Zwei CDU-Politiker und ihre Denkschrift "So fährt die Karre gegen den Baum" – ein Besuch in Bitterfeld

27. Juni 2019, 18:34 Uhr

Lars-Jörn Zimmer war einer der beiden CDU-Politiker aus Sachsen-Anhalt, die mit ihrer Denkschrift bundesweit für Aufregung gesorgt haben. Was denken die Bürger in seinem Wahlkreis? Ein Besuch in Bitterfeld-Wolfen, wo sich die Menschen von der Politik abgehängt fühlen, viele AfD wählen – und einige von Zimmer enttäuscht sind.

Daniel George
Bildrechte: MDR/Jörn Rettig

Was die CDU noch von der AfD trennt? 220 Meter und eine Kreuzung. Zumindest auf der Walther-Rathenau-Straße in Bitterfeld ist das so. Hausnummer 16 gehört zum Bürgerbüro der Union, die 62 zur AfD. Schon seit Längerem, doch in diesen unruhigen Zeiten taugen selbst Adressen als Sinnbild.

"Lars-Jörn Zimmer, Mitglied des Landtages Sachsen-Anhalt" steht auf dem Fenster in der Walther-Rathenau-Straße 16 geschrieben. Hinter den Jalousien herrscht Dunkelheit. Die Eingangstür bleibt verschlossen an diesem Montagnachmittag, eine schriftliche Anfrage unbeantwortet. Niemand geht ans Telefon.

Keine Zusammenarbeit mit der AfD! Oder doch?

Ohne viel zu sagen, haben Zimmer und sein Unions-Kollege Ulrich Thomas, beide Fraktions-Vizechefs, die Politik auch außerhalb Sachsen-Anhalts in Aufruhr versetzt. Empörung erzeugte in den vergangenen Tagen das, was sie geschrieben haben: eine sogenannte "Denkschrift" als Reaktion auf die schweren Verluste bei der Kommunal- und Europawahl.

Darin stand: "Es muss wieder gelingen, das Soziale mit dem Nationalen zu versöhnen." Und Thomas sagte gegenüber der Mitteldeutschen Zeitung zu einer möglichen Zusammenarbeit mit der AfD: "Wir sollten eine Koalition jedenfalls nicht ausschließen. Stand jetzt ist sie nicht möglich – wir wissen aber nicht, wie die Lage in zwei oder fünf Jahren ist." 2021 ist in Sachsen-Anhalt Landtagswahl.

Stellv. Fraktionsvorsitzender Ulrich Thomas (CDU,Sachsen Anhalt) und Lars Jörn Zimmer (CDU,Sachsen Anhalt) - Fraktionssitzung der CDU vor der Landtagssitzung im Landtag von Sachsen Anhalt
Ulrich Thomas (l.) und Lars-Jörn Zimmer haben mit ihrer Denkschrift für Aufregung gesorgt. Bildrechte: imago images / Christian Schroedter

Die Landeschefs und der Bundesvorstand distanzierten sich. Zuspruch? Fehlanzeige. Es gibt keine Zusammenarbeit mit der AfD – das besagt ein Parteibeschluss. Offene Fragen bleiben trotzdem.

Wollen Zimmer und Thomas wirklich mit der AfD zusammenarbeiten oder wurden sie nur missverstanden? Was bezwecken sie mit ihrer Denkschrift? Und: Handelt es sich um Einzelmeinungen oder ist das Anbandeln mit der AfD in ihren Wahlkreisen salonfähig geworden?

"Eine rein populistische Aktion"

Lars Jörn Zimmer aus Bitterfeld – 48 Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder, Diplom-Betriebswirt – könnte am besten auf die offenen Fragen antworten. Will er offensichtlich aber nicht. Mehrere Anfragen bleiben unbeantwortet.

Zimmer teilte am Mittwoch lediglich ein Statement des CDU-Generalsekretärs Sven Schulze und des CDU-Landesvorsitzenden Holger Stahlknecht auf Facebook. "Einfach mal die Klappe halten", stand dort mit Bezug auf die SPD geschrieben, die eine Distanzierung von der Denkschrift gefordert hatte. Ein rauer Ton.

Matthias Egert, Stadt- und Kreisvorsitzender der CDU und Zörbiger Bürgermeister, erklärt auf Anfrage von MDR SACHSEN-ANHALT nur, dass es bereits eine Erklärung des Landesvorstands gegeben habe, "die umfänglich die Position klarstellt. Dem wäre aus meiner Sicht nichts hinzuzufügen". Die Denkschrift, sie ist gerade das meist diskutierte Thema in der Partei und der Region. Doch öffentlich darüber reden wollen die wenigsten.

Wenige Stunden, nachdem die Aussagen zur möglichen Koalition mit der AfD am vergangenen Donnerstag veröffentlicht waren, schrieb Christian Götschel einen wütenden Beitrag auf der Facebook-Seite von Zimmer. "Eine Antwort habe ich bis heute nicht bekommen", sagt der 49-Jährige aus Bitterfeld-Wolfen, aber: "Damit habe ich auch nicht gerechnet."

Götschel hat mal beim Neujahrsempfang der CDU in Bitterfeld Gitarre gespielt. Der Freizeit-Musiker und Berufs-Anwalt gehört keiner Partei an. Politisch verortet er sich "eher links". Zimmer hat dieselbe Schule besucht wie er, war an der "EOS Ernst Thälmann" eine Klassenstufe unter ihm. Die Kinder der Familien kennen sich. Nun steht der 49-Jährige exemplarisch für die Menschen in Anhalt-Bitterfeld, die enttäuscht sind von Lars-Jörn Zimmer und der Denkschrift.

Details zur Umfrage

In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey für t-online.de sprachen sich die Anhänger der Union klar gegen eine Koalition mit der AfD ab. Civey berücksichtigte für das Gesamtergebnis die Antworten von 2.016 repräsentativ ausgewählten Befragten vom 20. bis 24. Juni 2019. Das Ergebnis ist repräsentativ für wahlberechtigte CDU/CSU-Anhänger. Der statistische Fehler der Gesamtergebnisse beträgt 3,3 Prozentpunkte.

"Lars-Jörn und ich sind uns über die Jahre immer wieder begegnet und haben diskutiert", erzählt Götschel während des Treffens mit MDR SACHSEN-ANHALT. Erst Ende Mai standen beide gemeinsam vor dem Wahllokal. "Da haben wir über die Tendenzen bei uns in der Region gesprochen, was die AfD angeht und was die Ursachen sind. Und deshalb hat mich das jetzt auch so maßlos aufgeregt, als ich das gelesen habe."

Dabei stört Götschel gar nicht unbedingt die Aussage, eine Zusammenarbeit mit der AfD nicht auszuschließen. "Man muss sich inhaltlich miteinander auseinandersetzen. Dieses undifferenzierte 'Wir-reden-nicht-mit-denen' finde ich doof", sagt er. "Das undifferenzierte in Aussicht stellen, das man koalieren könnte, aber mindestens genau so. Ohne Bedingungen zu stellen, geht das gar nicht." Für Götschel ist klar: "Sich hinzustellen und sich dem rechten Spektrum anzubiedern, vielleicht aus Angst vor Machtverlust, gerade nachdem man in Wahlen und Umfragen verloren hat, ist eine rein populistische Aktion."

Natürlich sind die Menschen hier enttäuscht von der Politik. Sie glauben nicht mehr an die da oben. Gerade die CDU hat es in den letzten Jahren verpasst, eine Politik zu machen, die den Bürgern signalisiert, dass sie ihre Bedürfnisse verstehen.

Christian Götschel über Bitterfeld-Wolfen

"Offener und warmherziger Mensch"

Bei den Kommunalwahlen im Mai dieses Jahres blieb die CDU im Landkreis Anhalt-Bitterfeld zwar stärkste Partei. Allerdings verloren die Christdemokraten im Vergleich zu 2014 mehr als sieben Prozentpunkte. Die AfD dagegen konnte einen Zugewinn von 13 Prozentpunkten im Vergleich zur vergangenen Kommunalwahl verzeichnen, wurde mit 18,6 Prozent zweitstärkste Kraft.

Lars-Jörn Zimmer sitzt seit 2002 im Landtag, engagiert sich in seinem Wahlkreis. Außerdem ist er Vorsitzender im Tourismusverband Sachsen-Anhalt. Als "offenen und warmherzigen Menschen", der "sich für seine Heimat und Mitmenschen" und auch die jüngere Generation einsetzt, beschreibt Lisa Schiller den 48-Jährigen. Schiller ist Mitglied der Jungen Union Anhalt-Bitterfeld und sitzt mit Zimmer im Ortschaftsrat Bitterfeld.

Erschrocken war ich davon, dass man sich den Inhalten der AfD annähern sollte.

Lisa Schiller, Junge Union Anhalt-Bitterfeld

"Überrascht darüber, dass es eine Denkschrift gab, war ich nicht", sagt sie. "Das Ergebnis bei der letzten Wahl verlange "einen gewissen Kurswechsel". Doch: "Erschrocken war ich davon, dass man sich den Inhalten der AfD annähern sollte." Wichtiger wäre es für die CDU dagegen, "das eigene Profil wieder zu schärfen und Inhalte für alle Generationen effektiv zu kommunizieren und umzusetzen."

"Die machen doch eh, was sie wollen"

Als "schmutzigste Stadt Deutschlands" wurde Bitterfeld von SPIEGEL ONLINE vor drei Jahren betitelt. Nach dem starken Abschneiden der AfD im Wahlkreis sorgte eine Umfrage unter den Bürgern für heftige Kritik. Die Befragten äußerten sich fremdenfeindlich und sprachen von Perspektivlosigkeit.

Zu einseitig sei die Darstellung damals gewesen, sagt Christian Götschel. "Wenn du mittags um 12 auf den Marktplatz gehst, dann triffst du da eben nur alte Leute oder Arbeitslose", sagt er. "Das hat unsere Stadt in ein sehr schlechtes Licht gerückt."

Auch an diesem frühen Montagnachmittag tummeln sich auf dem Marktplatz vor allem Rentner. Zwei sitzen auf einer Bank. Der eine sagt, er interessiere sich überhaupt nicht mehr für Politik. "Die machen doch eh, was sie wollen." Und der andere meint: "Ich bin CDU-Wähler, aber mir ist mittlerweile egal, wer mit wem koaliert. Die versprechen immer viel, aber ändern tut sich doch nichts."

Wenn Bürger zurückgelassen werden

Gewiss, auch diese Eindrücke sind nicht repräsentativ. Doch Götschel gibt zu: "Natürlich sind die Menschen hier enttäuscht von der Politik. Sie glauben nicht mehr an die da oben." Viele Häuser stehen leer, die Jugend sieht hier wenig Perspektive. Und mit dem Erbe der Chemieindustrie hat die Region noch immer zu kämpfen.

"Gerade die CDU hat es in den letzten Jahren verpasst, eine Politik zu machen, die den Bürgern signalisiert, dass sie ihre Bedürfnisse verstehen", sagt Christian Götschel." Es ist doch klar, dass man nicht alles gleich umsetzen kann. Aber dann kann man doch erklären, warum nicht."

Das sei allerdings nicht geschehen. "Es gibt zu viele Nicht-Abgeholte, zurückgelassene Bürger, die angestauten Frust haben und keine andere Möglichkeit sehen, den zu kanalisieren, in dem sie rotzfrech und mit Parolen, vor allem der AfD, gegenüber der Obrigkeit auftreten – und als solche stellt sich die CDU in Sachsen-Anhalt ja dar", sagt Götschel. "Dieses arrogante Wegwischen der Probleme, ohne zum Beispiel Hartz-4-Empfänger wirklich ernst zu nehmen, so fährt die Karre gegen den Baum – kommunal auf jeden Fall."

Daniel George
Bildrechte: MDR/Jörn Rettig

Über den Autor Daniel George wurde 1992 in Magdeburg geboren. Nach dem Studium Journalistik und Medienmanagement zog es ihn erst nach Dessau und später nach Halle. Dort arbeitete er für die Mitteldeutsche Zeitung.

Vom Internet und den neuen Möglichkeiten darin ist er fasziniert. Deshalb zog es ihn im April 2017 zurück in seine Heimatstadt, in der er seitdem in der Online-Redaktion von MDR SACHSEN-ANHALT arbeitet – als Sport-, Social-Media- und Politik-Redakteur, immer auf der Suche nach guten Geschichten, immer im Austausch mit unseren Nutzern.

Quelle: MDR/dg

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 24. Juni 2019 | 19:00 Uhr

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