Interview Sexueller Missbrauch: "Die katholische Kirche will und muss sich ändern"

Wer in der katholischen Kirche Opfer von sexuellem Missbrauch geworden ist, kann das im Bistum Magdeburg einer Kommission aus Juristen, Medizinern und Pädagogen melden. Geleitet wird die Kommission vom Mediziner Nikolaus Särchen aus Wittenberg. Er erklärt im Interview, warum Opfer sexuellen Missbrauchs sich an die Kommission wenden sollten – und was die katholische Kirche aus dem Missbrauchsskandal gelernt hat.

Prävention vor sexuellem Missbrauch – das ist im Bistum Magdeburg kein Neuland. Seit 2002 gibt es dort eine Kommission, die dem Verdacht sexuellen Missbrauchs nachgeht. "Kommission zur Prüfung von Vorwürfen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch Geistliche und andere kirchliche Mitarbeiter für das Bistum Magdeburg" – so der offizielle Name. Leiter dieses Gremiums ist Nikolaus Särchen, Ärztlicher Direktor der Klinik für psychische Erkrankungen in der Lutherstadt Wittenberg.

Särchen ist von Beruf Psychiater und Psychotherapeut. Die Kommission leitet er in seiner Freizeit – ehrenamtlich.

MDR SACHSEN-ANHALT: Herr Dr. Särchen, warum sollten Opfer sexuellen Missbrauchs sich an Sie und Ihre Kommission wenden? Schließlich dürfte die Hemmschwelle, mit Unbeteiligten über so ein Erlebnis wie dieses zu sprechen, hoch sein.

Dr. Nikolaus Särchen: Das ist sie, ohne Frage. Opfer sollten sich an mich oder uns als Kommission wenden, weil wir völlig unabhängig vom Bistum sind. Es gibt kein Mitglied unserer Kommission, das auf irgendeiner Gehaltsliste des Bischofs steht. Wir alle haben eigene Berufe oder sind im Ruhestand. Wir können den Bischof beraten, aber genauso Betroffene beraten. Ihnen bieten wir für das Gespräch einen Raum außerhalb des Bistums an.

Wer zu der Kommission gehört Der "Kommission zur Prüfung von Vorwürfen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch Geistliche und andere kirchliche Mitarbeiter für das Bistum Magdeburg" gehören fünf Mitglieder an. Neben Nikolaus Särchen sind darunter auch zwei Juristen, eine Diplomsozialpädagogin der Polizei sowie eine Diplomheilpädagogin des Vereins "Wildwasser Magdeburg", der Opfer sexueller Gewalt berät. Gegründet wurde die Kommission 2002 vom Bistum Magdeburg selbst.

Angenommen, ein Missbrauchsopfer entschließt sich zu einem Gespräch mit Ihnen. Was passiert dann?

Wir verschaffen uns einen Eindruck von dem Fall. Wir prüfen, ob er plausibel ist. Wir lassen uns den Fall schildern, wir verschaffen uns einen Überblick über Zusammenhänge. Wir führen also Gespräche. Dazu kommt unser beruflicher Erfahrungsschatz. Bislang war es in allen Fällen würdig, sie nachzuverfolgen. Wir beraten das Opfer dann, wo es für sich selbst Hilfe bekommen kann. Und wir sprechen auch über die Möglichkeiten juristischen Beistands. Die Kommission erstellt schließlich einen Bericht und legt diesen dem Bistum und dem Bischof vor. Dann muss diskutiert werden, welche kirchenrechtlichen Konsequenzen das Bistum zieht.

Seit Gründung des Bistums Magdeburg 1991 ist jeder dieser Fälle an die Staatsanwaltschaft übergeben worden (In der sogenannten MHG-Studie wurden für das Bistum Magdeburg sieben beschuldigte Priester und ein beschuldigter Ordenspriester aufgeführt. Außerdem wurden 18 Missbrauchsopfer ermittelt. Die MHG-Studie hatte auf Antrag der Deutschen Bischofskonferenz den Missbrauchsskandal untersucht; Anm. d. Red.).

Nichtsdestotrotz wird es eine Dunkelziffer geben.

Das ist richtig. Diese Dunkelziffer gibt es in allen Bereichen sexuellen Missbrauchs, auch außerhalb der Kirche. Wie hoch die Dunkelziffer im Bistum Magdeburg ist, lässt sich schwer schätzen. Wir stellen fest, dass Opfer sich häufig erst dann melden, wenn der Täter verstorben ist. Dazu kommt, dass Täter häufig einen Schutz erfahren. Auch das ist kein Phänomen, das nur auf die Kirche zutrifft. Täter stehen häufig mitten im gesellschaftlichen Leben, Kinder und Jugendliche dagegen sind in einem Abhängigkeitsverhältnis. Es ist schwierig, diese Schwelle zu überschreiten.

Es gibt Diözesen in Deutschland, die wenig Interesse an einer Aufarbeitung haben. Das ist im Bistum Magdeburg anders.

Sie sprachen an, dass Ihre Kommission unabhängig ist. Sie sagen aber auch, dass die Mitglieder auf Vorschlag des Bistums Teil der Kommission sind. Wie unabhängig kann so eine Kommission arbeiten, wenn das Bistum oder der Bischof Einfluss auf die Besetzung haben?

Der Bischof ist der Hirte für seine Diözese (Bezirk, der einem Bischof unterstellt ist; Anm. d. Red.). Wir als Kommission aber treffen uns unabhängig und unterbreiten genauso unabhängig Vorschläge. Wir können dem Bischof auch sagen: Wir sehen dieses und jenes anders. Die Zusammenarbeit zwischen Bistum und Kommission ist allerdings sehr vertrauensvoll. Das Bistum hat ein hohes Interesse, das Thema anzupacken. Es gibt auch Diözesen in Deutschland, die wenig Interesse an einer Aufarbeitung haben. Das ist hier anders.

Porträtaufnahme von Dr. Nikolaus Särchen an seinem Schreibtisch in der Alexianer-Klinik in Wittenberg
Nikolaus Särchen ist Ärztlicher Direktor der Alexianer-Klinik Bosse in Wittenberg. Bildrechte: MDR/Luca Deutschländer

Über Nikolaus Särchen Nikolaus Särchen ist seit 2003 Mitglied in der "Kommission zur Prüfung von Vorwürfen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch Geistliche und andere kirchliche Mitarbeiter für das Bistum Magdeburg". Särchen ist damals auf Vorschlag von Bischof Leo Nowak Mitglied des Gremiums geworden. Seit einigen Jahren leitet der gläubige Katholik die Kommission. Von Beruf ist Särchen Psychiater und Psychotherapeut. Er ist seit fast einem Vierteljahrhundert Chefarzt der Klinik für psychische Erkrankungen an der Alexianer-Klinik Bosse in Wittenberg.

Seit im Herbst vergangenen Jahres die MHG-Studie zu sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche vorgestellt wurde, werden Veränderungen bei der Kirche gefordert. Hat sich im Bistum Magdeburg schon etwas getan?

Das Bistum Magdeburg verfolgt schon seit Anfang der 2000er Jahre die Strategie: kein Schutz von Tätern im kirchlichen Raum. Seit Gründung des Bistums 1991 gibt es ein hohes Interesse, Straftäter zu verfolgen und nicht zu akzeptieren.

Trotzdem verlangen viele, dass sich die Strukturen innerhalb der katholischen Kirche spürbar verändern.

Mit Veränderung kann man so schnell nicht rechnen. Die MHG-Studie wurde vorigen Herbst veröffentlicht. Der wesentliche Bestandteil der Studie ist: Die bisherige Strategie der katholischen Kirche – also: "Wir arbeiten präventiv und gucken, ob wir Opfer besser schützen und Täter besser stellen können" – reicht nicht aus. Es handelt es sich um ein Systemproblem. Dieses System kann man nicht innerhalb von ein paar Monaten verändern.

Da sind ganz viele Aspekte zu berücksichtigen. Das betrifft nicht nur den Klerus an sich, sondern viele Menschen in der Kirche. Es betrifft die Rollenverteilung. Interessant ist, dass jetzt sehr lebhaft diskutiert wird – und zwar in einer Offenheit, wie es sie vorher wahrscheinlich nicht gab.

Welche Veränderungen schweben Ihnen bei der Rollenverteilung konkret vor?

Es wird zum Beispiel über die Rolle der Frau in der katholischen Kirche diskutiert – in dem Sinne, dass Frauen aktive Ämter innerhalb der Kirche wahrnehmen. Aber auch über Veränderungen beim Klerus. Das alles sind große, gravierende Fragen. Man kann nicht nur sagen: Wir kippen das alles. Nein, all das muss neu in den Gemeinden gedacht werden. Und neu denken schafft man nicht über Nacht.

Lassen Sie uns nach vorn blicken. Im Bistum Magdeburg gibt es eine Reihe von Präventionsangeboten, um sexuellen Missbrauch künftig zu vermeiden. Wie sieht diese Prävention aus?

Das Bistum versucht, die Gemeinden sehr aktiv einzubeziehen. Viele Gemeinden arbeiten inzwischen an ihrer Geschichte. Das hat dazu geführt, dass sich jüngere Opfer oder deren Eltern eher als früher bei uns gemeldet haben.

Außerdem gibt es sogenannte Präventionsschulungen. Auch Bischof Gerhard Feige aus dem Bistum Magdeburg hat solch eine Schulung vor kurzem besucht.

Bischof Gerhard Feige
Bischof Gerhard Feige hat kürzlich auch eine Präventionsschulung besucht. (Archivfoto) Bildrechte: IMAGO

Genau. Diese Schulungen gibt es seit vielen Jahren. Ziel ist, das Thema sexuellen Missbrauch in den Gemeinden erst einmal bekannt zu machen. Was ist Missbrauch, wie sieht er aus? Es geht dann um Merkmale, an denen man möglicherweise erkennt, dass ein Opfer zum Opfer geworden ist. Und darum, wie Täter sich verhalten. Täter und Opfer stehen häufig in einer Beziehung zueinander, sie kennen sich.

Zusätzlich werden in diesen Schulungen Risikosituationen besprochen. Das klingt erst einmal nach banalen Standards – etwa, dass es getrennte Sanitärbereiche gibt. Dazu werden Tabus besprochen. Tabu ist zum Beispiel, dass Erwachsene bei Kinder- und Jugendfahrten zum gleichen Zeitpunkt wie Kinder und Jugendliche duschen.

Telefonberatung für Missbrauchsopfer Opfer von Missbrauch können sich anonym und kostenfrei beim Hilfeportal sexueller Missbrauch melden. Die Telefonnummer ist 0800 22 55 530. Unter der Nummer sind Seelsorger montags, mittwochs und freitags zwischen 9 Uhr und 14 Uhr sowie dienstags und donnerstags zwischen 15 Uhr und 20 Uhr zu erreichen.

Hat die katholische Kirche Ihrer Meinung nach aus der Vergangenheit gelernt?

Ja. Sie hat gelernt, dass sexueller Missbrauch ein Thema ist, das sie teilweise institutionell unterstützt oder sogar ignoriert hat. Das Signal ist: Die Kirche will und muss sich ändern. Wie das aussieht, müssen wir abwarten. In einer alten und großen Kirche wie der katholischen Kirche sind 20 Jahre wenig Zeit. In diesen 20 Jahren hat es aber viele Diskussionen gegeben. Und viele sagen inzwischen: So wie früher wird es nicht mehr sein. Diesen Lernprozess hat die Kirche durchlaufen.

Und seit 2002 sind im Vatikan Päpste, die sagen: Wir werden dieses Thema aufarbeiten. Das ist gut.

Im Vatikan endet am Sonntag ein Treffen von fast 200 Geistlichen und den Vorsitzenden der Bischofskonferenzen, zu dem Papst Franziskus eingeladen hat. Zentrales Thema war die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle in der Kirche. Stecken Sie Hoffnungen in diese Konferenz?

Große Hoffnungen sogar. Ich weiß aber auch, dass sich nächste Woche noch nichts verändert haben wird. Der Papst setzt ein Zeichen: Wir als Weltkirche müssen alle zusammenholen und das Thema sexuellen Missbrauch besprechen. Das ist ja kein deutsches Problem. Es gab in Irland, den USA oder Australien sexuellen Missbrauch. Im Prinzip betrifft das die ganze Welt. Die Konferenz kann ein erster Impuls sein, wahrscheinlich werden weitere Schritte folgen. Aber: Wir sprechen über eine Weltkirche mit vielen Nuancen. Nicht alle werden sagen: Hurra, jetzt gehen wir einen neuen Weg.

Vielen Dank für das Gespräch.

Die Fragen stellte Luca Deutschländer.

Quelle: MDR/ld

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 24. Februar 2019 | 19:00 Uhr

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