Frau Kaiyama und Frau Ankundinova von den Vereinen LAMSA/DaMigra zum Interview in Dessau
Mika Kaiyama vom LAMSA (links) und Daria Ankudinova von DaMigra (rechts) leben seit Jahrzehnten in Sachsen-Anhalt, haben jedoch kein Wahlrecht. Bildrechte: MDR/Ann-Kathrin Canjé

Ausländische Staatsbürgerschaft Wenn Wählen keine Option ist: Zwei Sachsen-Anhalterinnen ohne Wahlrecht erzählen

03. Juni 2021, 19:14 Uhr

Die Städte in Sachsen-Anhalt sind voll von Wahlplakaten, die Berichterstattung geprägt von Spitzenkandidatinnen und Wahlprogrammen. Das Wahlrecht ist für die meisten Menschen in Deutschland selbstverständlich. Doch es gibt Personen aus sogenannten Drittstaaten, die nicht mitwählen dürfen. MDR SACHSEN-ANHALT hat mit zwei solcher Frauen über ihre Erfahrungen und Forderungen gesprochen.

Ann-Kathrin Canjé
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"Und, weißt du schon, wen du wählst?" Auf diese Frage haben die Sachsen-Anhalterinnen Mika Kaiyama und Daria Ankudinova die gleiche Antwort: niemanden. Sie sind aber keine überzeugten Nichtwählerinnen – sie dürfen in Deutschland nicht wählen. Und das, obwohl die Japanerin Kaiyama und die Russin Ankudinova schon Jahrzehnte hier leben. Was treibt die beiden im Superwahljahr um? Im Gespräch erklären sie, warum sie gerne wählen würden und wieso es gar nicht so einfach ist, die deutsche Staatsbürgerschaft zu bekommen.

Wir treffen uns im Büro des Landesnetzwerks der Migrantenorganisationen Sachsen-Anhalt (LAMSA) in Dessau-Roßlau, dessen stellvertretende Geschäftsführerin Kaiyama ist. Daria Ankudinova und sie haben sich 2019 bei einer Podiumsdiskussion in Halle kennengelernt. Ankudinova ist im Dachverband der Migrantinnenorganisationen (DaMigra) tätig.

Das ist LAMSA

Das Landesnetzwerks der Migrantenorganisationen Sachsen-Anhalt (LAMSA) wurde 2008 in Dessau-Roßlau gegründet und will die Integration von Migrantinnen und Migranten in Sachsen-Anhalt nachhaltig fördern. So veranstaltet LAMSA auch etwa "Partizipation ohne Wahlzette", um Menschen, die offiziel nicht wählen dürfen, trotzdem eine Stimme zu geben.

Das ist DaMigra

DaMigra ist ein herkunftsunabhängiger und frauenspezifischer Dachverband von Migrantinnenorganisationen auf Bundesebene. Der Verein ist nach eigenen Angaben parteipolitisch, weltanschaulich sowie konfessionell unabhängig und setzt sich seit 2014 für die Interessen von Migrantinnen und Migranten ein. In Bezug auf das Wahlrecht für migrantische Menschen hat DaMigra 2020 ein Positionspapier veröffentlicht.

Mika Kaiyama und Daria Ankudinova auf dem Schlossplatz in Dessau 4 min
Mika Kaiyama und Daria Ankudinova auf dem Schlossplatz in Dessau Bildrechte: MDR/Ann-Kathrin Canjé
4 min

MDR FERNSEHEN Do 03.06.2021 10:28Uhr 04:14 min

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Wahlsonntag ohne die Mutter

Frau Kaiyama und Frau Ankundinova von den Vereinen LAMSA/DaMigra zum Interview in Dessau
Mika Kaiyama lebt seit 30 Jahren in Dessau-Roßlau. Bildrechte: MDR/Ann-Kathrin Canjé

Wenn ein Wahlsonntag ansteht, dann wirft sich Mika Kaiyamas Familie – ihr Mann und ihre zwei Kinder – in schicke Kleidung. Dann verabschieden sich die drei von ihr, um ohne sie zum Wahllokal zu gehen. Denn obwohl Kaiyama schon seit 30 Jahren in Deutschland lebt, darf sie nicht an der Wahl teilnehmen. Das sei manchmal ganz schön emotional: "Ich kann politische Entscheidung nicht mitbestimmen, obwohl diese mich ja auch unmittelbar betreffen. Das ist natürlich eine ganz schwierige Situation, wenn man sich immer politisch engagieren möchte und sich um gesellschaftliche Integration bemüht."

Kurz nach der Wende zog sie aus Österreich – statt zurück in ihr Heimatland Japan zu kehren – nach Ostdeutschland für eine Stelle am Theater Zwickau. Sie wollte die intensive, historische Nachwendezeit vor Ort miterleben. Das war 1991. Bis heute ist sie in Deutschland geblieben, ihre Kinder sind in Dessau-Roßlau geboren und groß geworden.

Von der Wahl ausgrenzt und ausgeschlossen

Daria Ankudinovas Geschichte ist anders und trotzdem ähnlich. Sie wuchs in Russland auf und ist 2009 für einen Forschungsaufenthalt an die Universität Leipzig gekommen. Da hat es ihr gleich so gut gefallen, dass sie für ein Promotionsstudium geblieben ist. Später zog sie nach Halle.

Wenn ich auf der Straße angesprochen werde, von Parteimitgliedern, dann sage ich direkt: 'Mich betrifft das nicht. Ich habe kein Wahlrecht in diesem Land.'

Daria Ankudinova

Für Ankudinova ist ihr fehlendes Wahlrecht eine Enttäuschung: "Ich fühle mich tatsächlich ausgegrenzt und ausgeschlossen. Also klar, ich habe ein Wahlrecht in Russland, aber das spielt für mich keine Rolle, weil mein Lebensmittelpunkt seit langem in Deutschland ist. Meine Arbeit und mein Freundeskreis ist hier. Ich fühle mich als Teil dieser Gesellschaft, bringe mich ein, arbeite. Natürlich zahle ich auch Steuern und ich habe ein Recht, mitzuentscheiden."

Foto aus Frau Ankudinovas Ankunftszeit in Leipzi
Daria Ankudinova kam 2009 nach Leipzig. Bildrechte: Daria Ankudinova

Auszug zum Thema "Ausländerwahlrecht" vom BMI

"Das Wahlrecht, mit dem das Volk die ihm zukommende Staatsgewalt ausübt, setzt nach der Konzeption des Grundgesetzes die Eigenschaft als Deutscher voraus. Nach Art. 20 GG ist das Staatsvolk der Bundesrepublik Deutschland Träger und Subjekt der Staatsgewalt. Dieser Grundsatz gilt […] auch für die Länder und Kommunen. Das Grundgesetz schließt damit die Teilnahme von Ausländerinnen und Ausländern an Wahlen sowohl auf der staatlichen als auch auf der kommunalen Ebene grundsätzlich aus (vgl. BVerfGE 83, 37, 59 ff.)."

Wahlrecht für Identifikation mit Deutschland

Mika Kaiyama glaubt, dass viele Deutsche gar nicht darüber informiert seien, wie das Wahlrecht für Ausländerinnen und Ausländer geregelt ist. Dabei sei es gerade für einen Integrations- und Partizipationsprozess ihrer Meinung nach wichtig, mitwählen zu dürfen:

Eine Identifikation mit der neuen Heimat, mit dem neuen politischen System funktioniert am besten durch die aktive Beteiligung der Betroffenen.

Mika Kaiyama

Doch den meisten bliebe das verwehrt. Kaiyama beschreibt, was Menschen erleben, nachdem sie nach Deutschland migriert sind und sich eingelebt haben, gegebenenfalls wählen wollen: "Dann gibt es ein klares Signal vom Staat: bis dahin, aber nicht weiter. Das ist so ein Punkt, wo diese emotionale Identifikation mit Deutschland so ein bisschen schwierig und sichtbar wird."

Mehr als nur ein Wahlzettel

Was würde es für die beiden Frauen bedeuten, wählen zu können? Was würde sich verändern? Für Daria Ankudinova ist klar: Sie hätte das Gefühl, mitbestimmen zu können, nicht mehr nur fremdbestimmt zu sein und nur für Fragen herzuhalten, die die Migration beträfen. "Es wird oft gedacht, dass sich die Person, die aus einem anderen Land kommt, dann nur mit der Frage von etwa Rassismus und Migration beschäftigt. Aber natürlich sind wir als migrierte Personen oft auch Expertinnen in diversen Bereichen."

Natürlich interessiert uns auch, in welcher Stadt wir wohnen, welche Kulturangebote es gibt und welche gesellschaftlichen Bereiche wir mitgestalten.

Daria Ankudinova

Für Mika Kaiyama geht es auch um mehr als einen Wahlzettel und den symbolischen Akt des Wählens. Denn das Mitbestimmungsrecht, zunächst auf kommunaler Ebene, habe für sie auch Auswirkungen auf alltägliche Dinge – wie die Müllentsorgung oder Kindergartengebühren.

Bisher müsse sie immer auf die Entscheidungen warten, die andere durch ihre Wahl treffen. "Also, das ist der Unterschied, ob ich mitbestimmt habe, mitbeteiligt war. Oder ob ich nur als Zaungast ein politisches, gesellschaftliches Geschehen betrachten kann und hinterher betrifft mich doch die Entscheidung. Damit ist die Teilhabe der einzelnen Person natürlich gestört."

Für ein Wahlrecht für alle

Für Daria Ankundinova steht fest: Das Wahlrecht für alle Bürgerinnen und Bürger muss her. Dabei gehe es ihr nicht nur um das kommunale Wahlrecht, sondern auch um das Wahlrecht auf Länder- und Bundesebene. "Ich glaube schon, dass die Gesellschaft so vielfältig und so fortgeschritten ist, dass die Zeit reif ist, um das endlich umzusetzen." Ihr Wunsch wäre, dass die Menschen nicht mehr in "Menschen erster, zweiter und dritter Klasse aufteile. Sie wünscht sich: "Dass diese Diversität, die schon da ist, auch tatsächlich gelebt wird. Dass nicht nur gesagt wird: 'Wir sind divers, wir sind weltoffen', sondern dass es tatsächlich auch in Bezug auf das Wahlrecht dann so ist."

Diese Partizipationsmöglichkeit bleibt vielen Menschen ohne deutschen Pass verwehrt. In Sachsen-Anhalt macht die Gruppe 86.008 Personen aus.

Frau Kaiyama und Frau Ankundinova von den Vereinen LAMSA/DaMigra zum Interview in Dessau 2 min
In den Räumen des LAMSA in Dessau-Roßlau treffen sich die beiden Frauen wieder. Bildrechte: MDR/Ann-Kathrin Canjé
2 min

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Es geht um die eigene Identität

Im Fall von Mika Kaiyama und Daria Ankudinova wäre ein Wahlrecht über eine Einbürgerung in Deutschland möglich. Aber auch das kommt für die beiden Frauen nicht mal eben so in Frage. Mehr als nur um einen Pass ginge es bei dieser Entscheidung vor allem um die eigene Identität.

Ankudinova erzählt, dass sie sich in Halle zu Hause fühle, ihre Familie gleichzeitig aber in Russland lebe. Sie besuche sie regelmäßig. "Ich identifiziere mich sowohl mit Russland als auch mit Deutschland. Das heißt, ich kann mich jetzt nicht entscheiden, dass ich nur die russische Staatsangehörigkeit haben möchte oder nur deutsche Staatsangehörigkeit." Über eine doppelte Staatsangehörigkeit würde sie sich freuen, aber für die deutsche auf die russische verzichten, das wolle sie nicht.

"Es geht nicht nur um materielle Sachen, dass meine Eltern da Eigentum haben. Es geht mir tatsächlich um meine persönliche Geschichte. Da wurde ich geboren, da lebte ich sehr lange Zeit, habe immer noch viele Freundinnen, die ich besuche. Ich schätze diese doppelten Kulturen sehr und möchte das natürlich auch nicht aufgeben."

Kinder würden japanischen Pass bei Einbürgerung verlieren

Auch für Kaiyama hat es persönliche Gründe auf eine Einbürgerung und somit auf ihr Wahlrecht zu verzichten: ihre zwei Kinder. Aus einer binationalen Ehe stammend, besitzen sie sogar drei Pässe. Das sogenannte "Optionsmodell" in Deutschland wurde erst 1999 – pünktlich zur Geburt von Kaiyamas erstem Kind – eingeführt. In Dessau-Roßlau ist ihr Sohn sogar die erste Person, die für diesen Prozess angemeldet wurde.

Ihre Kinder würden den japanischen Pass verlieren, wenn sich ihre Mutter einbürgern ließe. "Die Entscheidung kann ich nicht abnehmen, das müssen die Kinder selbst entscheiden. Solange muss und möchte ich warten." Momentan muss sich ihr Sohn entscheiden, ob er seinen japanischen Pass behält oder nicht. Ein langer, schmerzhafter Entscheidungsprozess für die gesamte Familie.

Einbürgerungsprozess schwierig und lang

Der Einbürgerungsprozess, der aktuell immer noch Voraussetzung ist, mitwählen zu können, ist außerdem nicht für alle Ausländerinnen und Ausländer, die in Deutschland leben, eine Option.

Das können Kaiyama und Ankudinova aus ihrer Arbeit in den migrantischen Organisationen bestätigen. "Der Verlust von Dokumenten ist häufig der Grund, dass man diese Einbürgerungsprozesse überhaupt nicht ansteuern kann. Selbst wenn man Papiere hat und mehrere Jahre hier in Deutschland lebt, sind die Voraussetzungen für die Einbürgerung schon sehr hoch", sagt Kaiyama. Arbeitsnachweise, Spracherwerbsnachweise und vor allem die Kosten des Verfahrens würden es vielen Migrantinnen und Migranten unmöglich machen. Auch hier sieht sie Verbesserungspotential.

Hoffnung auf Wahlrecht

Die beiden Frauen haben aber auch Hoffnung. Kaiyama erinnert daran, dass man von den historischen, politischen Entwicklungen, etwa wie der des Frauenwahlrechts, sehr viel lernen könne. "So ist zum Beispiel in diesem Jahr erstmalig das Wahlrecht für Menschen mit geistiger Behinderung realisiert worden. Warum nicht auch für die dauerhaft hier lebenden, zugewanderten Menschen?"

Für deren Teilhabe lohne es sich, gemeinsam zu kämpfen. "Ich habe schon eine gefühlte und spürbare Hoffnung, dass dies bald realisiert werden kann." Daria Akundinovas Augen strahlen auch ganz optimistisch, als sie den Worten ihrer Mistreiterin lauscht: "Ich denke, es braucht tatsächlich Dialog und Austausch. Ich hoffe und ich bin sehr optimistisch, dass es noch zu meiner Lebenszeit passiert."

Bei der Landtagswahl am Sonntag dürfen die beiden Frauen erneut nicht mitwählen. Kaiyama wird dann wie gewohnt zu Hause bleiben und auf die Rückkehr ihrer Familie warten. Aber irgendwann kann sie sich vielleicht doch gemeinsam mit ihnen ins Wahllokal aufmachen.

Hintergründe und Aktuelles zur Landtagswahl – unser multimediales Update

In unserem Update zur Landtagswahl in Sachsen-Anhalt geben unsere Redakteure einen Überblick über die wichtigsten politischen Entwicklungen – und ordnen sie ein.

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Ann-Kathrin Canjé
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Über die Autorin Ann-Kathrin Canjé arbeitet seit Mai 2021 für MDR SACHSEN-ANHALT und MDR KULTUR, bis März 2021 volontierte sie beim MITTELDEUTSCHEN RUNDFUNK. Vor dem Volontariat hat sie in der Onlineredaktion des Berliner Radiosenders FluxFM gearbeitet.

In ihrer Arbeit liegen ihr besonders Themen wie Gleichberechtigung und Anti-Diskriminierung am Herzen, weil es für sie wichtig ist, Stimmen sichtbar zu machen, die im alltäglichen Geschehen oft unter gehen. Wenn Ann-Kathrin gerade nicht journalistisch unterwegs ist versucht sie ihre Zeit zum Reisen, Lesen und Schreiben zu nutzen.

MDR/Ann-Kathrin Canjé

8 Kommentare

Matthi am 04.06.2021

Wenn man in Deutschland wählen möchte, sollte man zu Deutschland und deren Werte stehen und sich einbürgern lassen. Ich kann ja auch nicht in vielen Staaten wählen wenn ich kein Staatsbürger bin. Es gibt einen alten Spruch, man kann nicht zwei Herrn Dienen. Deshalb sehe ich die Doppelte Staatsbürgerschaft als Politischen Fehler an.

Bernd_wb am 04.06.2021

Ja so ist das mit Gesetzen es gibt Menschen wo eine Regelung nicht passt. Wenn jemand aber so lange hier lebt wie die beiden Frauen warum nicht doppelte Staatsbuergerschaft?

Hans-Peter am 03.06.2021

Ehrlich gesagt ein überflüssiger Beitrag. Wer unbedingt das Wahlrecht will, kann sich einbürgern lassen. Wer das nicht macht, dem ist es eben nicht so wichtig. Zudem: ein Ausländerwahlrecht bei Landtags- und Bundestagswahlen ist verfassungswidrig, wie das Bundesverfassungsgericht und auch Landesverfassungsgerichte (u. a. 2014 Bremen) festgestellt haben. Das Thema ist erledigt, so lange man das Grundgesetz nicht abschaffen will. Das ist eine Tatsache, die in einen halbwegs seriösen Beitrag reingehört hätte. Einzig kommunales Wahlrecht für EU-Bürger wurde möglich als Sonderfall möglich, weil das Grundgesetz extra dafür geändert wurde, Deutschland Teil der EU ist und kommunale Vertretungen keine Parlamente, sondern (Selbst-) Verwaltungsgremien sind.

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