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Fast jeder zehnte Lehrer in Sachsen-Anhalt hat nicht auf Lehramt studiert. (Symbolbild) Bildrechte: picture alliance / Julian Stratenschulte/dpa | Julian Stratenschulte

Gegen den LehrermangelRettungsanker Seiteneinsteiger – gebraucht, umgarnt, überfordert?

13. Oktober 2022, 18:20 Uhr

Aus Sicht der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft werden Seiteneinsteiger zu wenig auf die pädagogischen Anforderungen des Schuldienstes vorbereitet. Die so dringend benötigten Lehrkräfte würden oft überfordert. Das könnte einer von mehreren Gründen dafür sein, dass sich Berufsfremde momentan eher schwer für den Schuldienst gewinnen lassen.

Angesichts des akuten Lehrermangels ist Sachsen-Anhalts Schulsystem dringend auf zusätzliche Seiteneinsteiger angewiesen. Gemeint sind Menschen, die zwar keine ausgebildeten Lehrer sind, aber Wissensgebiete studiert haben, die in der Schule vermittelt werden. Von den 16.100 Lehrerinnen und Lehrern an den öffentlichen Schulen sind laut Landesschulamt schon jetzt ungefähr 1.350 über den Seiteneinstieg in den Schuldienst gekommen.

Bald jede zehnte Lehrkraft im Land verfügt also nicht über die reguläre pädagogische, methodische und didaktische Ausbildung eines studierten Lehrers.

Wer für als Lehrer-Seiteneinsteiger geeignet ist

Voraussetzung ist ein Hochschulabschluss, teilweise genügt sogar ein Bachelor. Mit einem ausländischen Hochschulabschluss, der die Kriterien des Landes Sachsen-Anhalt erfüllt, ist ein Seiteneinstieg ebenfalls möglich.

Im Idealfall lassen sich aus dem Studium von Interessenten schon konkrete Unterrichtsfächer ableiten. Eine studierte Physikerin kommt für das Fach Physik oder auch Mathematik in Betracht. Ein Anglist könnte Englisch unterrichten.

Seit April 2021 besteht zudem die Möglichkeit, auch ohne Ableitung eines Fachs aus dem Studienabschluss im Schuldienst des Landes Sachsen-Anhalt zu arbeiten, allerdings nur an entsprechend ausgewiesenen Stellen an Sekundar- und Gemeinschaftsschulen.

GEW: "Seiteneinsteiger absolut notwendig"

Lehrer-Verbände und Elternvertreter betrachten das mit gemischten Gefühlen. Die Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Eva Gerth, spricht von einer Zwickmühle. Auf der einen Seite stünde der Anspruch an eine gewisse Qualität des Unterrichts. "Da sind Seiteneinsteigende anfangs kaum vorbereitet auf die pädagogischen Anforderungen, die auf sie zukommen", sagte Gerth MDR SACHSEN-ANHALT. Andererseits seien diese Lehrkräfte absolut notwendig und willkommen. Denn: "Ohne Seiteneinsteigende würden die Schulen nicht funktionieren."

So ähnlich sieht das auch der Vorsitzende des Landeselternrats Sachsen-Anhalt, Matthias Rose. Natürlich wünschten sich Eltern bevorzugt vollausgebildete Lehrer für ihre Kinder. "Noch wichtiger ist ihnen allerdings, dass überhaupt Unterricht stattfindet – solange jemand vor der Klasse steht, der das Fach verstanden hat." Er persönlich sehe das Potenzial von Seiteneinsteigern eher optimistisch. Schließlich sei auch an Freien Schulen der Anteil von Quereinsteigern hoch. Dennoch würden Privatschulen gemeinhin mit guten Bildungschancen assoziiert.

Unterrichtsversorgung nur bei 92 Prozent

Die Unterrichtsversorgung in Sachsen-Anhalt liegt derzeit nur bei rund 92 Prozent. Fast jede zehnte Unterrichtsstunde fällt also aus. Bildungsministerin Eva Feußner (CDU) hat am Donnerstag vor dem Landtag erhebliche Probleme diesbezüglich eingeräumt. Und das Angebot an ausgebildeten Lehrkräften und Seiteneinsteigern werde insbesondere in Mangelfächern geringer, so Feußner weiter. Dass sich daran bald etwas ändert, glaubt sie nicht. "Wir werden bis Mitte, vermutlich sogar bis Ende des Jahrzehnts erhebliche Versorgungsprobleme haben", erklärte sie bereits am Montag beim Besuch einer Stendaler Schule.

Wir werden vermutlich bis Ende des Jahrzehnts erhebliche Versorgungsprobleme haben.

Eva Feußner | Bildungsministerin Sachsen-Anhalt

Dazu passt, dass nach der jüngsten Ausschreibung von 944 Lehrerstellen nach Angaben des Bildungsministeriums in Magdeburg gerade einmal 220 Bewerbungen eingingen. Unter den Bewerbern seien dabei lediglich 101 ausgebildete Lehrkräfte gewesen.

Durchwachsener Andrang bei Speed-Datings für Seiteneinsteiger

Der Lehrermangel lässt sich demnach nicht ohne einen weiteren Zustrom Berufsfremder bewerkstelligen. Doch auch die lassen sich nicht unbedingt leicht für den Schuldienst gewinnen – insbesondere außerhalb der größeren Städte ist das oft schwierig.

Das veranschaulicht auch die Bilanz von Speed-Datings für Quereinsteiger, die das Landesschulamt seit geraumer Zeit im ländlichen Raum veranstaltet. Seit dem Schuljahr 2020/21 wurden in fast allen Landkreisen außerhalb von Magdeburg, Halle und Dessau-Roßlau solche Speed-Datings durchgeführt – bislang waren es nach Angaben der Schulbehörde insgesamt 30. Die Resonanz war laut Sprecher Tobias Kühne unterschiedlich. "Es gab Veranstaltungen mit mehreren Dutzend Interessierten, leider aber auch Veranstaltungen, zu denen nur eine Handvoll kam", sagte er MDR SACHSEN-ANHALT.

Gesichert weiß das Landesschulamt nur von zwölf Seiteneinsteigern, die mittels Speed-Dating erfolgreich für den Lehrer-Beruf angeworben werden konnten. In Wahrheit seien es eventuell mehr, so Kühne. Nur würden von den Teilnehmern keine Daten erhoben, so dass das Landesschulamt nicht immer nachvollziehen könne, ob ein Speed-Dating in eine Anstellung gemündet habe.

Anforderungen an Seiteneinsteiger weiter abgesenkt

Um das Bewerberfeld zu vergrößern, können sich in Sachsen-Anhalt seit gut einem Monat auch Bachelor-Absolventen bewerben, aus deren Studienrichtung sich kein bestimmtes Unterrichtsfach ableiten lässt. Wer einen Bachelor in Soziologie vorweisen kann, könnte laut Schulamtssprecher Kühne aber beispielsweise Ethik unterrichten. "Oder Englisch in einer Grundschulklasse, wenn sich der Bewerber länger im englischsprachigen Ausland aufgehalten hat." Welche Fächer in Betracht kommen, werde in Gesprächen geklärt. Auf diesem Niveau werden Seiteneinsteiger jedoch nur befristet eingestellt, es sei denn, sie absolvieren eine berufsbegleitende Qualifizierung.

Wir ringen da um Personal, das zugleich von der Wirtschaft umworben wird.

Tobias Kühne | Sprecher Landesschulamt

Dass das Interesse von Seiteneinsteigern am Schuldienst zuletzt gesunken ist, verhehlt das Landesschulamt nicht. Noch während der Hochphase der Corona-Pandemie hätten sich deutlich mehr potenzielle Kandidaten gemeldet. Ein Grund für das Abflauen des Interesses könne die allgemeine Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt sein. "Wir ringen da um Personal, das zugleich von der Wirtschaft umworben wird", unterstrich Kühne. Noch dazu machen sich die Bundesländer untereinander gegenseitig Bewerber streitig. Einige wollen etwa mit Verbeamtung locken.

Lehrer-Verbände: Seiteneinsteiger werden ins kalte Wasser geworfen

Lehrer-Verbände und Elternvertreter sehen derweil auch systembedingte Gründe für die schwache Nachfrage. Der größte Kritikpunkt ist die aus ihrer Sicht ungenügende Vorbereitung und Betreuung. Seiteneinsteiger erhalten in Sachsen-Anhalt vor dem Dienstantritt einen vierwöchigen Einführungskurs, in dem sie eine pädagogische Grundausstattung erhalten sollen. Danach werden im Prinzip an sie sofort dieselben Unterrichtsverpflichtungen – 25 Unterrichtsstunden pro Woche – gestellt, wie an voll ausgebildete Lehrer.

Der Vorsitzende des Verbands Bildung und Erziehung (VBE), Torsten Wahl, kritisiert das scharf und unterstreicht in dem Zusammenhang die Diskrepanz zu studierten Lehrern: "Lehramtsstudenten durchlaufen erst einen 16-monatigen Vorbereitungsdienst, in dem sie sich vor der Klasse ausprobieren können." Zuvor hätten sie bereits Pädagogik, Fachdidaktik und psychologische Grundlagen vermittelt bekommen. Seiteneinsteiger würden dagegen einfach ins kalte Wasser geworfen, bekämen mitunter sogar besonders schwere Klassen zugeteilt. Viele seien dem nicht gewachsen und würden schnell wieder hinschmeißen.

Eigentlich ist vorgesehen, dass die erfahrenen Lehrkräfte vor Ort anfangs noch als Mentoren bei der Einarbeitung helfen sollen. Doch dafür hätten diese meist gar keine Zeit, gibt GEW-Chefin Eva Gerth zu bedenken. Mancherorts scheint nicht einmal eine gewisse Rücksicht genommen zu werden: "Es gibt Schulen, die verheizen ihre Seiteneinsteiger in bis zu fünf Fächern – aus purer Not", berichtet Gerth.

Es gibt Schulen, die verheizen ihre Seiteneinsteiger in bis zu fünf Fächern.

Eva Gerth | GEW Sachsen-Anhalt

Weg zur vollwertigen Lehrkraft für Seiteneinsteiger zu schwer?

Noch dazu krankt das System sowohl aus Sicht der GEW als auch aus der der VBE an fehlenden beruflichen Perspektiven für die Seiteneinsteiger. Zwar können laut Landesschulamt einige von ihnen unter gewissen Bedingungen berufsbegleitend das zweite Staatsexamen machen, um sich schließlich als vollausgebildete Lehrer zu qualifizieren. Nur wer das schafft, hat dann eine Aussicht auf Verbeamtung.

Dafür müssen sich aus dem Studium der Kandidaten aber zwei ableitbare Unterrichtsfächer auf Masterniveau nachweisen. Allerdings sei diese berufsbegleitende Qualifizierung neben der eigentlichen Lehrtätigkeit zeitlich meist kaum zu stemmen, weil die Unterrichtsverpflichtung der Seiteneinsteiger dafür nicht ausreichend reduziert werde, kritisieren GEW und VBE.

Um die Lage zu verbessern und den Seiteneinstieg attraktiver zu machen, fordern beide Verbände, eine bessere Begleitung von Seiteneinsteigern und weniger Unterrichtsstunden zu Beginn ihres Einstiegs in den Schulbetrieb sowie bessere berufliche Perspektiven und einfachere Qualifizierungsmöglichkeiten. Vom Landeselternrat kommt außerdem die Forderung nach gleicher Bezahlung von Seiteneinsteigern nach einer gewissen Zeit im Beruf.

Wie viel Geld Lehrer-Seiteneinsteiger bekommen

Wie viel Seiteneinsteiger im Lehrer-Beruf verdienen, kann sehr unterschiedlich ausfallen und richtet sich nach dem Tarifvertrag der Länder (TV-L). Ausschlaggebend für die Höhe sind Schulform und Qualifikation. Mit einem Master- oder Diplom-Abschluss, aus dem sich ein konkretes Schulfach ableiten lässt, können Kandidaten in die Entgeltgruppe E 12 eingruppiert werden. Am wenigsten verdienen Bachelor-Absolventen ohne Fachableitung an Grundschulen (E 9). Quelle: Landesschulamt

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MDR (Daniel Salpius)/dpa/epd

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT – Heute | 13. Oktober 2022 | 19:00 Uhr

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