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Mutige Frauen, mutige WendegeschichtenBogumila Jacksch: Wie eine Polin in den Westen wollte und im Osten Bürgermeisterin wurde

28. September 2021, 18:40 Uhr

Sie haben dem System getrotzt, haben sich aufgelehnt und für ihre Sache gekämpft. MDR SACHSEN-ANHALT erzählt zum Tag der Deutschen Einheit die Geschichten von vier mutigen Frauen. Bogumila Jacksch ist eine von ihnen. Sie beginnt ein neues Leben in Westdeutschland und schaut mit Schrecken in die DDR. Über Umwege wird sie nach der Wende Bürgermeisterin in der Börde.

Als Bogumila Jacksch 1986 mit dem Zug durch Oebisfelde fährt, will sie vor allem eines: schnell weiter. "Es sah aus wie im Krieg. Überall Stacheldraht, Soldaten mit Gewehren und Hunden. Das kannte ich bis dahin nur aus Filmen", so Jacksch. Die Polin ist auf dem Weg zu ihrem Patenonkel in Hamm in Nordrhein-Westfalen – und nur auf Durchreise in der DDR. Sie ahnt noch nicht, dass dieser unwirkliche Ort einmal ihre Heimat werden wird.

Oebisfelde liegt damals direkt an der Grenze zur BRD. Hier werden im Bahnhof Grenzkontrollen durchgeführt. Das alles erlebt Jacksch hautnah: "Die Atmosphäre dort war ganz schlimm. Es war für mich unbegreiflich, sich vorzustellen, dass man Menschen in ihrem Land einsperrt." Doch so schlimm das alles für sie ist, so schnell liegt es dann auch wieder hinter ihr.

Luftlinie nur wenige Kilometer – und doch weit weg

Nach dem Besuch beim Patenonkel entscheidet die damals 18-jährige Jacksch, nach Westdeutschland zu gehen. Sie beantragt die deutsche Staatsbürgerschaft. Die bekommt sie ohne Probleme, da ihre Großeltern aus Gelsenkirchen stammen. "Dann musste ich die Sprache lernen, eigentlich in einem sechsmonatigen Sprachkurs. Aber zusammen mit dem Jugendamt entschied ich mich, nochmal zwei Jahre die Schule zu besuchen und meinen erweiterten Realschulabschluss zu machen." In Polen hatte sie bereits eine Ausbildung als Schneiderin abgeschlossen.

Jacksch lernt ihren Mann kennen, wird schwanger und zieht nach Wolfsburg. Oebisfelde ist nur wenige Kilometer Luftlinie entfernt. Im Kopf ist der unwirkliche Ort aus ihrer Erinnerung aber in einer anderen Welt. Weit weg. Hinter der Mauer.

Einmal fährt Bogumila Jacksch zur Westseite der Mauer in Büstedt. Auf der anderen Seite liegt Oebisfelde. "Ich wollte sehen, wie das von unserer Seite aussieht." Dort wird ihr erst so richtig bewusst, dass hier ein Volk geteilt wurde. Sie fühlt sich an ihre eigene Vergangenheit erinnert. Unruhen in einer unzufriedenen Bevölkerung hatte sie in Polen rund um die Solidarność-Bewegung selbst mitbekommen: "Dort sah ich, wie mit Steinen, Wasserwerfern und Tränengas gegeneinander gekämpft wurde. In Polen haben sich die Leute das nicht gefallen lassen." Ihr sei damals klargeworden, dass das auch in der DDR nicht lange so weitergehen würde.

Das "Kriegsgebiet" wird neue Heimat

Und sie sollte Recht behalten. Die Mauer fällt. Kurze Zeit später zieht Bogumila Jacksch mit ihrem Mann und der Tochter nach Oebisfelde: "Wir wollten uns im Umkreis von Wolfsburg ein Grundstück kaufen, haben aber zunächst nichts Passendes gefunden." Durch den Mauerfall kommen für Familie Jacksch plötzlich auch Grundstücke in Sachsen-Anhalt infrage. Über ein Inserat in der Zeitung meldet sich schließlich ein Makler mit einem Grundstück in Lockstedt, einem Ortsteil von Oebisfelde. "Das war eigentlich eine Ruine, und mein Mann wollte dort nicht hin. Ich wollte aber unbedingt, weil das Grundstück traumhaft lag, direkt am Fluss Aller. Und dann haben wir es gekauft." Aus dem "Kriegsgebiet" Oebisfelde war plötzlich die neue Heimat geworden.

Eine Heimat, in der sich Bogumila Jacksch einbringen will. "Die Menschen waren so hilfsbereit. Das kannte ich aus Polen und hatte mir in Wolfsburg gefehlt. Mir war klar: Wir müssen hier auch selbst aktiv sein und in einen Verein eintreten." Jacksch wählt die Freiwillige Feuerwehr, wo sie bis heute Mitglied ist.

"Ich habe schon immer meine Meinung geäußert, und die entsprach auch öfter nicht dem Durchschnitt." Das fällt dem Chef der Feuerwehr auf, als der sich aus der Lokalpolitik zurückziehen will. "Er hat mich gefragt, ob ich an seiner Stelle für den Stadtrat kandidieren möchte." Bogumila Jacksch nimmt die Herausforderung an, wird gewählt und äußert ihre Meinung ab diesem Moment im Stadtrat. "Mir hat dort nicht alles gefallen. Da dachte ich: Wenn ich Ortsbürgermeisterin wäre, würden mir mehr Menschen zuhören."

Vergangenheit spielt keine Rolle, alle Menschen sind gleich

Bogumila Jacksch wird daraufhin zunächst stellvertretende Bürgermeisterin von Oebisfelde, eine Wahlperiode später, im Jahr 2014, sogar ehrenamtliche Bürgermeisterin – neben ihrem Job als Schneiderin, den sie weiterhin ausübt.

Warum ausgerechnet sie als "Fremde" Bürgermeisterin werden konnte? "Die Menschen haben vertrauen zu mir, gerade weil ich nicht aus dem Ort komme. Ich habe keine Befindlichkeiten gegenüber jemandem." Die Vergangenheit spiele für sie keine Rolle. "Man darf die Menschen nicht abstempeln. Mir ist egal, was die Leute in der Vergangenheit gemacht haben, ob sie zum Beispiel bei der Stasi waren. Mir ist wichtig, wie der Mensch jetzt und heute ist. Jeder Mensch hat eine zweite oder dritte Chance verdient."

Bogumila Jacksch will sich vor allem für die Menschen im Ort einsetzen, die sich nicht trauen, selbst etwas zu bewegen, wie sie selbst sagt. Ihre Schneiderei ist deshalb für jeden offen – egal ob als Kunde, Kundin oder als Bürger oder Bürgerin. "Das ist anonymer. Von außen weiß man nicht, als was jemand meinen Laden betritt. Die Menschen sind dann offener, als wenn ich eine Sprechstunde im Rathaus anbiete. Ich spüre einfach das Vertrauen der Menschen." Ein Vertrauen, das Bogumila Jacksch sicherlich nicht mit dem Ort Oebisfelde verband, als sie 1986 mit dem Zug an den Grenzanlagen vorbeigefahren ist.

Ist die Grenze noch in den Köpfen?

Bogumila Jacksch hat in verschiedenen politischen Systemen gelebt und die Wende hautnah mitangesehen. Das sind ihre Gedanken zur Wiedervereinigung.

Jacksch:
"Das deutsche Volk sollte eins werden, aber das ist noch nicht geschehen. Es gibt nach wie vor Vorurteile von der einen und der anderen Seite. Aber bei der jungen Generation gibt es die Grenze in den Köpfen nicht mehr. Und das ist gut so. Von der Politik würde ich mir wünschen, dass wir bei Rente und Lohn endlich Westen und Osten angleichen."

Bildrechte: MDR/Luca Deutschländer

Über den AutorFabian Frenzel arbeitet seit November 2014 bei MDR SACHSEN-ANHALT für die Online-Redaktion. Dabei liegt sein Schwerpunkt vor allem im Bereich Social-Media. Er würde gerne mehr Texte über sein Hobby "Männerballett" schreiben, hat aber noch nicht die richtige Rubrik dafür gefunden. Sein Journalismus-Studium hat der gebürtige Brandenburger in Berlin und Eichstätt/Ingolstadt absolviert. Die ersten journalistischen Schritte machte er bei der Märkischen Allgemeinen Zeitung und RADIO ENERGY Berlin.

Sein Lieblingsort in Sachsen-Anhalt ist Calbe (Saale), wo ein Teil seiner Verwandtschaft lebt. Hätte er dort nicht für ein paar Monate Unterschlupf gefunden, wäre er heute vermutlich nicht beim MDR. Und: Er ist gern da, wo man geocachen kann. Also im Prinzip überall draußen.

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MDR/Fabian Frenzel

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT | 16. September 2021 | 16:40 Uhr

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