt denn in eurer Burg?", fragt Simone Renhak die Kinder, die um sie herum sitzen und aus Klötzchen und Kegeln Türme und Mauern aufrichten. "Viele" antwortet ein Mädchen lachend. Simone Renhak fragt nach, welche Figuren das Mädchen genau meint. Sie ist Sprachfachkraft – das heißt, sie versucht den Kindern gezielt im Spiel neue Wörter beizubringen. Sie animiert die Kinder Sätze zu bilden und untereinander Gespräche zu beginnen. Denn dass alle Kinder miteinander reden können, ist im Weltkinderhaus nicht selbstverständlich. In der Kita der Volkssolidarität in Magdeburgs Neuer Neustadt werden derzeit Kinder aus siebzehn verschiedenen Nationen betreut. Darunter sind auch viele deutsche Kinder, die aus sozial benachteiligten Familien kommen. Die meisten haben eines gemeinsam: keine leichten Startbedingungen ins Leben.
Für mehr Chancengleichheit versucht Simone Renhak zu sorgen. Sie ist keine Sozialarbeiterin, sondern Sprachfachkraft. Ihre Stelle wird über ein Bundesprogramm finanziert, das eigentlich speziell auf die Integration von Kindern aus Familien mit Migrationshintergrund zugeschnitten ist. Doch sie und ihre Kolleginnen in der Kita leisten mehr, als das Programm "Frühe Chancen: Sprache und Integration" vorsieht und finanziert. Simone Renhak versucht, so gut es geht, Sozialarbeit zu machen.
Die Arbeit der Sozialarbeiter in Kitas
Sozialarbeit in Kitas zu leisten, heißt an die Eltern der Kinder heranzutreten. Weil das Bedürfnis so groß ist, übernimmt Simone Renhak diese Arbeit neben ihrer eigentlichen Aufgabe und führt Beratungsgespräche:
Dann bin ich da und kann sagen: Sie müssen zu diesem oder jenem Amt gehen und von dort werden diese oder jene Formulare benötigt. Wir haben auch deutsche Familien, die in schweren sozialen Lagen sind. Die benötigen Hilfe, weil auch sie nicht wissen, an welche Stellen sie sich wenden können, was die Förderung ihrer Kinder angeht.
Simone Renhak, übernimmt zusätzlich Sozialarbeit
Zwei Mal pro Tag hätten Sozialarbeiter in Kitas die Chance, mit Eltern von Kindern aus sozial-schwachen Familien zu sprechen – immer, wenn das Kind in die Kita gebracht oder abgeholt wird. Daher könne Sozialarbeit in Kitas wirkungsvoller sein als Sozialarbeit in Schulen, die heute in etwa der Hälfte der Schulen des Landes gemacht wird, argumentiert die Volkssolidarität.
Was Präventionsarbeit leisten kann
In der dritten Etage des Weltkinderhauses ist wenig vom Trubel der Kinder weiter unten zu hören. Hier oben, in einem schicken, hellen Raum mit einem langen Tisch haben Simone Renhak und ihre Kollegen das "Eltern-Café" eingerichtet. Hier lädt sie an Nachmittagen zum Erfahrungsaustausch ein. Es wirkt ungezwungen und der Name klingt nach einer netten Freizeitbeschäftigung, doch das Eltern-Café dient einem klaren Zweck: Simone Renhak hofft, dass es Eltern in der lockeren Atmosphäre leichter fällt, Vertrauen zu ihr zu fassen und von Problemen mit ihren Kindern, mit der Erziehung, mit Ämtern oder eigenen Sorgen zu berichten. Hier führt sie Beratungsgespräche und vermittelt bei Konflikten, zwischen Eltern und Erzieherinnen.
Heute sind keine Eltern im Café zu Besuch, sondern Carola Quednow. Für die Volkssolidarität und andere Kita-Träger koordiniert sie die Arbeit der Sprachfachkräfte. Nach ihrer Einschätzung bildet die Lage im Weltkinderhaus keine Ausnahme, sondern ist die Regel: Alle Sprachfachkräfte übernehmen nach ihrer Erfahrung derzeit Aufgaben, für die eigentlich Sozialarbeiter nötig wären:
"Wir haben ein sehr niveauvolles und interessantes Bildungsprogramm in Sachsen-Anhalt – und das muss umgesetzt werden. Aber da fehlt es an vielen Stellen – etwa daran, die Familienarbeit damit zu verknüpfen."
Das Umfeld des Weltkinderhauses
Das "Weltkinderhaus" liegt in Magdeburgs Neuer Neustadt. Im Viertel hatte es im letzten Jahr Spannungen zwischen zugezogenen Roma-Familien und anderen Anwohnern gegeben. Roma-Kinder besuchen das "Weltkinderhaus" derzeit übrigens nicht.
Im Viertel gäbe es eine vergleichsweise hohe Anzahl an zugezogenen Familien mit Migrationshintergrund und an deutschen Familien, die von Sozialleistungen abhängig sind, erklärt Simone Renhak. Neben ihr sitzen drei Kinder auf einer Matte auf dem Boden und schauen in ein Bilder-Buch, das die Sprachfachkraft im Schoß hat. Darin wird die Geschichte über den bunten Elefanten Elmar erzählt. Unter den Bildern steht Text in deutscher und arabischer Schrift. Das "Weltkinderhaus" berücksichtige die schwierige finanzielle Lage vieler Familien in der Neuen Neustadt, führt Renhak weiter aus: So gebe es keine Angebote, die die Eltern Geld kosten würden, etwa extra Musik- oder Englisch-Unterricht mit externen Referenten für die Kinder. Denn Angebote, die zusätzlich Geld kosteten, könnten von nicht allen Eltern bezahlt werden – und das würde die Chancenungleichheit für einige Kinder verschärfen. Deshalb bietet die Kita nur an, was ihr Personal selbst und ohne Zusatzkosten umsetzen kann. An dieser Einstellung spiegelt sich etwa, dass Eltern- und Kinderarmut für die Mitarbeiterinnen des Weltkinderhauses alltägliche Themen sind.
Fehlende Förderung durch Eltern
Was die Kita an Anstrengungen unternimmt, um Bildungsarbeit zu leisten, ist nicht genug. Die pädagogische Förderung für einige Stunden in der Kita kann nicht ausgleichen, was einigen Kindern an Förderung in ihren Elternhäusern fehlt.
Familienarbeit zu leisten, heißt deshalb in erster Linie, dafür zu sorgen, dass Eltern erfahren, welche Hilfsangebote es für sie und ihre Kinder überhaupt gibt.
Solche Hilfsangebote können finanzielle Zuschüsse sein, etwa um das Essensgeld für die Kinder zu bezahlen. Bei Konflikten in Familien können über das Jugendamt etwa ambulante Erziehungs-Berater vermittelt werden, die mit Kindern und Eltern arbeiten. Haben Kinder schwere Entwicklungsstörungen, können psychologische Beratungen helfen. Viele soziale Probleme – wie dauerhafte Abhängigkeit von Sozialhilfe – werden von den Eltern zu ihren Kindern weitergegeben, beschreibt Cornelia Kurowski, die das Kinder- Jugend- und Familienhilfswerk der Volkssolidarität leitet:
Wir haben viele junge Familien, die uns seit der Wende verloren gegangen sind. Die vermitteln ihren Kindern nur das, was sie selber auch kennengelernt haben. Das reicht aber für viele Kinder heute nicht aus, um in der Welt, in unserem Land, in der Zukunft als Mensch Bestand zu haben. Wir möchten diese Familien unterstützen, damit wir sie mitnehmen.
Cornelia Kurowski, Volkssolidarität
In keiner der Kitas der Volkssolidarität können derzeit Sozialarbeiter eingesetzt werden. Dass Sprach-Fachkräfte die Sozialarbeit notgedrungen mit übernehmen, könne höchstens eine Übergangslösung sein, sagt Cornelia Kurowski. Projekt-Koordinatorin Carola Quednow ergänzt, in der Kita würden die Weichen für den Schulstart der Kinder gelegt. Ohne eine möglichst frühe Sozialarbeit vergrößerten die Sprachprobleme der Kinder spätestens in der Schule die Chancenungleichheit im Vergleich zu Kindern aus Familien, die sozial höher gestellt seien: "Wenn wir Netzwerke bilden könnten, um auch die Eltern besser aufzuklären, dann wäre das sinnvoll – damit die Kinder auch in der Schule vorankommen. Denn hierbei geht es um Kinder, die zurückgestellt werden. Es geht auch um Mobbing im späteren Verlauf. Es wird den Kindern der Weg erschwert."
Sozialverbände fordern Geld
Die Volkssolidarität fordert deshalb von der Politik, Gelder für den Einsatz von Sozialarbeitern in Kitas bereitzustellen. Dieser Forderung schließt sich auch die Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Sachsen-Anhalt an. Die AWO berichtet von guten Erfahrungen, die von 2002 bis 2017 in Halle gemacht wurden, als im Rahmen eines Modellprojektes eine Sozialarbeiterin in zwei Kitas in Halle-Silberhöhe und Halle-Neustadt eingesetzt wurden. Seit die Projektfinanzierung 2017 ausgelaufen ist, hat auch die AWO keine Sozialarbeiter in Kitas mehr im Einsatz, sieht den Bedarf aber nach wie vor gegeben.
Katharina Brederlow, die Beigeordnete der Stadt Halle für Bildung und Soziales teilte auf Anfrage mit, dass in den städtischen Kitas 30 Sozialarbeiter als Erzieherinnen und Erzieher beschäftigt seien. Darüber hinaus würde die Stadt 2,75 Stellen für Sozialarbeit im Rahmen der Förderung von Familienbildung finanzieren, so Brederlow.
Kinderförderungsgesetz soll Lage verbessern
Tatsächlich könnte sich an der Lage der Kitas verbessern, meint Sozialministerin Petra Grimm-Benne (SPD). Denn mit dem Jahreswechsel ist das 2018 beschlossene Kinderförderungsgesetz in Kraft getreten. Aus Sicht der Ministerin ermögliche der neue Rahmen nun Sozialarbeiter in Kitas tätig werden zu lassen und auch Quereinsteiger für diesen Zweck einzustellen. Der Forderung nach zusätzlichen Geldern aus Landeskassen erteilte Grimm-Benne eine Absage: "Ich kenne die Forderung, dass Sozialarbeit vom Land finanziert werden soll. Aber ich sage nach wie vor: Kinderbetreuung ist eine kommunale Aufgabe."
Selbst die Übergangslösung läuft aus
Wie sich die Änderungen durch das Gesetz auf den Bedarf und die Finanzierung der Sozialarbeit tatsächlich auswirken, bleibt noch abzuwarten. Cornelia Kurowski von der Volkssolidarität ist skeptisch: "Aktuell verhandele ich mit den Landkreisen, die ja laut Kinderförderungsgesetz weiterhin für mich zuständig sind. Ich kann dort sicherlich eine Stelle reinplanen und sagen: Ich möchte eine Sozialarbeiterin oder einen Sozialarbeiter für meine Kitas haben – und dann sagen die, das sei kein anrechenbares pädagogisches Personal und treten auf die Bremse."
Etwas klarer steht es hingegen um die Zukunft des Bundesprogrammes "Frühe Chancen: Sprache und Integration": Es läuft Ende 2019 aus und könnte höchstens bis 2020 verlängert werden. Spätestens dann wird auch Simone Renhak die wenige Kita-Sozialarbeit, die sie bisher zusätzlich stemmt, nicht länger machen.
Über den AutorRoland Jäger arbeitet seit 2015 für den Mitteldeutschen Rundfunk – zunächst als Volontär und seit 2017 als Freier Mitarbeiter im Landesfunkhaus Magdeburg. Meist bearbeitet er politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Themen – häufig für die TV-Redaktionen MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE und Exakt - Die Story, auch für den Hörfunk und die Online-Redaktion. Vor seiner Zeit bei MDR SACHSEN-ANHALT hat Roland Jäger bei den Radiosendern Rockland und radioSAW erste journalistische Erfahrungen gesammelt und Europäische Geschichte und Germanistik mit Schwerpunkt Medienlinguistik an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg studiert.
Quelle: MDR/rj
Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT | MDR SACHSEN-ANHALT | 23. Januar 2019 | 12:00 Uhr