Von Patienten angegriffen Rettungskräfte trainieren Selbstverteidigung
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In Sachsen-Anhalt werden immer wieder Lebensretter von Patienten angegriffen – sowohl verbal als auch körperlich. Rettungskräfte in Merseburg haben deshalb einen Selbstverteidigungskurs auf die Beine gestellt. Ein Besuch beim Training.
Erstmal Schuhe ausziehen. Wenn Rettungskräfte in der Kampfsportschule Fight Academy in Merseburg Selbstverteidigung trainieren, dann auf Socken. Der Trainingsraum ist mit Matten ausgelegt, auf denen Schuhe nicht erlaubt sind. Die Matten sind wichtig. Denn in den anderthalb Stunden Training am späten Montagnachmittag landen alle der etwa 15 Teilnehmer ein ums andere Mal auf dem Boden.
Mehr oder weniger sanft zum Glück, denn der Ernstfall wird hier nur geprobt. Aber viele der Teilnehmer am Selbstverteidigungskurs – Notärzte, Schwestern vom Notfallzentrum Merseburg sowie Rettungskräfte vom Deutschen Roten Kreuz (DRK) und dem Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) – haben einen Ernstfall schon erlebt. Die Lebensretter wurden bei Einsätzen angepöbelt, bedroht, sogar körperlich angegriffen – von Patienten oder deren Angehörigen. Von Menschen also, denen die Rettungskräfte eigentlich helfen wollen.
Immer mehr Straftaten gegen Retter
Die Angriffe auf Einsatzkräfte in Sachsen-Anhalt haben in den vergangenen Jahren zugenommen. 78 Straftaten sind laut Polizeilicher Kriminalstatistik allein 2017 angezeigt worden, darunter vor allem Körperverletzungen. 2012 waren es 33 Fälle. Den Rettungskräften beim DRK-Kreisverband Merseburg-Querfurt ist es zu viel geworden: Sie fragten ihren Kollegen mit Kampfsporterfahrung, ob er ihnen Selbstverteidigung beibringen könnte.
Thomas Pötzsch arbeitet beim DRK als Notfallsanitäter. Auch er ist bereits im Rettungsdienst angegriffen worden. Bisher ging es für ihn aber immer glimpflich aus: Er ist seit 20 Jahren Kampfsportler und leitet Selbstverteidigungskurse in Merseburg. Seit zwei Jahren auch einen speziell für Rettungskräfte – und das ehrenamtlich. Seine Chefs vom DRK und von der Kampfsportschule unterstützten den Kurs, sagt er. Die Fight Academy mit dem Raum und das DRK mit Weiterbildungsstunden, die den Kursteilnehmern gutgeschrieben werden.
Selbstverteidigung ist nur ein Element des Kurses
Zweimal im Monat bietet Pötzsch den Kurs an. Das sei mit dem Dienstplan vereinbar. "Mehr wäre natürlich noch besser, aber das kriegen wir nicht hin." Im Kurs lerne man nicht nur, sich zu verteidigen: "Das Wichtigste würde ich darin sehen, dass man lernt, wie man sich verhält. Wenn man zum Beispiel in eine Wohnung kommt, dass man schon den Blick dafür kriegt, wo gefährliche Gegenstände liegen. Oder, wenn es droht, zu eskalieren, dass man die Tür im Rücken hat und nicht in die äußere Ecke geht." Denn Weglaufen sei sowieso die sicherste Art der Verteidigung.
Das Wichtigste würde ich darin sehen, dass man lernt, wie man sich verhält.
Erst wenn die Deeskalation scheitere, gehe es um Selbstverteidigung, erklärt Pötzsch zu Beginn des Trainings den Kursteilnehmern. Nach dieser kurzen Einleitung und einer Aufwärmung geht es dann auch gleich zur Sache. Wenn eine Situation zu eskalieren drohe, müsse der Körper darauf ausgerichtet werden, so Pötzsch. Es komme auf die richtige Haltung an: gebeugte Knie, ein Bein nach hinten für einen stabileren Stand, Arme nach vorne und nicht verschränken, erklärt Pötzsch und macht die entsprechend Bewegungen gleich vor, während er sie beschreibt. Die Teilnehmer stehen im Kreis um ihn herum und sehen konzentriert zu.
Mit Spaß dabei
Pötzsch macht mit einigen Griffen weiter, die den Gegner zu Boden bringen können. "Wir sind ja die Retter, wir sind die Guten, wir wollen niemanden schwer verletzen. Aber wir wollen uns natürlich verteidigen", betont er. Er spricht mit ruhiger, deutlicher Stimme. Pötzschs Frau, die Notärztin in Halle ist und ebenfalls am Kurs teilnimmt, spielt eine "Angreiferin". Gemeinsam mit ihr macht er die Griffe vor.
Wir sind die Retter, wir sind die Guten, wir wollen niemanden schwer verletzen. Aber wir wollen uns natürlich verteidigen.
Danach tun sich die Teilnehmer paarweise zusammen und üben. Pötzsch geht durch den Raum, korrigiert Handbewegungen und gibt Tipps. Erste "Erfolge" sind schnell zu sehen: Einer nach dem anderen landet mit einem leichten Knall auf der Matte. "Fetzt", meint eine Teilnehmerin – und das, obwohl sie gerade zu Boden gegangen ist.
Die Rettungskräfte haben sichtlich Spaß an den Übungen. Durch das Training gehen sie mit mehr Selbstvertrauen in Einsätze, sagt eine Notfallsanitäterin. Andere Teilnehmer betonen, dass sie auch den sportlichen und teambildenden Aspekt des Kurses schätzen.
Alkohol, Drogen, fehlender Respekt
Welche Einsätze besonders gefährlich für Rettungskräfte, sei so nicht festzumachen, sagt Pötzsch. Es seien die unterschiedlichsten Situationen. Feiern, bei denen viel Alkohol im Spiel sei, könnten riskant sein. Aber es könne auch passieren, dass man von Angehörigen des Patienten bedrängt werde, weil man vermeintlich nicht schnell genug sei. Alkohol und Drogen spielten zwar eine Rolle, aber es fehle auch an Respekt gegenüber den Rettern: "Es ist auch wirklich die Mentalität der Menschen. Die ändert sich uns gegenüber. Komischerweise."
Wenn Rettungskräfte im Dienst angegriffen werden, werde das in der Nachbesprechung des Einsatzes thematisiert, sagt Pötzsch. Eine offizielle Stelle, an die sich Betroffene für weitere Hilfe wenden könnten, gibt es laut Pötzsch aber nicht. Bei der Polizei können die Angreifer allerdings angezeigt werden.
Selbstverteidigung stärker in Sanitäter-Ausbildung integrieren
Der Leiter der Landesrettungsschule in Halle, an der Sanitäter ausgebildet werden, sei auch auf den Kurs aufmerksam geworden. "Er wollte kommen und mittrainieren", erzählt Pötzsch. Vielleicht werde Selbstverteidigung dann auch noch stärker in die Ausbildung integriert. Bisher kann auf das Thema nur am Rande eingegangen werden. "Nötig ist es", findet Pötzsch. Er schätzt, dass es allein im Raum Merseburg mittlerweile etwa einmal im Monat zu körperlichen Übergriffen kommt. Beleidigungen hörten die Retter nahezu täglich.
Die Landesregierung erklärte im Mai 2018 auf eine Kleine Anfrage der Grünen zu Gewalt gegen Rettungskräfte, dass die "Aus- und Fortbildung im Umgang mit eskalierenden Einsatzsituationen […] den jeweiligen Arbeitgebern bzw. Dienstherren" obliege. Die einzelnen Rettungsdienste müssen die Schulung ihrer Mitarbeiter also selbst organisieren. Pötzsch sagt, er würde es gut finden, wenn Selbstverteidigung nicht nur vom DRK in Merseburg, sondern auch von anderen Diensten angeboten würde. Denn: "Es betrifft nicht nur uns, es betrifft eigentlich alle."
Über die Autorin
Maria Hendrischke arbeitet seit Mai 2017 als Online-Redakteurin für MDR SACHSEN-ANHALT in Halle und in Magdeburg. Ihre Schwerpunkte sind Nachrichten aus dem Süden Sachsen-Anhalts, Politik sowie Erklärstücke und Datenprojekte. Ihre erste Station in Sachsen-Anhalt war Magdeburg, wo sie ihren Journalistik-Bachelor machte. Darauf folgten Auslandssemester in Auckland und Lissabon sowie ein Masterstudium der Kommunikationsforschung mit Schwerpunkt Politik in Erfurt und Austin, Texas. Nach einem Volontariat in einer Online-Redaktion in Berlin ging es schließlich zurück nach Sachsen-Anhalt, dieses Mal aber in die Landeshauptstadt der Herzen – nach Halle. Ihr Lieblingsort in Sachsen-Anhalt sind die Klausberge an der Saale. Aber der Harz ist auch ein Traum, findet sie.
Quelle: MDR/mh
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 10. Januar 2019 | 19:00 Uhr